Anna Bloom

Sophies Erwachen


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das vorher nicht gemacht. Wir fuhren an einigen Kasernen vorbei. Blenheims Flughafen war mal ein Militärflughafen gewesen und lag etwas außerhalb der Stadt. Rechts und links von der Straße standen Obstplantagen und Weinstöcke. Nach zehn Minuten Fahrt erreichten wir die Stadt. Die Straßen waren breiter als bei uns. Ein Grünstreifen trennte sie auf beiden Seiten von den dahinterliegenden Gehwegen. Auf einer Straßenseite standen Strommasten in Reih und Glied. Die Häuser waren hinter Bäumen und blühenden, wild wuchernden Hecken versteckt, die nicht wie bei uns in Deutschland mit Hilfe einer Wasserwaage beschnitten waren. Wenn man überhaupt ein Haus hinter den Heckenmauern vermuten konnte, dann waren es einstöckige Einfamilienhäuser. Nur ihre Dächer lugten hervor. Den Menschen hier lag wohl viel an ihrer Privatsphäre. In Frankfurt wohnten wir in einer Wohnung im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses. Die Wände waren recht dünn und man konnte so sehr leicht am Leben der Anderen teilnehmen. Mein Viertel bestand nur aus solchen Häusern. Strommasten gab es bei uns fast nicht, da die Stromkabel unterirdisch verbaut wurden. Hecken gab es nur in den Vororten oder im Park. Das hier war eine andere Welt. Hinter den Bergen begann bereits die Wildnis. Alles, was die Menschen hier an Zivilisation hatten, rangen sie der Natur in einem langen und anstrengenden Prozess ab.

      „Hier gibt es Palmen?“, stellte ich erstaunt fest, als wir an zwei ausgewachsenen Exemplaren vorbeifuhren.

      „Ja klar. Blenheim ist die Stadt mit den meisten Sonnenstunden in Neuseeland“, sagte Stephanie in ihrem schnellen Redetempo, das sie mit wilden Gesten unterstützte.

      „Das ist die Nikau-Palme. Sie ist die südlichste Palmenart der Welt“, klärte mich Barbara auf.

      „Es wird hier nicht so kalt im Winter wie in Deutschland“, fügte Volker hinzu. „Deswegen sind wir hergekommen. Der Riesling hat hier beste Bedingungen zum Reifen“, fuhr er fort.

      „Und die Leute sind fröhlicher und entspannter“, sagte Barbara lächelnd.

      „Das Meer und die Berge sind das Beste an Blenheim. Ich gehe oft Wandern, Schwimmen oder Kajakfahren. Manche Schüler kommen morgens mit dem Kajak zur Schule“, schwärmte Stephanie von ihrer Heimat.

      „Das klingt verrückt für meine Frankfurter Ohren“, sagte ich verdutzt. „Aber auf jeden Fall cool.“

      Dann fuhren wir schon in eine Einfahrt. Ein riesiger grüner Garten war auf der rechten Seite angelegt, mit der obligatorischen wilden Heckenmauer davor, um die Bewohner vor neugierigen Blicken zu schützen. Dahinter stand ein zartrosa gestrichenes eingeschossiges Einfamilienhaus. Mein neues Zuhause sah zwar kitschig aus, aber auch irgendwie süß. Mein erster Eindruck war, dass die Leute hier alles taten, um fröhlich und beschwingt leben zu können. Ob ich mich mit meiner melancholischen Stimmung hier wohl fühlen würde fing ich an zu bezweifeln. Die Vorstellung, im rosaroten Schweinchenhaus düstere Musik von Björk zu hören und mich vor Heimweh heulend unter meiner Bettdecke zu verstecken, war doch zu abstrus.

      „Hier wohnen wir, Sophie.“ Barbara holte mich aus meinen Gedanken.

      „Komm, ich zeige Dir das Haus und Dein Zimmer.“ Stephanie streckte mir ihre Hand entgegen und kaum hatte ich ihr meine Hand gereicht, zog sie mich schon ins Haus. Es war nicht abgeschlossen. Das wäre in Frankfurt undenkbar gewesen. Hier am anderen Ende der Welt waren Einbrüche wohl kein großes Thema. Wohin sollte man auch flüchten, wenn man auf einer Insel mit lediglich vier Millionen Einwohnern mitten im Pazifik eine Straftat beging? Ein großer Flur lag hinter der Eingangstür. Auf der rechten Seite ging es in die Küche. Sie war recht modern eingerichtet, mit einem großen Tisch und vier Clubsesseln in der Mitte des Raumes.

      „Komm, ich zeige Dir unser Wohnzimmer“, drängelte Stephanie und zog mich durch eine weitere Tür, die aus der Küche führte. Das überdimensionierte Wohnzimmer nahm die Breite des ganzen Hauses in Anspruch. Eine große Fensterfront und eine Tür, durch die man auf die Terrasse und den davor liegenden Garten gelangen konnte, ließen das Zimmer noch größer wirken, da man den Blick bis zur Hecke am Straßenrand schweifen lassen konnte. Auf der Terrasse standen Gartenmöbel samt Liegen. Der Raum selbst war lichtdurchflutet und die hellen Möbel reflektierten das Licht zusätzlich. Ein großer Fernseher stand an der linken Wand, den Stephanie gleich anmachte und ihn mir stolz präsentierte. „Dank Satellitschüssel haben wir auch deutsche Sender. So bleiben wir immer up-to-date.“ Ich schaute sie merklich etwas gelangweilt an. „Die Zeitungen bringen hier nur neuseeländische Nachrichten und seitenweise Rugby-Ergebnisse. Ohne den Fernseher hat man keine Ahnung, was auf der Welt passiert“, sagte sie entschuldigend.

      „Habt ihr einen Internetanschluss?“, packte ich die Gelegenheit am Schopf.

      „Ja klar. Da musste ich nicht lange argumentieren. Papa braucht das Netz wegen dem Wein. Ich habe einen Laptop, wenn Du ihn benutzen willst, ist das kein Problem.“

      „Ich habe meinen mitgenommen“, freute ich mich über die Aussicht, ins Internet gehen zu können.

      „Na, dann können wir gleich versuchen, bei Dir das WLAN-Netz einzurichten“, lachte sie und machte sich sofort auf den Weg zum Flur. Auf der rechten Seite gingen zwei Türen ab.

      „Das ist das Schlafzimmer meiner Eltern und das hier ist das Bad“, kommentierte Stephanie beim Vorbeigehen. Geradeaus sah ich zwei weitere Türen, die unsere Zimmer sein mussten.

      „Das Zimmer links ist Deines“. Sie riss die Tür auf. „Deine Sachen sind auch schon hier. Es war unser Gästezimmer. Du kannst es ein wenig wohnlicher dekorieren, wenn Du möchtest. Ist noch ein bisschen anonym.“

      „Es sieht sehr hübsch aus“, sagte ich, ohne zu flunkern. Die Möbel waren auch hier aus weiß gestrichenem Holz, wie auch der Holzboden. Ein dunkellila Teppich gab dem Zimmer den nötigen Farbkontrast. Die Wände waren beige gestrichen, das erinnerte mich an mein Frankfurter Zimmer. „Mit ein, zwei Bildern an der Wand und meinen Sachen im Regal wird das Zimmer schon wohnlich aussehen“.

      „Lass uns mal schauen, ob dein Laptop läuft. Ich hole den Zugangscode zum WLAN.“ Stephanie stürzte aus dem Zimmer, bevor ich etwas sagen konnte. Mit ihrem schnellen Tempo, ihren rotblonden langen Haaren und ihrer schlanken Figur war sie wie ein roter Blitz in Sekundenschnelle aus meinem Zimmer fort. Sie schien alles schneller zu machen als normale Menschen. Das Sprechen, das Gehen, das Denken. Ich kam mir wie eine Schnecke neben ihr vor. Sie hatte viel überschüssige Energie. Oder war sie nur aufgedreht, weil ich da war? Eine Schwester, die sie nie hatte. Ich schaltete meinen Laptop ein und blickte in das verlassene fremde Zimmer. Aus meinem Gepäck wühlte ich meinen Kulturbeutel heraus. Ich kramte nach dem Parfümflakon und als ich ihn endlich hatte, sprühte ich in jeder Ecke des Zimmers einmal kurz in die Luft. Ich wollte, dass mein Zimmer nach mir roch. Nachdem ich mit den Armen durch die Luft gewedelt hatte, durchströmte mich endlich ein wohliges Gefühl des Angekommenseins. Da Stephanie noch nicht zurück war, ging ich auf die Toilette. Ihre Eltern räumten in der Küche auf und redeten miteinander, doch ich verstand nichts. Als ich zurück in meinem Zimmer war, saß Stephanie schon an meinem Laptop und versuchte die Verbindung zum Netz herzustellen.

      „Sorry, ich hab schon ohne Dich losgelegt. Hoffe, Du bist mir nicht böse“, entschuldigte sie sich.

      „Ja, kein Thema“, winkte ich ab und setzte mich neben sie aufs Bett.

      „Das scheint zu funktionieren. Ich starte den Browser.“ Drei Sekunden später fügte sie triumphierend hinzu: „Du bist online, Sophie.“

      „Danke, Du hast mein Leben gerettet. Ich bin absolut internetsüchtig. Ich wollte mit meinen Freunden zu Hause in Kontakt bleiben.“

      „Ich bin auch viel im Netz. Aber auch viel draußen in der Natur mit meinen Freunden. Willst Du jetzt schon ins Netz oder vorher etwas essen? Meine Eltern haben Frühstück gemacht.“

      „Ich könnte einen Happen vertragen. Aber wieso Frühstück? Wie spät ist es denn?“

      „Es ist acht Uhr.“

      „Da seid ihr aber früh aufgestanden wegen mir. Sorry.“

      „Macht nichts. Ich stehe immer so früh auf. Auch wenn ich Ferien habe.“

      „Ich beneide dich. Ich bin ein absoluter