Anna Bloom

Sophies Erwachen


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gingen, sah, verstand ich, warum sie meinte, ich würde morgens schon früh aufstehen können, sobald sie ihre Musik anmachte. In Neuseeland würde ich eindeutig zur Frühaufsteherin umerzogen werden. Ihre CD-Sammlung war beeindruckend groß. Sie hatte auf den ersten Blick den gleichen Musikgeschmack wie ich: Snow Patrol, Coldplay und Mando Diao. Ich brachte ihr meine Thievery Corporation und Kruder-und-Dorfmeister-CD. Ich war etwas enttäuscht, als sie sagte, dass sie meine Liebe zu elektronischer Musik nicht teilte. Sie spielte die CDs aber trotzdem ab.

      „In Blenheim gibt es keine Clubs, wo diese Art von Musik gespielt wird. Außer einem vielleicht. Ansonsten mögen wir Neuseeländer Musik, die mit echten Instrumenten erzeugt wird. Vielleicht weil wir mehr mit der Natur verbunden sind als Europäer“, versuchte sie ihren Musikgeschmack zu erklären. „Ich mag es einfach, eine Gitarre zu hören und die röhrige Stimme eines Sängers dazu. Wenn da elektronische Klänge mit dem Computer erzeugt werden, dann versetzt mich das schon in eine gewisse Stimmung, aber ich habe immer das Gefühl, dass diese Stimmung unecht ist, weil sie nicht von Menschenhand und Menschenstimme erzeugt wurde. Seltsam, aber es ist einfach so. Ich kann auf diese Musik nicht so abgehen wie auf Mando Diao oder Rolling Stones. Das läuft hier so im Hintergrund ab, man chillt, alles ist nüchtern. Aber zum Ausrasten bringt mich das gar nicht“. Sie lachte ihr helles und lautes Lachen. Ich wusste, dass ich sie auch nicht erleben mochte, wenn sie ausrastete. Geschweige denn, wenn sie böse war. Sie war viel zu laut für meine Ohren. Das galt es in jedem Fall zu vermeiden, prägte ich mir ein.

      „Zum Ausrasten bringt mich elektronische Musik auch nicht!“, erwiderte ich. „Aber die Stimmung, die sie erzeugt, kenne ich in mir selbst gut. Es ist ein wenig Melancholie und auch Nüchternheit. Das ist ein Teil von mir. Und es lässt sich auch gut dabei tanzen. Warst Du schon in dem Club, in dem auch solche Musik gespielt wird?“, fragte ich sie vorsichtig aus. Der Club klang nach meinem Geschmack.

      „Nein, ich war nie da. Meine Freunde auch nicht. Da geht eine Gang aus unserer Schule hin. Die sind gefährlich und deswegen meiden die meisten Leute sowohl die Gang als auch den Club. Der Club gehört dem Vater eines der Jungs aus der Gang“, klärte sie mich auf.

      „Und da wird auch elektronische Musik gespielt?“, hakte ich nach.

      „Ja, ich glaube schon.“

      „Gehen wir mal zusammen hin?“ Meine neugierige Seite konnte es nicht lassen.

      „Sophie, sei mir nicht böse, aber das ist echt keine gute Idee. Den Typen will ich nicht begegnen. Es reicht schon, dass ich sie in der Schule sehen muss. Einer von ihnen ist ein richtiger Kotzbrocken. Im letzten Schuljahr hat er meinen Fahrradreifen aufgeschlitzt und ich musste das Rad nach Hause schieben. Die ganze Bande ist so drauf. Drogen, Gewalt. Eine aus der Gang war schwanger und hat dann abgetrieben. Das ist doch nicht normal. Die leben da auf ihrer Insel und wollen absolut keinen Kontakt zu uns haben. Da laufe ich nicht auch noch in diesen Club rein. Du solltest Dich von denen fern halten.“ Sie sah mich sehr ernst und entschlossen an. Ihre großen blauen Augen waren weit aufgerissen. Stephanie befand sich wohl kurz vor dem Zustand „ausrasten“. Ich musste gegensteuern.

      „Ja, ok. Schon klar. Ich wollte nur wissen, was hier so los ist“, druckste ich etwas vor mich hin. „Ich dachte am Ende der Welt ist das Paradies. Aber Ihr habt ja auch Eure Probleme mit Gangs und Drogen.“

      „Das Paradies war es hier schon, bis vor zehn Jahren ein Dutzend Familien herkamen, eine Insel kauften und ihre Kinder groß wurden. Die haben sich hier nie richtig integriert. Sie sind immer nur unter sich. Na ja, aber es lässt sich hier trotzdem schön leben. Man muss sie nur ausblenden“, lächelte sie.

      5

      Die Vögel zwitscherten mich nach Sonnenaufgang rabiat aus dem Traum. Ich fragte mich, warum sie sich um unser Haus versammeln mussten, wenn doch auf den Feldern das neuseeländische Obst auf den Bäumen lockte. Ich blieb liegen und döste etwas vor mich hin. Dann drehte Stephanie wie angekündigt ihre Anlage hoch. Da war es für alle Beteiligten vorbei mit Schlafen. Nach dem Frühstück fuhr ich mit Stephanie und Barbara in die Innenstadt, um unsere Schulsachen zu kaufen. Die breiten, leeren Straßen wurden mit der Zeit immer enger, die schützenden Büsche vor den Häusern verschwanden und immer mehr Autos tauchten auf. Das war wohl die Innenstadt. Die Farbe Rosa war sehr beliebt in Blenheim, denn auch viele Häuser in der Innenstadt waren rosa gestrichen. Ein markanter rosafarbener Turm - laut Barbara ein Mahnmal für den ersten Weltkrieg - war das Wahrzeichen der Stadt und aufgrund seiner Größe schon von weitem zu sehen. Alles war sehr sauber. Die vielen Rasenflächen waren trotz der Hitze grün. Ein paar kleine Straßencafés gab es auch. Aber im Vergleich zu Frankfurt wirkte Blenheim sehr provinziell. Wie eine Stadt im wilden Westen. Ob ich es ein Jahr lang hier aushalten würde? Barbara parkte den Jeep vor dem einzigen Kaufhaus der Stadt, um das sich viele kleine Läden angesiedelt hatten. In einem der Läden kauften wir Ordner, Blöcke, Stifte und alles, was man für den Schulalltag brauchte. Dazu gehörte auch die Uniform. Eine für den Sommer und eine für den Winter. Im Sommer trugen die Mädchen ein kurzärmliges helles Hemd oder Poloshirt mit einem dunkelblauen Rock oder einer dünnen, ebenfalls dunkelblauen Stoffhose. Wenn es kälter wurde, war der blaue Hosenstoff dicker und man zog über ein langärmliges weißes Hemd einen blauen Pulli. Ich verzog spöttisch das Gesicht, als ich die Klamotten sah.

      „Die Uniform soll die Gleichheit unter den Schülern fördern. Sie sollen ganz unabhängig von der Herkunft der Eltern Freunde werden und zusammen lernen“, erklärte mir Barbara mit etwas Pathos den Grund für die Uniform.

      Die Preise für die Uniformen waren gepfeffert. Welche ärmeren Familien konnten sich diese Kleidung, ohne mit der Wimper zu zucken leisten, fragte ich mich. Die Gleichheit ihrer Kinder bezahlten sie, indem sie auf andere Dinge verzichteten.

      Stephanie glaubte meine Meinung über Uniformen richtig gedeutet zu haben und klärte mich verständnisvoll auf: „Du kannst die hässlichen Klamotten aufmotzen, Sophie. Mit schönem Schmuck und Schuhen siehst Du wieder human aus.“

      „Das ist ja das Problem. Deswegen gibt es ja keine Gleichheit. Ich meine, jeder, der es sich leisten kann, findet einen Weg, sich ungleich zu machen. Die Reichen sehen dann reich aus und die Armen arm. Oder?“, gab ich zu bedenken.

      „Du hast teilweise Recht, Sophie. Aber bei uns in Blenheim haben wir das Glück, dass die Unterschiede nicht so groß sind. Die Menschen leben ganz gut von den Plantagen und die Schule ist sehr gut ausgestattet“, erwiderte Barbara.

      „Wieso dann überhaupt eine Uniform?“, fragte ich.

      „Das frage ich mich auch, Mutter! Sophie hat Recht“, fügte Stephanie hinzu.

      „Ich freue mich, dass Ihr kritisch urteilen könnt. Aber es ist die alte Tradition aus England und Vorschriften sind nun mal Vorschriften“, wiegelte Barbara ab.

      „Ist ja egal. Ich bin schon sehr gespannt auf die Schule“, sagte ich versöhnlich und ließ mir die Uniform, die ich anprobiert hatte, einpacken. Barbara fragte mich, ob ich genügend Sportsachen für den Sportkurs dabei hatte. Ich hatte mich während der Autofahrt, nach einer Diskussion mit Stephanie für den Kurs „Outdoor-Activities“ entschieden. Ein ähnliches Fach hatten wir in Deutschland nicht. Beim Klettern, Radfahren und Wandern würde ich draußen in der Natur sein und könnte die Gegend rund um Blenheim erkunden. Aber die vielfältige Ausrüstung, die man für Outdoor Activities brauchte, hatte ich in meinen zwei Koffern nicht dabei. Stephanie machte eine lange Liste von Dingen, die ich brauchen würde und wir stürzten uns in einen Outdoor-Laden, während Barbara einige geschäftliche Dinge regelte und im Supermarkt einkaufen ging. Wir verabredeten uns zur gemeinsamen Heimfahrt.

      Bei der Anprobe fühlte ich mich in den Sportklamotten wohl, obwohl ich die Befürchtung hatte, als untrainierte Deutsche mit einer Vorliebe für elektronische Musik bei den Outdoor-Junkies in Blenheim etwas aufzufallen und bei den Wanderungen notorisch als Letzte in der Gruppe anzukommen. Schlimmer noch: Nach einem Berganstieg vom Lehrer Mund-zu-Mund beatmet zu werden und dann zur Lachnummer der gesamten Schule zu mutieren. Ich schaute mich im Laden um. Die Menschen hier sahen locker und sportlich aus, so als ob sie die Bewegung an der frischen Luft im Mutterleib aufgesogen hätten. Ich wanderte nur selten