Jürgen Hoffmann

Die Facebook-Entführung


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sitzt da wie ein Häufchen Elend, was zumindest eine Art Mini-Trost darstellt. Auch wenn wir nicht sofort Mitleid bekommen, sind wir wider besseres Wissens doch davon überzeugt, dass das nicht so bleiben kann. Wenn wir wirklich traurig sind, wenn unsere Lage wirklich trostlos ist, ist die Welt gefordert, das zu ändern. Tut sie das nicht, waren wir noch nicht traurig genug. Oder haben es der Welt noch nicht deutlich genug gezeigt.

      Als Sebastian die Tränen in die Augen steigen, rückt Link mit den Stuhl so nah heran, dass die beiden sich berühren könnten.

      „Ich verstehe es nicht, Link, ich verstehe es einfach nicht. Das ist doch alles total verschroben hier, das hat doch alles überhaupt keine Linie.“

      „Was verstehst du denn nicht?“

      „Also, erstmal: Das ist doch keine Entführung, wo Sie meinem Vater irgendeine Lösegeldforderung übermitteln, und wenn er zahlt, komme ich frei.“

      „Ja, danach sieht es wirklich nicht aus, Sebastian.“

      „Das ist doch totale Scheiße. Ich meine, mein Vater würde garantiert zahlen, garantiert. Aber wenn es gar nicht darum geht, worum geht es dann?“

      „Ich kann dir nur sagen, dass du dir keine allzu große Sorgen machen solltest.“

      „Ach ja? Und wie soll das gehen, mir keine Sorgen zu machen? Wenn du mich gehen lässt, bist du doch erledigt, ob mit oder ohne Lösegeld. Also kannst du mich doch gar nicht einfach frei lassen.“

      „Und das macht dir Angst?“

      Mehr als. Sebastian spürt, dass er vollständig die Fassung verlieren wird, wenn Link seiner Theorie jetzt nicht widerspricht. Dass es für ihn gar kein gutes Ende geben kann, weil das gute Ende Links Ende als freier Mann bedeuten würde.

      „Und ich halte es auch nicht mehr aus, hier angekettet zu sein! Ich! Halte! Das! Nicht! Mehr! Aus! Das ist der totale Horror, tagelang an der Kette, das ist nichts, was man aushalten kann, verstehst du das nicht? In deinem Kopf ist das nur so ein Satz, ich muss den Jungen anketten, damit er keine Probleme macht, aber IN WIRKLICHKEIT ist das viel mehr als nur so ein Scheißsatz in deinem Scheißkopf. Das sind echte Schmerzen und echte Panikattacken, meine Handgelenke sind wirklich wund, das ist ganz anders als in einem Videospiel, und mein Eindruck ist, dass du das nicht mehr so richtig unterscheiden kannst in diesem Film, der in deinem Kopf abläuft. Wenn du nicht willst, dass ich irreparablen Schaden nehme, musst du das beenden. Bitte, bitte!“

      Sebastian ist jetzt tatsächlich kurz davor, durchzudrehen, Link sieht sich das einen Augenblick interessiert an, auf eine Art erregt, die Sebastian schockiert.

      „Sebastian, komm. Das ist zwar kein Spiel hier, aber so todernst, wie es dir gerade vorkommt, ist es auch wieder nicht. Verlier jetzt nicht die Nerven. Okay, ich sehe, dass du kurz davor bist, genau das zu tun. Also hör zu.“

      Link legt seine Hand auf Sebastians Kopf, anfangs fast zärtlich, doch dann zieht er an den Haaren, eine Herrschaftsgeste, nicht wirklich schmerzhaft, aber hart genug, um Sebastians erschöpften Körper dazu zu bringen, irgendwelche Botenstoffe auszuschütten.

      „Ich sage nicht, dass die Sache völlig ungefährlich ist und du nichts zu befürchten hast. Ich könnte dir das jetzt sagen, aber das wäre eine Lüge. Was ich dir aber sagen kann, ist, dass sich die Dinge in eine gute Richtung entwickeln. In eine für dich gute Richtung. Ich schätze, dass ich dir morgen die Ketten tagsüber abnehmen kann. Und dass die Sache hier in drei Tagen zu Ende ist. Lass es vier sein. Oder fünf. Aber wir sprechen hier sicher nicht von einer ganzen Woche oder zwei.“

      „Scheiße, das klingt alles so… ich blicke einfach überhaupt nicht mehr durch. Bitte! Bittebitte, ich halte das nicht mehr aus.“

      „Aber das musst du. Aber nicht mehr lange. Wir sprechen hier über einen überschaubaren Zeitraum, verstehst du? Über eine gewisse Strecke, deren Endpunkt sich in Sichtweite befindet. Vielleicht nicht in deiner Sichtweite, aber in Sichtweite. Sebastian, wirklich, ich glaube, es wäre sehr klug von dir, mir ein bisschen Vertrauen zu schenken.“

      „Ja.“

      „Oder hältst du mich für einen Unmenschen?“

      „Nein. Nein! Ganz bestimmt nicht.“

      „Gut. Weißt du, es gibt immer wieder Situationen in unserem Leben, wo wir uns täuschen oder uns täuschen lassen. Aber das darf uns nicht dazu verleiten, die Fähigkeit zu verlieren, einem anderen Menschen zu vertrauen.“

      „Scheiße, ja. Ich will nur, dass es endlich zu Ende ist. Ich glaube nicht, dass ich das noch lange durchhalte. Bitte, wirklich, wirklich, ich muss unbedingt wissen, dass du verstehst, was ich sage! Wie es mir geht!“

      „Das tue ich Sebastian. Ein bisschen hältst du noch durch. Das mag für dich jetzt seltsam klingen, aber: Ich kann das wirklich besser einschätzen als du selbst. Es gibt noch ein paar Dinge, die du begreifen musst, um einen klareren Blick auf die Dinge zu bekommen.“

      „Okay, aber ich kann mich darauf verlassen, dass es nicht mehr lange dauert? Keine Woche, sondern viel weniger.“

      „Ja. Es gibt zwei, drei Dinge, die ich angeschoben habe und die sich morgen oder übermorgen entscheiden. Davon hängt jetzt noch ein bisschen was ab. Gut, Zeit für mich zu gehen. Gibt es noch etwas, was du wissen möchtest, Sebastian?“

      „Ja, mein Vater. Ich verstehe das nicht.“

      „Das wirst du noch.“

      „Aber er steckt irgendwie dahinter? Das kann nicht sein.“

      „Es ist anders, als du denkst. Ganz anders, wirklich. Wie ich dich einschätze, reicht deine Fantasie nicht aus, um dahinter zu kommen.“

      Als Link schon an der Tür steht, dreht er sich noch einmal um und sagt:

      „Deine Theorie, dass ich gar nicht anders kann, als dich zu töten, würde nur stimmen, wenn die Polizei Wind vor der Sache bekommt. Verstehst du? Denk darüber nach. Deine Theorie würde nur dann stimmen, wenn die Polizei Wind von der Sache bekommt. Aber das muss sie ja nicht. Das solltest du vielleicht auch deinem Freund Peter Rost klarmachen. Ich glaube, es wäre keine schlechte Idee, genau das zu tun. In deinem eigenen Interesse. In deinem eigenen, vitalen Interesse.“

      Wie Facebook uns guttut

      Was tun wir in der größten Not? Wir fliehen zu Facebook. Auch wenn wir wissen, dass uns das keine Linderung verschafft.

      Noch nie zuvor in seinem Leben spürte Sebastian so unabweisbar die Macht von Facebook, der Gedanke, sich hinzugeben, sich auszubreiten vor der Öffentlichkeit, sich der Community mit nackter Brust zu zeigen, war so mächtig und unwiderstehlich, dass ihm schwindelte. Die Lösung, das war Sebastian in diesem Moment so klar wie sonst nichts auf der Welt, war nicht ein weiterer Post, sondern wäre ein Livestream gewesen, verfügbar und frei zugänglich für alle. Hier verzweifelt auf dem Betonboden zu liegen, war die pure Einsamkeit, zu wissen, gesehen zu werden, von Freunden und Fremden, der größte Trost, der sich denken ließ. Meine iWatch der übernächsten Generation zeigt an, wie viele User in diesem Moment zugeschaltet sind, es sind 15, das ist gut, es sind nur noch 4, mir schießen die Tränen in die Augen, und plötzlich, kein Mensch weiß warum, es gibt keine Erklärung, steigt die Zahl innerhalb von zehn Minuten von 4 auf 409, weil dem Algorithmus in der Wolke es so gefällt. Sebastian denkt an das öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul II, Spiritus Sanctus, es ist das, was wir brauchen, was unsere Seele braucht, wir sterben und leiden nicht im Verborgenen, sondern wir schließen unsere Augen in dem Bewusstsein, gesehen zu werden und also nicht allein zu sein.

      38 weitere Kommentare auf seinen letzten Facebook-Post, für Sebastians Social-Media-Karriere stellt das einen neuen Rekord dar.

      Das Erste, was er jetzt tun musste, war, eine Nachricht an Peter zu schreiben. Sein Freund war Online, was bedeuten konnte, dass er seine Nachricht sofort lesen würde.

      „Lieber Peter, ich weiß nicht, ob du schon