Jürgen Hoffmann

Die Facebook-Entführung


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Wahrheit ist, dass sich da draußen gerade etwas zusammenbraut. Sehr dumm, sehr blind, sehr leichtfertig, das nicht zu sehen. Alle haben die Schnauze voll. Alle!, bis auf ein paar Narkotisierte. Die Frage, die einzige Frage ist, welche Partei sich durchsetzt. Die wild gewordenen (werdenden) Spießer und Retro-Nazis, die über alles schimpfen, was auch nur einen Zentimeter größer ist als sie selbst, also auf alles und jeden, Politiker, Manager, irgendwie Erfolgreiche. Und die gleichzeitig über alles schimpfen, was scheinbar einen Zentimeter kleiner ist als sie, also Ausländer, Flüchtlinge, Schwule, Emanzen. Alles scheiße, bis auf das Volk! Das so ungerecht behandelt wird! Die einen saugen sie aus (die Politik), die anderen lassen sich von ihnen aushalten (Flüchtlinge). Das Problem ist nur, DAS PROBLEM: In einem haben diese Killerpilze Recht, nämlich dass wir in einer komplett kaputten, kranken Welt leben. Wir werden in den nächsten zehn Jahren einen Aufstand erleben, der alles niedermäht, so viel ist klar. Die Frage ist nur, wer ihn anführt: Die Drecksnazis oder Leute wie wir.

       Wilfried Loll:

       Es ist Zeit für eine neue Bewegung. Ganz im Ernst! Ich bin dabei, sagt mir nur, was ich machen soll.

       Karen Gropper:

       Leute wir ihr machen alles kaputt, das kotzt mich wirklich an. Dekadenter Scheiß! Euch ist langweilig, deshalb dreht ihr so durch, ihr seid einfach zu blöd, etwas mit euch anzufangen. Diese ganzen Radikalitäts-Posen sind dermaßen was von lächerlich!!!! Leute, macht die Augen auf: Wir leben in einem freien, reichen Land. Wer damit nicht zurecht kommt und dauernd nach irgendwelchen Aufständen ruft, hat einfach einen an der Klatsche. Wenn man keine Probleme hat, macht man sich welche. Dann fühlen sich auch Volltrottel, die im wirklichen Leben nichts geregelt kriegen, plötzlich wieder wichtig. Und speziell zu dir, Sebastian: Ich denke, du gehörst ganz einfach in die Klapse. Das ist der Ort, wo du am besten aufgehoben bist. Psychiatrische Anstalten: The place to be für Typen wie Sebastian. Und jetzt halt bitte dann dein dummes Maul und nerv die Leute nicht mit deiner präpotenten Scheiße. Okay? Ist das okay? Hast du das verstanden? Werd ich ja merken.

       Harry Wolf:

       Blabla, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir gefällt das, was Sebastian schreibt. Endlich mal was anderes als die ganzen Katzenvideos hier und was man gerade isst oder in was für einem tollen Hotel man abhängt. Interessiert doch keinen. Lasst uns mal ein bisschen Rabatz machen, wenn wir schon Stunden über Stunden hier auf Facebook rumstreunen. Macht uns ja alle total süchtig irgendwie.

       Lily Lembach:

       Nette Diskussion hier. Was ich denke, ist: etwas anderes. Nämlich das: Vielleicht ist das beste Gegenmittel für alle die Probleme, die ihr hier beschreibt, einfach ein bisschen mehr Bescheidenheit. Meine ich ganz ernst. Ein bisschen weniger Aufplustern und allen ist geholfen. Mein Satz des Tages, an den ich total glaube, lautet: Weniger Ego = frei! Denkt mal drüber nach, Leute. Und schaltet einen Gang runter.

      Zwei Stunden später postet Sebastian das Selfie, das zeigt, was Link mit seinem Gesicht angestellt hat, und schreibt dazu:

       Sebastian Molitor:

       Damit ihr wisst, dass es mir ernst ist. Oder sieht so jemand aus, der es nicht ernst meint? Und an alle, die mich kennen: Sieht so jemand aus, der nicht ich bin? The fucking truth ist: Ich bin tatsächlich Sebastian Molitor und ich bin tatsächlich entführt worden. Langsam Zeit, dass jemand von euch da draußen etwas unternimmt. Langsam Zeit, dass irgendjemand damit beginnt, mich aus dieser Geiselhaft hier zu befreien. Lange halte ich nämlich nicht mehr durch. Herzliche Grüße und Glück auf, Sebastian.

       Peter Rost:

       Ich bin geschockt. Ich will, dass du weißt, dass ich mich darum kümmere.

       Dana Cebulla:

       Wow. Furchtbar. Mann, Basti! Mein lieber Sebas, mein guter Sebastian. Das sieht ja furchtbar aus, das ganze Blut. So ein liebes, armes Gesicht. Würde dich sooo gerne streicheln jetzt. Hübscher Junge. Sehr hübsch. Was machen die nur mit dir? Wäre jetzt gerne bei Dir, um Dir etwas Mut und Stärke zu geben. Aber ich glaube, du bist stark. Bin völlig durcheinander, wenn ich das Bild sehe. Das ganze Blut.

       Harald Menk:

       Das musste ja jetzt kommen. Kleine Mädchen, die es scharf macht, ein geschundenes Jungsgesicht zu sehen. Oh, wie süß, komm her, ich leck dir das Blut ab. In Wahrheit geht es hier doch nur um Sex in der ganzen - ich lach mich krank: - Diskussion. Ihr sitzt vor eueren PCs und Smartphones und holt euch in eurer tödlichen Langeweile einen runter, die Höschen sind schon feucht. Und die Jungs zeigen ihre Muskeln. Ah, geil, ich bin ja auch nicht anders. Am aller-aller-allerliebsten würde ich jetzt ficken. Wer macht mit? Zur Not lasse ich mir davor auch ein bisschen das Gesicht matschig schlagen, wenn es dir dafür schneller kommt. Meldet euch!

      Dallanski kommt ins Spiel

      Friedrich Molitor ist stark, er kann nicht anders. Manchmal versucht er, bescheiden zu wirken oder so etwas wie Demut zu empfinden, aber das ist lächerlich. Er ist Inhaber einer PR-Agentur, Frontpoint Communications, 60 Angestellte, das ist enorm für ein Unternehmen dieser Art. Nach Steuern und Abschreibungen bleibt ein Gewinn von 500.000 bis 600.000 Euro in der Kasse, das ist der Kern, aber daneben hat Molitor noch Mandate auf eigene Rechnung, mit weniger als 800.000 Euro netto ist er in den vergangenen zehn Jahren nie nach Hause gegangen. Die Leute behandeln ihn mit Respekt, und wenn ihm irgendwelche Typen nicht mit Respekt begegnen, was logischerweise immer wieder vorkommt, ständig, unvermeidbar, erfüllt das Molitor nach all den Jahren immer noch mit einem Zorn, den er nur mit Mühe beherrschen kann. Er blickt den Menschen hart in die Augen, und wenn nicht die Blicke zurückkommen, die er erwartet, bereitet ihm das körperliche Schmerzen. Molitor hat sich noch nie mit jemandem geprügelt, aber es muss sich so anfühlen, als wäre er jederzeit dazu bereit.

      Mit Bruno Dallanski ist es vielleicht anders, sein alter Freund aus den Jahren im Goethe-Gymnasium, Frankfurt am Main, beide 59 inzwischen und gut in dem, was sie tun. Dallanski hat ein rundes, schönes Gesicht mit ganz wenig Mimik. Er bewegt seinen Kopf nach links, nach rechts, aber meistens schaut er geradeaus. Er ist eher klein, 1,63, vor allem aber ist er kompakt, ein runder Körper, zweifellos zu dick, aber nicht schlaff, volle Backen, fester Bauch, muskulöse Oberschenkel ohne unschöne Einbuchtungen. Wenn er im Schneidersitz aus dem Fenster blickt, sieht er aus wie eine Buddhafigur, der man über den Hinterkopf streichen möchte. Molitor macht ständig Wind, Dallanski, dem die Gutmütigkeit ins Gesicht geschrieben steht, nie. Er ist Privatdetektiv, ein komplett idiotischer Beruf, findet Molitor, aber im Moment ist es genau das, was er braucht.

      Molitor steht am Kamin, Dallanski sitzt in einem schweren, schwarzen Ledersessel, der wie für ihn gemacht ist. Molitor lächelt gequält und versucht Dallanskis Blick festzuhalten, er will jetzt einen wirklichen Augenkontakt. Freunde in der Not sind ein schönes Konstrukt, aber dann muss es in der Praxis auch funktionieren, wenn es darauf ankommt.

      Dallanskis Stärke besteht darin, kein Widerstand zu sein, wenn es die Situation nicht erfordert, er spürt, dass es seinem alten Freund ernst ist und macht es ihm leicht, ohne große Vorrede das zu sagen, was er unbedingt sagen will. Es geht um Sebastian, seinen Sohn, „er ist weg, ich meine, wie es aussieht, hat ihn jemand entführt“.

      „Wie es aussieht? Du weißt nicht, ob Sebastian nur verschwunden ist oder entführt wurde?“

      „Doch, klar, entführt. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich dir genau erzählen kann. Es ist... kompliziert.“

      Kompliziert, weil: Der Entführer seines Sohnes hat womöglich belastendes Material gegen ihn, den alten Molitor, in der Hand. Also keine Polizei.

      „Es ist nicht so, dass ich Geheimnisse vor dir habe, Bruno. Aber ich kann dir einfach nicht alles sagen. Du wirst antworten, dass du mir unter solchen Umständen nicht helfen kannst, dass