Jürgen Hoffmann

Die Facebook-Entführung


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nur dann. Mein Schicksal liegt in deiner Hand, aber ich vertraue dir wie sonst niemandem. So glücklich, einen Freund wie dich zu haben! Ich verlasse mich auf dich, mein Freund.“

      Drei Minuten später kam die Antwort.

      „Sebas, was ist das alles bloß für eine Scheiße? Ich war gestern bei deinem Vater, der hat mir versichert, dass alles in Ordnung ist. Ich bin nicht zur Polizei, war aber extrem kurz davor. Ich mache, was du sagst, klar. Hoffe aber, dass ich Dich sehr bald wieder persönlich sprechen kann. Irgendetwas, was ich für dich tun kann? Die Sache zerrt echt an meinen Nerven.“

      „Meine Posts waren ein großer Fehler. Sorry, wenn ich dich in eine blöde Situation gebracht habe. Du kannst wirklich nichts für mich tun im Moment, und wahrscheinlich ist das auch gar nicht nötig. Just a silly game I have to play, unfreiwillig. Auflösung folgt! Wichtig nur, sehr wichtig, ganz wichtig, enorm wichtig, von wichtiger Wichtigkeit: dass du mir gewogen bleibst! Muss wissen, dass da draußen jemand ist, der gute Gedanken für mich hat. Muss!“

      „Okay. Und ich kann mich darauf verlassen, dass wir uns in ein paar Tagen sehen? Und dann alles in Ordnung ist? Würde es mir nicht verzeihen, wenn nicht.“

      „Ja, klar, kannst dich darauf verlassen, kann ich versprechen. Kann nur sein, dass ich dann ein bisschen deine Zuwendung brauche. Deine Freundschaft!“

      „Mann, Mann, Mann. Ganz ehrlich, habe ich dir nie so deutlich gesagt: Du bist für mich wirklich ein Freund! Bester Freund! Müssen wir irgendwie besiegeln, wenn du wieder draußen bist. Scheiße, „wenn du wieder draußen bist“. Krass. Keine Ahnung, was hier abgeht, was das alles soll. Aber große Ahnung, dass wir noch viel bessere Freunde werden als wir bisher waren.“

      „Ja, wirklich! Kann dir nicht sagen, wie wichtig das für mich ist, was du da schreibst. Wenn wir uns wiedersehen (bald!), sehen wir uns mit anderen Augen. Pass auf dich auf, Peter!“

      Indem Sebastian seinen Freund beruhigte, beruhigte er sich selbst. Ein wenig. Eine Minute gegen die Wand schauen und die Gedanken fließen lassen, genau beobachten, was kommt. Es kommt nichts Schlimmes, nachdem davor nur noch Schlimmes gekommen war. Sein Vater offenbar nicht in großer Sorge, was nicht bedeuten konnte, dass er in Wirklichkeit eine eiskalte Drecksau war, der ein böses Spiel mit seinem eigenen Sohn spielte, sondern dass tatsächlich kein Grund zu übergroßer Sorge bestand. Es geschahen ständig absolut schreckliche Dinge auf der Welt, aber noch viel, viel öfter taten sie das nicht. Extrem wenige Entführungen, noch weniger mit Todesfolge! Wir reden uns dauernd ein (lassen es uns einreden), wie scheiße und gefährlich alles ist, in Wahrheit aber leben wir in einem Paradies. Ein paar Tage im Keller und der Freiheit beraubt, harte Sache, sehr harte Sache, aber so hart auch wieder nicht, wenn man nicht die Nerven verliert und sich nicht Dinge einbildet, die nicht sind und nicht sein werden. Dass Link ihm eine Kugel in den Kopf schießt, war ja nicht einmal vorstellbar!, und wenn es nicht einmal in der Fantasie vorstellbar war, wie sollte es dann in der Wirklichkeit passieren! So weit weg von real! Es war ein Scheiß-Spiel, eine Prüfung, eine wirklich kranke Sache, aber die Panik und die Angst, die Sebastian bei seinem letzten Gespräch mit Link gehabt hatte, war weg, gone with the wind, gone with the chat, verpufft im virtuellen Raum.

      Wie er so glotzte, leerten sich Räume in seinem Gehirn, die eben noch komplett besetzt waren von Angst und Furcht. Der Nebel verzog sich auf wundersame Weise und gab den Blick frei auf Dinge jenseits des Kellers, zum Beispiel auf Peter Rost. Unsere Freundschaft, denkt Sebastian, ist eine Freundschaft wie Freundschaften heute sind, das heißt, sie schien so zu sein, tatsächlich ist sie aber viel mehr, was wir aus Vorsicht nur nicht sehen wollten oder konnten! Wir muten unseren Freundschaften heute nichts mehr zu, aus Sorge, dass sie dann sofort zerbrechen. Oder weil wir uns selbst nicht mehr unsere dunklen Seiten zumuten. Was wir haben, wenn wir zusammen sind, ist eine gute Zeit, das ist heute die Definition von Freundschaft. Dabei! Dabei: Wenn Sebastian ein mediokrer Zeitgenosse war, mittel-attraktiv, mittel-beliebt, mittelgut vernetzt, mittelgut im Studium, mittelgut präpariert für eine Laufbahn in der Offline-Welt, dann war Peter in allen Punkten eine Stufe darunter angesiedelt. Nicht dick, nicht hässlich, aber eindeutig unterdurchschnittlich gut definiert und ausgestattet mit einem Gesicht, das sofort unterging, wenn mehr als fünf Leute zusammen waren. Sebastian war gern mit Peter unterwegs, aber sie hatten ganz klar zu wenig Gesprächsstoff, was die Treffen immer ein bisschen beschwerlich machte. Mit Peters zweitem besten Freund war das anders, die beiden konnten stundenlang über Atomenergie sprechen, wobei sie die Überzeugung vertraten, dass der verordnete Ausstieg eine Eselei sondergleichen sei. Egal, jedenfalls, wenn ich hin und wieder mitbekam, wie die beiden sich die Köpfe heiß redeten, fragte ich mich, ob dieses Spezialistentum der Ausweg ist oder ganz im Gegenteil. Immerhin erschien mir diese Fixierung auf Atomenergie immer noch besser als die Legionen von Gaming-Aficionados oder Pseudo-App-Entwickler meiner Generation. Aber auch dieses „Mehr über die wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftspolitischen Implikationen der Atomenergie als alle anderen Leute wissen wollen“, kam mir immer vor wie eine Flucht, wie ein riesiger Berg, den zu besteigen sich absolut nicht lohnte. All die Anstrengungen, um ein exklusives Gesprächsthema zu haben, das uns heraushebt?

      Obwohl Peter und ich ein solch exklusives Thema nicht hatten und wir uns nicht gegenseitig ins Herz schauen ließen, war in all den Jahren offensichtlich doch etwas entstanden, was hielt. Was sich als stabil erwies, wenn es darauf ankam. Wahrscheinlich hatte es schon genügt, Peter unauffällig zu beschützen, wenn er in größerer Runde abzugleiten drohte in die Rolle des Verlierers. Es genügt, wenn einer dabei ist, der uns stützt, um auf einer Party nicht in die Rolle des Außenseiters gedrängt zu werden, was naturgemäß eine verheerende Wirkung auf unsere Seele hat. Mit mir an der Seite konnte Peter überall hingehen; ging er allein, drohte er Schaden zu nehmen.

      Zurück in den Newsfeed, wo all der Schrott angespült wird, den Sebastians Freunde und Facebook-Freunde von sich geben, man springt nie in denselben Fluss, alles ist wie immer und doch anders, there is a new content in town, schau ihn dir an, morgen schon wird er weggespült sein. Kleiner Stich ins Herz, als Sebastian sieht, dass die Herren von Facebook das Bild von seinem lädierten Gesicht entfernt haben. Idiotenpack. Hat das etwas zu bedeuten, werden die dem nachgehen, war es ein Algorithmus? Die Wege des Herrn Facebook sind unergründlich.

      Die Kommentare bestanden hauptsächlich aus Beschimpfungen, der Rat, der sich der größten Beliebtheit erfreute, lautete, Sebastian solle sich selbst ins Knie ficken. Der Kommentar, der die meisten Unterkommentare generierte, war aber von ganz anderer Tonalität. Von Justus Komarek.

       Justus Komarek:

       Unsere fatale Müdigkeit!

       Wenn ich das alles hier lese, tritt mir immer klarer vor Augen, auf was für einen falschen Weg wir uns begeben haben. Unser aller Realität ist: Tod und Kampf. Tod und Kampf! Am Ende sind es diese beiden Sachen, Tod und Kampf. Den Tod können wir nicht besiegen, aber wie wäre es damit, wenn wir die Kampfhandlungen einstellen?

       Es war hier unterschiedlich vom IS die Rede. Das ist ein gefährliches Spiel, dessen bin ich mir sehr bewusst. Aber wir sollten den Gedanken dennoch nicht zu schnell wegwischen. Wir müssen auch die Weisheit sehen, die in dieser Bewegung steckt. Die Wahrheit ist, dass wir im Westen müde geworden sind, müde und abgrundtief traurig, überall zerstörte und lädierte Seelen, auch wenn wir uns weigern, uns das selbst einzugestehen. Wir weigern uns total, uns einzugestehen, in was für eine kranke Hölle wir uns begeben haben, in was für eine fundamentale Falschheit, aber dass wir das so brachial verdrängen, bedeutet nicht, dass wir es im Innersten unserer Herzen nicht doch wissen. Was wir verstehen müssen: Wir sind wirklich Brüder und Schwestern! Wir sind das wirklich, und deshalb macht jedes System, das das leugnet, uns krank und kaputt. Ein System, das darauf fußt, das wir nicht Brüder und Schwestern sind, sondern Gegner. Fremde! Wir haben uns mit Haut und Haaren einem atemlosen Individualitätsterror ausgeliefert, der uns alle ins Unglück stürzen wird. Weil er uns nicht gemäß ist! Weil er unserer Natur widerspricht! Weil wir aufgehoben sein wollen! Weil wir uns danach sehnen, dass es eine Autorität gibt, die über uns steht. Warum sehnen wir uns danach? Weil wir schwach und dumm sind und uns wohlfühlen in unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit? Nein, sondern weil wir in unserem tiefsten Inneren wissen, dass wir das Heil nicht