der nächsten Nacht floh ich aus dem Tempel, obwohl es einer der dunklen Tage war. Was sollte schon passieren? Ich suchte Djedef im Haus der Krieger auf und fand ihn in der Kommandantur. Er schrieb an einem Bericht für seinen vorgesetzten General und war überrascht, mich zu sehen.
»Hast du dich entschieden, Nefrit?«
»Entschieden? Ich verstehe nicht, Djedef.«
»Ich sehe, dass du die Kleidung der Priesterinnen trägst. Dein Gesicht ist auch nicht verheult, also nehme ich an, dass du die Prüfungen bestanden hast.«
»Du scheinst dich darüber nicht zu freuen, Djedef. Um es mit deinen Worten zu sagen: du suchst eine Frau für das Bett.«
»Ich hätte es nicht treffender formulieren können.«
»Lassen sich aus deiner Sicht nicht beide Aspekte vereinen? Schließt denn meine Funktion als Priesterin und Lernende im Tempel eine weitere Beziehung zwischen uns aus?«
»Es tut mir Leid, Nefrit. Ich wollte nicht warten.«
»Du hast eine neue Geliebte?«
»Keine neue.«
»Wirst du sie heiraten?«
»Ihr Vater wünscht das so.«
»Djedef, du heiratest Iya und nicht ihren Vater!«
Die Tür der Kommandantur knallte hinter mir zu, als ich den Raum verließ. Auf dem Rückweg zum Tempel fragte ich mich, wer eigentlich wen betrogen hatte.
Die Beziehung zu Djedef war so schnell beendet, wie sie begonnen hatte. Ich war nun wieder allein. Iya hatte ich verloren, und nun auch Djedef. Wer blieb mir noch, an dem ich mich in meinem Unglück festhalten konnte?
Die Barke des Gottes auf den Schultern der Priester schwankte, als würde sie auf den Wellen des Hapi dahinsegeln. Das Blattgold funkelte im Sonnenschein. Die ellenhohe Götterstatue war mit einem durchscheinenden Königsmantel bekleidet.
Mempi, das ich seit einem Jahr nicht mehr bei Sonnenlicht gesehen hatte, war im letzten Jahr noch schöner geworden. Die Alte Hauptstadt hatte sich darauf vorbereitet, Pihuni als Residenz des Königs abzulösen. Ob er in diesem Jahr wieder an der Neujahrsprozession teilnehmen würde?
Die zeremonielle Schrittfolge der Priester vor mir ließ mir viel Zeit, mich in der Stadt umzusehen. Der Festzug durchquerte die Viertel der Wohlhabenden und Wichtigen, die Stadtteile der Armen und Unwürdigen und den Hafen, um endlich den Platz vor dem Palast zu erreichen.
Schon von weitem sah ich das Podest aus Zedernholz, das auf dem Platz aufgebaut worden war. Dieses Jahr war die Tribüne sogar noch größer und höher als im Vorjahr, denn der versammelte Hofstaat nahm an den Neujahrsfeierlichkeiten teil, nicht nur die königliche Familie.
In der Mitte der Tribüne, auf einem erhöhten Podest, saß der Herrscher in seiner zeremoniellen Haltung als menschlicher Gott. In seinen gekreuzten Händen hielt er die beiden Zepter Krummstab und Wedel, auf seinem Kopf trug er die Doppelkrone.
Ich sah in sein Gesicht. Er lächelte nicht. Wie in Stein gemeißelt saß er auf seinem Thron.
Die Prozession bewegte sich an den Prinzen und Würdenträgern vorbei, alle mit den Insignien ihrer Ämter. In der ersten Reihe saß jemand, an dessen Erscheinung ich zuerst nicht glauben wollte. In unmittelbarer Nähe des Prinzen Nefermaat sah ich meinen Vater auf der Tribüne sitzen! Er war überrascht, mich als Priesterin in der Prozession zu sehen.
»Vater!« Ich beging den gleichen Fehler wie im Vorjahr und blieb stehen. Doch bevor das hinter mir getragene Götterbild des Ptah zum Stillstand kam und der Festzug sich staute, lief ich zu meinem Vater hinüber.
»Nefrit! Ptah sei Dank.«
Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, dass der König zu mir herübersah. Aber in diesem Augenblick war mir alles egal, denn ich war nicht mehr allein!
Wir fielen uns in die Arme und hielten uns aneinander fest. »Meine geliebte Nefrit! Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«
»Es tut mir Leid, Vater! Es tut mir Leid, was ich dir angetan habe.«
»Schon gut, meine kleine Nefrit. Schon gut.«
Die Prozession zog an uns vorbei, während wir uns in den Armen hielten und unsere Nasen aneinander rieben.
Wir hatten uns viel zu erzählen. Ich berichtete ihm von meiner Weihe und meiner bestandenen Abschlussprüfung als Schreiber. Er erzählte mir vom Leben auf der Baustelle, das sich nach meinem Weggang nur unwesentlich verändert hatte. Prinz Nefermaat hatte die Arbeiter auf der Baustelle gnadenlos angetrieben, um den gewaltigen Bau wie vom König befohlen innerhalb von fünf Jahren fertig zu stellen. Kamose hatte daraufhin um eine Audienz beim Herrscher gebeten und sich über dessen Bruder beschwert. Erneut musste der König zwischen dem Wesir und dem Bauleiter vermitteln. Die Differenzen zwischen Nefermaat und meinem Vater schienen unüberbrückbar zu werden.
»Hast du Satamun wiedergesehen?«, fragte ich ihn, als ein Bote uns fand:
»Bist du Kamose von Tis?«
»Der bin ich.«
»Der Zeremonienmeister Seiner Majestät, Thotmes, will dich sehen. Sofort!«
Mein Vater bat mich, ihn in den Palast zu begleiten, da er nicht wusste, wie lange die Audienz bei Thotmes dauern würde.
Der Palast von Mempi war wesentlich kleiner als die Residenz von Pihuni. Die Ministerien und das Archiv mussten sich außerhalb des Areals befunden haben, als die Könige in diesem Palast residiert hatten. Der Bote führte uns durch ein großes Tor, über einen Hof zum Haus der Verehrung. Hier wohnte und regierte der König während seines Aufenthaltes in Mempi.
Während mein Vater von Thotmes empfangen wurde, lief ich im Wartesaal der Bittsteller auf und ab. Re senkte sich bereits auf den Horizont, und noch immer hörte ich nichts von meinem Vater. Hatte mein Verhalten Thotmes derart gereizt, dass er meinen Vater bestrafte? Warum dauerte die Unterredung so lange?
Die Tür öffnete sich, und ein Schreiber kam auf mich zu. »Bist du Nefrit aus Tis, Priesterin des Ptah?«
Ich folgte ihm durch die Gänge des Palastes. Mit jedem Schritt wurde ich unruhiger. »Wohin gehen wir?«
»Wohin wohl? Was soll die Frage?«
Mein Schicksal war besiegelt! Mein Vater und ich würden für die Lästerung des Lebendigen Gottes bestraft werden. Und ich wusste nicht einmal, wie ich mich verteidigen sollte. Ich war schuldig: Es gab Tausende Zeugen.
Der Schreiber betrat nach mir den Audienzraum. Die untergehende Sonne warf ein goldenes Licht in den Raum. Als sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, erkannte ich den König auf einem Stuhl direkt vor mir. Ich warf mich ihm zu Füßen und küsste den Boden unter seinen Sandalen. Mein Vater kniete neben mir. Neben ihm standen Wesir Nefermaat und ein hoher Beamter mit einer aufwändigen Perücke und einem durchscheinenden Mantel über dem plissierten Leinenschurz.
Der Herrscher sah mich schweigend an, bis ich den Blick hob. Da ich mein Leben ohnehin verwirkt hatte, wagte ich es, ihm direkt in die Augen zu sehen.
Es war ein schönes Gesicht mit leicht geschwungenen, geschwärzten Brauen unterhalb einer hohen Stirn, über der Geier und Kobra der Königswürde thronten. Seine Nase war wie von Imhotep gemeißelt, genauso wie die Lippen, die mit Henna gerötet waren. Die Augen waren mit Lapispulver blau geschminkt und ruhten auf mir. Der Göttliche schien überrascht, dass ich ihn direkt ansah. Sein Blick tauchte in meinen, aber mein Geist hielt seinem stand. »Sie entspricht ganz deiner Beschreibung, Kamose. Und sie scheint von den Göttern begünstigt, wenn sie so klug ist, wie du sie mir beschrieben hast, denn sie ist noch dazu sehr schön. Sie macht ihrem Namen alle Ehre. – Steh auf, Nefrit!«, befahl Seneferu, und ich stand auf.
Auch er erhob sich von seinem Stuhl und ging um mich herum, als wollte er mich von allen Seiten betrachten. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. »Du bist Priesterin?«
Was sollte die Frage? Das konnte er doch sehen.