Marianne Christmann

Doppeltes Spiel


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      Julia unterdrückte ein Gähnen.

      „Ernst Ritter hier. Wir haben einen dringenden Fall, bei dem umgehend eine Obduktion vorgenommen werden soll. Sie wissen, Dr. Vollmer ist noch in Urlaub. Können Sie in zehn Minuten da sein?“

      „Hat das nicht Zeit bis Tagesanbruch?“

      Ein erneutes Gähnen verschluckte die letzten Silben.

      „Nein, leider nicht. Mir passt das auch nicht, aber was soll’s? Ich hoffe, ich habe Sie nicht aus dem Tiefschlaf gerissen.“

      „Geben Sie mir zwanzig Minuten oder soll ich im Schlafanzug kommen?“

      „Der Leiche ist das egal. Bis später.“

      Julia warf ihr Handy wieder auf den Nachttisch und ließ sich zurück auf ihr Kissen und die zerwühlten Laken sinken. Ein paar Augenblicke lag sie still da und starrte in das dunkle Zimmer. Dann kicherte sie leise vor sich hin. Sie trug nämlich gar keinen Schlafanzug.

      Neben ihr regte sich etwas und eine verschlafene Stimme fragte: „Musst du etwa weg, um diese Uhrzeit?“

      „Ja. Eine dringende Obduktion. Dr. Ritter klang auch nicht begeistert. Zum Glück sind das ja nur Ausnahmen.“

      In der ganzen Zeit, in der sie als Pathologin arbeitete, war es bisher nur zweimal vorgekommen, dass ihr Chef sie aus dem Schlaf klingelte, weil eine oder mehrere Obduktionen vorgenommen werden mussten, die keinen Aufschub duldeten. Er würde sie nicht aus dem Schlaf reißen, wenn es nicht dringend wäre.

      „Wie spät ist es denn überhaupt? … Was, fünf Uhr früh, zu nachtschlafender Zeit.“

      „Schlaf weiter, Liebes.“

      „Nein, jetzt bin ich wach. Was ist mit frühstücken?“

      „Keine Zeit.“

      „Du musst etwas essen! Wenigstens eine halbe Scheibe Brot. Mit leerem Magen kippst du sonst um. Ich mache dir Kaffee. Und nun verschwinde unter die Dusche.“

      Julia grinste. Sie suchte ihre Kleidung zusammen, die verstreut im Zimmer herumlag. Als sie am Fenster vorbeiging blieb sie stehen und schaute hinaus. Das Haus stand ein wenig erhöht und man hatte einen atemberaubenden Blick in die Natur.

      Gerade begann es zu dämmern und vereinzelt blinzelten einige Strahlen der aufgehenden Sonne hervor. Diese kurze Zeitspanne liebte sie besonders, wenn die Nacht fast vorbei war und der neue Tag kurz vor seinem Anfang stand.

      Etwas weiter unterhalb verlief die Bundesstraße, auf der zu dieser Zeit bereits einige Autos fuhren. Wahrscheinlich diejenigen, die zur Frühschicht mussten. Der eigentliche Berufsverkehr begann jedoch erst eine Stunde später.

      „Was machst du denn da?“, erklang jetzt Verenas Stimme hinter ihr, „warst du schon unter der Dusche?“

      Julia fuhr zusammen.

      „Nein … du hast mich erschreckt.“

      „Beeil dich. Oder soll ich das Licht einschalten, dann hätten die Autofahrer draußen etwas zu sehen. Die würden sich sicher darüber freuen.“

      „Untersteh dich.“

      Julias Blick fiel auf die Uhr und sie erschrak. Sie hatte bereits fünf Minuten vertrödelt und musste sich beeilen.

      Zehn Minuten später kam sie in die Küche. Der Kaffee war bereits fertig. Hastig nahm sie einen Schluck aber das Getränk war noch heiß und sie spuckte es umgehend wieder aus.

      „Schmeckt dir der Kaffee nicht?“, fragte Verena unschuldig, die die ganze Szene beobachtet hatte.

      „Heiß“, sagte Julia nur.

      Sie nahm ihre Jacke vom Haken, küsste Verena zum Abschied auf den Mund und lief zu ihrem Wagen. Eine Viertelstunde später lenkte Julia ihr Auto auf den Parkplatz des rechtsmedizinischen Instituts.

      Kapitel 2

      Die Glasschiebetüren zur Pathologie standen weit offen. Es war ein heißer Tag und die geöffneten Türen ließen die Luft ein wenig zirkulieren.

      Dr. Julia Sommer stand über den Leichnam gebeugt, den sie gerade obduziert hatte und sprach das Ergebnis der Obduktion in ein Diktiergerät. Ihre Ausdrucksweise war flüssig, klar und präzise.

      Der Mann, der vor ihr auf dem Tisch lag, war keines natürlichen Todes gestorben. Er war Opfer eines Gewaltverbrechens geworden. Ein einziger Stich, genau ins Herz, war die Todesursache. Der Mörder musste großes Geschick im Umgang mit Stichwaffen haben.

      Von seinen Ausweispapieren, die man in seinem Haus fand wusste Julia, dass er Dietrich Kramer hieß, achtundfünfzig Jahre alt und Kreditsachbearbeiter bei einer Bank gewesen war.

      Man hatte ihn direkt vor seiner Haustür gefunden. Seinen Geldbeutel, wie auch ein paar andere Wertgegenstände, hatte man in seinem Haus gefunden, so dass die Polizei vermutete, dass das Motiv nicht Raubmord, sondern eher persönlicher Art war.

      Im Laufe ihrer Berufszeit hatte sie schon öfter mit Gewaltverbrechen zu tun gehabt und wusste daher, dass schon bald die Polizei in der Gerichtsmedizin auftauchen würde, um nach den Ergebnissen zu fragen.

      Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob der Mann wohl eine Familie hatte, Frau und Kinder, die nun über den Verlust des Mannes und Vaters informiert werden mussten.

      Doch das war nicht ihre Aufgabe und sie war froh darüber.

      Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und machte einige Proben fertig, die sie in der Forensik zur Untersuchung abgeben wollte.

      Kapitel 3

      Kriminalhauptkommissarin Carolin Sommer saß an ihrem Schreibtisch und sah die Akte durch, die über den neuen Fall angelegt worden war. Die Fakten, die sie hatten, waren sehr mager.

      Das Opfer, Dietrich Kramer, war Kreditsachbearbeiter bei der hiesigen Sparkasse gewesen.

      „Das ist nicht gerade viel“, sagte sie und sah ihren jungen Kollegen an, der ihr gegenübersaß.

      Caro, wie sie von Familie und Freunden genannt wurde, war erst vor wenigen Tagen zur Kriminalhauptkommissarin befördert worden. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter und Kollege, Paul Wagner, war in den wohlverdienten Ruhestand gegangen und sie hatte seine Nachfolge angetreten.

      Obwohl es eigentlich allen klar gewesen war, dass sie Wagners Nachfolgerin sein würde, hatte es trotzdem einige wilde Spekulationen gegeben. Die meisten ihrer Kollegen hatten sich für sie ausgesprochen, heimlich oder offen, aber die Entscheidung darüber lag natürlich höheren Ortes.

      Caro selbst hatte nicht wirklich damit gerechnet, Wagners Nachfolge anzutreten und zugleich befördert zu werden. Daher war sie sehr erstaunt gewesen, als ihr Chef, Wilfried Brunner, sie zu einem persönlichen Gespräch gebeten hatte.

      Er hatte ihr eröffnet, dass sie Paul Wagners Nachfolgerin war.

      „Außerdem gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Beförderung“, hatte er gesagt und ihr die Hand geschüttelt.

      Caro hatte sich bedankt, aber trotzdem kam ihr alles so vor, als wäre es ein Traum. War es aber nicht. Auch die Kollegen hatten ihr gratuliert und die meisten hatten es sogar ehrlich gemeint.

      Sie hatte Paul Wagners Büro bezogen, sich dort eingerichtet und ihm gleich ihren Stempel aufgedrückt. Ihren Assistenten und Kollegen, Kevin Reichel, hatte sie behalten.

      „Nein“, antwortete Kevin auf ihre Bemerkung, „das ist wirklich wenig. Was wissen wir denn konkret?“

      „Der Fundort war auch der Tatort, soviel wurde schon festgestellt.“

      „Und der Tatzeitpunkt?“

      „Da müssen wir die Obduktion abwarten.“

      „Was