Widmar Puhl

Bautz!


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verbieten

      Im Winter 2006/2007 gab es mächtig Streit im deutschen Blätterwald. Eine Studie hatte den Zusammenhang von fehlender Bildung und Armut untersucht. Schnell bestimmte der Begriff „neue Unterschicht“ die Diskussionen. Das Wort diskriminiere die Betroffenen, meinten die einen. Eine Unterschicht gebe es bei uns nicht mehr, meinten andere. Es dürfe keine geben, meinten wieder andere. Aber was diskriminiert eigentlich? Dass jemand zur Unterschicht gehört, oder dass man diese Tatsache beim Namen nennt? Die christliche Leitkultur des Westens, wenn es denn so etwas außerhalb politischer Kampfbegrifflichkeit überhaupt gibt, ignoriert aber munter das Bibelwort „Eure Rede sei Ja, aa oder nein, nein“ (Matthäus 5, 37).

      Ich erinnere mich noch gut an die ziemlich hilflosen Versuche meiner Eltern, uns Kindern „schmutzige Wörter“ zu verbieten. Aber trotzdem haben ordinäre Ausdrücke aus der Fäkal- und Sexualsprache über den Jargon der Jugendlichen und die Medien schon längst den Weg bis in die so genannte „hohe Literatur“ geschafft. Dass sich dabei Bedeutungen grotesk verschieben können, zeigt zum Beispiel der umstrittene Werbespruch „Geiz ist geil“: Bisher musste ich bei dem Wort „Geiz“ eher an etwas Verkümmertes, Verschrumpeltes denken. Und das Wort „geil“ hatte als Bezeichnung für akute sexuelle Begierde etwas Unanständiges, aber dennoch Pralles an sich. In konservativen Kreisen war der Vorwurf, „geil“ zu sein, etwas Schlimmes. Davon kann heute keine Rede mehr sein.

      Wer dem Bedeutungspfad folgt, den der Werbespruch „Geiz ist geil“ durch unsere Sprachkultur trampelt, findet Geiz einfach nur schön. Dabei gilt er in christlichen, 2000 Jahre lang gewachsenen Moralvorstellungen als krasse Untugend bzw. als eine der sieben Todsünden. Und wie man sieht, hat es nicht viel genutzt, den Geiz oder das Wort „geil“ zu verbieten. Auch wenn es für mich nach wie vor in Kindermund abartig klingt.

      Ich erinnere mich auch noch gut an eine Betriebsversammlung der Rentenversicherungsanstalt Baden-Württemberg vor vielen Jahren. Damals wurde die Verschwendung von Beitragsgeldern öffentlich diskutiert. Da ergriff die Betriebsratsvorsitzende das Wort. Die gestandene Gewerkschafterin forderte, man müsse jetzt erst einmal die Presse an die Kandare nehmen. Anwesende Journalisten, so hieß das, sollten in dieser peinlichen Angelegenheit schweigen, wenn sie es sich mit den Gewerkschaften nicht verderben wollten: ein übler Erpressungsversuch.

      Auch wenn ich so etwas seit damals nicht mehr erlebt habe: Öffentliche Redeverbote sind nicht nur in Diktaturen ein beliebtes Mittel der Einschüchterung. Einschüchterung aber löst keine Probleme, sondern schafft höchstens neue, zum Beispiel Tabus. Wenn in Kirchen und Internaten, also durchweg Einrichtungen, die mit einem großen Vertrauensvorschuss arbeiten, massenhafte, auch sexuelle Misshandlung von schutzbefohlenen aufgedeckt wird, gibt es nur einen Weg, das verlorene Vertrauen – vielleicht – wieder zurückzugewinnen: schonungslose Ehrlichkeit und öffentliche Kontrolle bei der juristischen Aufarbeitung des Problems. Trotzdem gibt es immer wieder Bischöfe, die den Zugang zu Akten verweigern und fürchten, ihre Kirche nähme Schaden durch öffentliche Debatten über Fehltritte von Geistlichen. Sie prügeln den Sack und meinen den Esel. Aber so funktioniert Ehrlichkeit nicht. Vertuschungsversuche machen alles nur noch schlimmer; sie kosten noch mehr Vertrauen als zuvor der Missbrauch selbst.

      Wir betrachten das Tabu als Merkmal primitiver Gesellschaften, als unzulässige Vermengung von Aberglaube und Moral. Das polynesische Wort „Tabu“ bezeichnet dagegen etwas Heiliges, Unantastbares, das man oft nicht einmal aussprechen darf. Es zu verletzen, gilt als Frevel und wird streng bestraft, um durch übernatürliche Mächte bewirktes Unheil abzuwenden. Und obwohl jeder weiß, dass in modernen Gesellschaften sehr natürliche Mächte am Werk sind, hätten diese oft gern Verhaltensnormen, die funktionieren wie Tabus. Denn dann muss man Verbote nicht in lästigen Diskussionen begründen und kann Andersdenkende mundtot machen.

      Verbote sind nicht nur in primitiven Gesellschaften oder Diktaturen sehr verlockend. Allein mit Appellen bekommen wir ein Problem oft nicht in den Griff: Also gibt es Emissionsverbote gegen Ozonloch und Klimawandel, Fahrverbote gegen die krankmachende Luftverschmutzung in den Städten, Rauchverbote zum Schutz der Nichtraucher, Alkoholverbote gegen das schlimme „Flatrate-Trinken“ bei Jugendlichen, Prostitutionsverbote gegen die Ausbeutung von Frauen. Aber so funktioniert das nicht. Kurz, wer Verbote fordert, will den Eindruck erwecken, er kümmere sich um das Problem. Dabei suchen viele oft nur hilflos einen Sündenbock, dem dann alle die Schuld in die Schuhe schieben.

      Ich plädiere für mehr Ehrlichkeit in der Sprache, vor allem in der öffentlichen Sprache. So genannte „Sprachregelungen“ sind nichts anderes als die organisierte Aufforderung zur Unredlichkeit. Gerade unangenehme Tatsachen müssen benannt werden. Denn, so heißt es in einem schönen Sprichwort: „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“. Wörter verbieten zu wollen oder überhaupt Verbote zu fordern, ist keine Lösung für ein Problem. So lange es in Deutschland eine Unterschicht gibt, wird man wohl oder übel auch darüber reden müssen. Alles andere wäre unehrlich. Die Dinge nicht beim Namen zu nennen, hilft keinem der Betroffenen.

       Anmaßende Sprechregelungen

      Vor ein paar Jahren verkündete die Bundesagentur für Arbeit eine kleine Sensation: Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie wieder fast eine Million offener Stellen melden. Eine magische Zahl. Aber was der Minister unter einem Stellenangebot versteht, ist nicht auch für alle Arbeitsuchenden ein Stellenangebot. Nur zwei Drittel der Angebote waren tatsächlich zur Vermittlung gemeldet. Und wiederum die Hälfte davon waren keine normalen Vollzeitstellen, sondern wurden zusätzlich vom Staat gefördert. Kurz: Aushilfen, 400-EURO-Jobs, 1-EURO-Jobs und dergleichen. Das war eine Erfolgsmeldung, die zu zwei Dritteln aus PR besteht.

      Was ein Stellenangebot ist, bestimmt im öffentlichen Sprachgebrauch der Arbeitsminister. Er beansprucht die Deutungshoheit für den Begriff und kratzt dabei alles zusammen, was statistisch den Erfolg seiner Arbeit untermauert. Ein Angebot ist nicht dasselbe wie ein faires oder gar ein gutes Angebot. Was aus der Sicht dessen, der eine Arbeit sucht, von der man leben kann, ein Stellenangebot ist, spielt keine Rolle. Der öffentliche Raum ist voll von solchen Sprachregelungen. Und die lassen es meines Erachtens sehr an Ehrlichkeit fehlen. So schön es ist, wenn wieder mehr Menschen in Deutschland erwerbstätig sind, so hässlich finde ich die maßlose Übertreibung, als die sich das Ganze bei näherem Hinsehen entpuppt. Sie ist im Kern unehrlich.

      Ein Beispiel aus der Landespolitik Baden-Württemberg: Im April 2007 hielt Günther Oettinger, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg und bekanntlich Christdemokrat, eine Rede am Sarg seines verstorbenen Vor-Vor-Vorgängers Hans Filbinger in Freiburg. Filbinger hatte 1978 zurücktreten müssen, weil seine Mitwirkung an Todesurteilen gegen Deserteure im Zweiten Weltkrieg bekannt geworden war. Statt etwas zu bedauern, hatte Filbinger uneinsichtig erklärt: „Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein“. Dieser Landespolitiker war Oettingers parteipolitischer Ziehvater gewesen, und den wollte er nun mit guten Gefühlen verabschieden. Also nannte er ihn einen „Gegner des Nationalsozialismus“. Nach heftiger Kritik auch in der eigenen Partei musste sich Oettinger von diesen umstrittenen Aussagen distanzieren. Er rettete seinen Kopf, aber er tat nichts gegen die „guten Gefühle“, die er anscheinend immer noch mit seinem historischen Vorbild verbindet.

      Viel schlimmer aber ist aus meiner Sicht, dass hier ein mächtiger Politiker versucht hat, mit Halbwahrheiten das Bild der Geschichte zu verändern. Er wollte Macht auch über die Köpfe und das Denken seiner Mitbürger. Deshalb haben sie ihm den Kopf zurechtgerückt. Das hat dieses Mal sogar funktioniert. Aber solche Versuche der Geschichtsfälschung gibt es immer wieder – von allen Seiten. Dass Gerhard Schröder in seinen letzten Monaten als Bundeskanzler noch den ehemaligen KGB-Chef Wladimir Putin als einen „lupenreinen Demokraten“ bezeichnet hat, war ein ähnlicher Fall. Sprachregelungen dieser Art werden entweder übernommen oder nicht. Manchmal lässt sie auch jemand wie einen Versuchsballon steigen und wartet ab, ob sie sich mehr oder weniger geräuschlos durchsetzen.

      Mit das Schlimmste, was einem sprachlich und philosophisch sensiblen Menschen passieren kann, der auch noch großen Respekt vor Religionen hat, ist eine Sprachregelung aus der Welt des Islam: Der so genannte „Heilige Krieg“ ist nicht nur ein unerträglicher Euphemismus und eine problematische