Nadine Zacher

Der dunkle Ort


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endgültig aus ihrem Leben zu streichen. Carla hatte darauf bestanden, bei Anja zu übernachten. Sie wollte um jeden Preis die Möglichkeit verhindern, dass Annabell an einem gemütlichen Samstagmorgen bei ihr vor der Haustür stand, wenn sie mit Anja gerade beim Frühstück saß.

      Sie lag noch im Bett, sie genoss es, an den Wochenenden lange herumtrödeln zu können, bevor der Tag richtig anfing. Wie immer hatte es Anja nicht lange im Bett ausgehalten. Sie war längst schon auf dem Weg zum Bäcker, Brötchen und Zeitungen holen. Als sie die Wohnungstür hörte, döste Carla immer noch vor sich hin, hörte aber jetzt, wie Anja geradewegs mit schnellen Schritten den Flur entlang Richtung Schlafzimmer ging. Ihr Gesicht war gerötet, als sie jetzt in der Schlafzimmertür erschien, ihr Atem ging schnell und Carla merkte, dass sie sich beeilt hatte.

      Sie setzte sofort zum Reden an: „Das ist unglaublich, hast du das mitgekriegt?“ Mit diesen Worten schmiss sie Carla die Zeitung entgegen, die neben Carla auf dem Bett landete.

      „Was denn mitgekriegt?“, fragte Carla, die auf einmal sehr wach war.

      „Direkt auf der ersten Seite, sieh es dir an!“

      Als Carla die Zeitung auseinanderfaltete und die Schlagzeilen erblickte, konnte sie nicht fassen, was sie dort sah. Sie war nicht in der Lage, sich auf die Buchstaben oder irgendeinen Text zu konzentrieren. Alles, was sie sah, war das Foto, das fast die gesamte Titelseite einnahm. Auf dem Foto war das Gemälde einer nackten Frau zu sehen, was man jedoch nur erkennen konnte, wenn man wusste, wie dieses Gemälde vorher ausgesehen hatte. Und das wusste Carla nur zu gut.

      „Was, was ist da passiert?“, stotterte Carla jetzt leichenblass, während sie weiter unverwandt auf das Bild starrte.

      Die Farbe sah an vielen Stellen großflächig verlaufen aus, ja fast wie weggebrannt. Von dem Gesicht der „Madonna“ war fast nichts mehr zu erkennen. Abgesehen davon klafften zwei große Schnitte in der Leinwand, der eine über dem eigentlich so hell leuchtenden Bauch der „Madonna“, der andere verlief quer über ihren Hals, als hätte jemand den Kopf vom Körper trennen wollen. Dort, wo die Schnitte verliefen, klaffte die Leinwand auseinander und legte den Blick auf den dunklen Hohlraum hinter der Leinwand frei, als würde man in Wunden blicken, die noch nicht angefangen hatten zu bluten.

      „Ein Anschlag, gestern am Abend, kurz bevor sie die Kunsthalle schließen wollten. Ist das nicht wahnsinnig? Ich meine, wer tut so etwas? Sieh dir das an, da wird wohl nicht mehr viel zu retten sein.“

      Anja war jetzt zum Bett gekommen und hatte sich neben sie gesetzt. Sie legte Carla vorsichtig eine Hand auf den Arm, als sie jetzt in Carlas erschrockenes, bleiches Gesicht blickte.

      „Ich weiß, was dir dieses Bild bedeutet“, sagte sie behutsam, als sie die Tränen über Carlas Gesicht laufen sah. „Hör mal, ich meine, das weißt du bestimmt, aber sie schreiben hier, dass es noch vier andere Bilder von der „Madonna“ gibt. Sie ist also eigentlich nicht wirklich zerstört.“

      Carlas Stimme klang leise und belegt, als sie jetzt fragte: „Weiß man, wer es gewesen ist?“

      „Nein, anscheinend noch nicht. In dem Artikel steht, die Überwachungskamera habe jemanden bei dem Anschlag gefilmt, der komplett schwarz angezogen war und eine Wollmütze übers Gesicht gezogen hatte. Vom Körperbau her geht man wohl davon aus, dass es entweder ein sehr schlanker, eher kleiner Mann war oder eine Frau. An der Kasse ist denen anscheinend niemand aufgefallen, der ganz in schwarz gekleidet war, aber die Polizei meint, dass der Täter sich auch auf der Museumstoilette umgezogen haben könnte, damit sich eben niemand an seine Kleidung erinnert. Auf jeden Fall war er wohl einfach zu schnell. Das Ganze muss in Sekunden passiert sein, und genau so schnell war er auch schon wieder draußen.“

      „Oder sie“, war alles, was Carla dazu sagen konnte.

      Carla war den Vormittag über wie betäubt und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie überlegte, Annabell anzurufen, entschied sich aber schnell dagegen. Sie durfte jetzt auf keinen Fall mit ihr und dieser Sache in Verbindung gebracht werden. Dass es Annabell gewesen war, hatte Carla beim ersten Blick auf das Foto in der Zeitung gewusst.

      Im Laufe des Nachmittags beruhigte sich Carla ein wenig. Anja kümmerte sich rührend um sie, besorgte alle Zeitungen, die sie finden konnte und die etwas über den Vorfall berichteten, und behandelte Carla den Rest des Tages wie eine Kranke.

      Anja hatte recht. Es gab noch vier weitere Bilder von der „Madonna“. Munch hatte sich lange und intensiv mit der „Madonna“ beschäftigt, so dass schließlich fünf gemalte Versionen der „Madonna“ entstanden waren, und eine davon hatte Carla unzählige Male betrachtet, so oft, dass sie nicht einmal hätte schätzen können, wie oft. Zwei weitere Gemälde befanden sich in Oslo, eines im Munch-Museum, das andere in der Osloer Nationalgalerie. Die zwei anderen Gemälde waren, soweit Carla sich erinnern konnte, im Privatbesitz. Sie war sich nicht mehr ganz sicher und klickte sich zwischen Bergen von Zeitungen auf Anjas Schreibtisch durch ein paar Internetseiten. Tatsächlich, zwei der Madonnen waren im Privatbesitz, und Carla stellte fest, dass es nicht sonderlich schwierig war herauszufinden, wer diese Besitzer waren. Natürlich nicht. Bei Gemälden dieser Größenordnung war es ein Leichtes, etwas über ihren Verbleib herauszufinden, dafür musste man sich noch nicht einmal in der Kunstwelt auskennen.

      Auch Anja las sich durch diverse Zeitungsartikel, die meisten Zeitungen hatten heute Morgen darüber berichtet. Carla wusste, dass das Bild an sich für Anja keine große Bedeutung hatte, aber durch Carlas Bestürzung hatte es nun doch eine gewisse Bedeutung für sie bekommen. Außerdem schien Anja, je mehr sie las, immer faszinierter von der Sache zu sein. Immer wieder las sie Carla aus den Zeitungsartikeln vor. Viele Zeitungen hatten den Vorfall dazu genutzt, ihre Artikel noch mit ein bisschen Hintergrundwissen über das Thema „Kunstattentate“ auszuschmücken.

      „Was sind das für Menschen?“, hatte Anja irgendwann entgeistert gefragt. "Ich meine, was haben sie davon, irgendein millionenschweres Kunstwerk zu zerstören? Außerdem steht hier, dass sie sowieso so gut wie immer direkt nach der Tat geschnappt werden, also was soll so was dann?“

      Ja, was sollte das eigentlich, das war Carlas Ansicht nach eine ziemlich gute Frage.

      „Ich weiß es nicht“, antwortete Carla müde. „Entweder sind die Leute absolut verrückt, oder sie zerstören die Kunstwerke quasi aus Versehen, hat es auch schon gegeben. Und in den wenigen Fällen, über die ich gelesen habe, waren die Leute nicht nur ein bisschen durcheinander, sondern wirklich verrückt. Rembrandts „Nachtwache“ in Amsterdam wurde ein paar Mal angegriffen, ich glaube einer der Täter war schizophren und hielt sich für Rembrandts Sohn.“

      „Wie hat er es gemacht?“, wollte Anja wissen.

      „Auf das Bild eingestochen und es zerschnitten, ein anderer hat, glaube ich, Schwefelsäure drauf gesprüht.“

      Carla wurde unbehaglich zumute. Sie musste schlucken, als sie merkte, wie nah das alles beieinander lag. Da brauchte man nur einen kurzen Blick ins Internet oder in irgendein Kunstbuch über Rembrandt zu werfen, und schon konnte man sich inspirieren lassen, wie man ein Kunstwerk möglichst schnell und effektiv zerstörte.

      „Die anderen kriegen gar nicht so richtig mit, dass das überhaupt ein Kunstwerk sein soll, was sie da gerade kaputt machen. Ich meine diese Beuys-Geschichten kennst du doch bestimmt. Irgendwann in den Siebzigern haben zwei Putzfrauen gleich eine ganze Badewanne von Beuys sauber gemacht und geschrubbt, die mit irgendeinem Zeug von ihm gefüllt war. Und das Beste war, dass sie die Wanne danach noch zum Gläserspülen benutzt haben. Und dann hat irgendein Hausmeister, oder war es auch eine Putzfrau, weiß ich nicht mehr so genau, auch noch eine ganze „Fettecke“ von Beuys gleich komplett weggewischt. Na ja, Beuys konnte ich sowieso noch nie ausstehen.“

      „Ich weiß“, sagte Anja jetzt und grinste Carla an.

      „Ja“, sagt Carla nur und konnte jetzt auch nicht anders als Anja entgegen zu lachen, in dem Gefühl, unendlich froh zu sein, dass Anja in diesem Moment bei ihr war.

      Der Rest des Wochenendes verging ruhig. Weder Carla noch Anja hatten Lust auszugehen, und den Sonntag verbrachten sie überwiegend in Anjas Wohnung, abwechselnd im Bett oder auf dem Sofa. So