Michael Stuhr

DIE NOVIZEN


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      Flockis Antwort, wenn er denn eine gab, hörten die beiden nicht mehr. Nach einem hastig hingeworfenen "Danke!" hatte Gunther sich wieder hinter Muckels Lenkrad geklemmt und die Tür zugeknallt. Der kleine Wagen machte einen wilden Hopser, als er anfuhr, und Augenblicke später bogen sie in die Seitenstraße ein, die zwar an den Rändern von Gebüsch und Unkraut überwuchert, aber sonst in einem erstaunlich guten Zustand war.

      Gunther fuhr zu schnell, und Muckels Karosserie dröhnte auf dem Kopfsteinpflaster. Es ging an einem Neubau vorbei, auf dessen Garagenhof zwei Ball spielende Kinder innehielten, und dem Wagen neugierig hinterherschauten.

      "Mami, Mami! Guck mal, ein Auto!", meinte Julia mit künstlich hoch geschraubter Stimme und setzte noch ein im tiefsten Steinkohlenbass gebrummtes "Nicht wahr, Flocki?" drauf.

      Gunther musste grinsen und sah seine Partnerin belustigt an. Fast augenblicklich war seine schlechte Laune verflogen und er fuhr etwas langsamer. Das war es, was Julia hatte bezwecken wollen und nun entspannte sie sich wieder.

      "Wenn wir das Haus pachten", meinte Gunther, "werden wir uns wohl einen Geländewagen kaufen müssen."

      "Wieso?" überschrie Julia das Rasseln der Heckklappe. "Geht doch prima!"

      "Denk mal an den Winter!" Gunther ließ den Wagen vorsichtig ein steiles Gefälle hinabrollen, das in der Senke sofort in eine ebenso steile Steigung überging.

      "Winterreifen, Schneeketten", schlug Julia vor. Sie dachte überhaupt nicht daran, sich ohne Not von ihrem Muckel zu trennen. Es fraß zwar an ihrem Öko-Gewissen, dass der Katalysator wahrscheinlich nicht mehr so richtig funktionierte, aber Bäume gab es viele, Muckel jedoch nur einmal.

      Im Moment war es sogar so, dass die Bäume die Sicht auf die Landschaft komplett verstellten. Die schmale Straße führte durch dichten Wald und das Laubdach versperrte den Blick auf den Himmel fast vollständig. Dennoch war es nicht dunkel unter den Bäumen. Vereinzelt drang die Sonne durch die Blätter, und die Straße vor ihnen war mit einem wirren Muster aus goldenen Flecken gesprenkelt.

      Je weiter die Fahrt ging, desto besser gefiel Julia die Umgebung. Nur die Strommasten, an denen auch eine Telefonleitung befestigt war, deuteten darauf hin, dass in dieser Wildnis vielleicht wirklich irgendwo ein Haus liegen mochte. Sie hoffte jetzt schon, dass sie den Zuschlag erhalten würden. So einsam zu wohnen, das hatte sie sich schon immer gewünscht. Fort von der Stadt, von den so genannten Freunden, von der Familie, den Klienten - von allem, was in ihrem Leben schief gegangen war. Endlich die Erinnerung hinter sich lassen, nur noch sie selbst sein, und sich in einen Zauberwald zurückziehen, unerreichbar, wie auf einem anderen Planeten.

      "Verdammt weit draußen." Gunther sah die Sache ein wenig anders. Er musste schließlich jeden Tag zur Arbeit in die Stadt. Er sah auf den Tacho. "Schon achtundvierzig Kilometer."

      "Weniger", korrigierte Julia schnell. "Durch die Suche haben wir einen ganz schönen Umweg gemacht."

      "Stimmt", stellte Gunther nachdenklich fest. "Bergler fährt jeden Tag über sechzig Kilometer zur Firma. Das ist wohl der Preis für eine ruhige Wohnlage. - Da wäre ich dann mit, sagen wir mal, vierzig Kilometern noch ganz gut dran."

      "Schauen wir mal, wie das Haus überhaupt aussieht." meinte Julia. "Wenn es nun eine totale Bruchbude ist ..."

      In diesem Moment tauchte auf der linken Seite ein asphaltierter Weg auf, der noch tiefer in den Wald hineinführte. An der Einmündung stand ein kleiner Bretterverschlag. - Wohl das Müllhäuschen, von dem der Mann gesprochen hatte.

      "Schau mal, hier kommt sogar die Post vorbei." Gunther zeigte erfreut auf den angerosteten Hausbriefkasten, der auf die Bretter aufgeschraubt war.

      Die Holzmasten bogen jetzt ebenfalls von der alten Hauptstraße ab. Die Leitungen überquerten einen hohen Maschendrahtzaun und folgten dann dem schmalen Weg. Offenbar gab es nur ein einziges Haus hier in der Gegend.

      Gunther hielt den Wagen an und stieg aus, weil ein einfaches Tor aus Stahlrohren und Maschendraht die Zufahrt versperrte. "Vorsicht, bissiger Hund!", warnte ein verblichenes, mit dünnem Moos behaftetes Blechschild. Gunther ging auf das Tor zu und drückte dagegen. Es war nicht verschlossen und gab überraschend leicht nach.

      "Gehört das ganze Gelände etwa dazu?", fragte Julia, als sie durch das Tor gefahren waren, und von einer Mühle noch nichts zu sehen war.

      "Mehr als drei Hektar, hat dieser Sander gesagt."

      "Wie viel ist das - ein Hektar?"

      "Ganz schön viel, jedenfalls." Gunther hatte am Morgen mit dem Vermieter gesprochen. `Ren.bed. Waldhs. Auf gr. Grdstck. in eins. Lg. günst. zu verp.´ hatte in der Zeitungsanzeige gestanden. Dass es dabei um eine alte Mühle mit einem Riesengrundstück ging, hatte er erst am Telefon erfahren, und dann waren sie natürlich sofort gestartet.

      Plötzlich trat Gunther fluchend auf die Bremse und lenkte den Wagen scharf nach rechts. Julia schreckte auf und suchte unwillkürlich nach Halt, als ein dunkelgrüner Jaguar mit hoher Geschwindigkeit aus der Biegung kam und mit unvermindertem Tempo dicht an dem Fiesta vorbei rauschte. Undeutlich konnte sie das verkniffene Gesicht des Fahrers erkennen. Die junge Frau auf dem Beifahrersitz war platinblond und auf dem Rücksitz saßen zwei ebenfalls hellblonde Kinder.

      "Da hat aber einer schlechte Laune!" Gunther schaute dem Wagen im Rückspiegel kopfschüttelnd nach.

      "Will ich ja wohl hoffen, dass der nicht immer so fährt", meinte Julia. Ihre Hände zitterten leicht. Sie hatte sich schon eingeklemmt in den Trümmern des Wagens gesehen. Wäre der Fahrer des Jaguar nur zwanzig Zentimeter weiter herübergekommen ...

      Gunther fuhr wieder an und sofort nach der Kurve wichen die Bäume zurück. Eine Lichtung tat sich auf - ein dreieckiges Stück Grasland mitten im Wald. Frei ging der Blick weiter in die Senke hinab, in der eine Ansammlung unterschiedlicher Gebäude stand. Aus der bergseitigen Spitze des Dreiecks perlte ein Wasserlauf herab, sammelte sich in einem großen, birkenumstandenen Mühlteich, floss an der Mühle, einem großen, finsteren Bruchsteinbau, vorbei, und verschwand als träger, breiter Bach hinter dem halb verfallenen Mühlengebäude. Der Hof war mit Ziegeln gepflastert und auf der anderen Seite stand ein solide aussehender, allerdings vom Wetter ausgeblichener Bretterschuppen.

      Gunther stoppte den Wagen auf der Kuppe. "Phantastisch", sagte er nur und zeigte auf das Fachwerkhaus neben der Mühle, das dem Eigentümer offenbar als Wohnung diente.

      Julia konnte ihm nur zustimmen. Zwar war das Weiß der Ausfachungen mit der Zeit zu einem schmutzigen Grau geworden, die grüne Farbe an Tor und Fensterrahmen blätterte ab, und die Sprossenfenster waren blind vor Staub und altem Schmutz. - Aber da war nichts, was man mit Farbe und Putzmittel nicht wieder hätte in Ordnung bringen können. Das Dach war einwandfrei, vor dem Haus gab es einen verwilderten Bauerngarten und auf der Südseite kletterte ein Dickicht tiefgrüner Weinranken bis zur Dachrinne empor. Julia verliebte sich auf den ersten Blick in das Haus. Selbst das auf dem Hof herumliegende Gerümpel störte kaum und stellte in ihren Augen kein wirkliches Problem dar.

      Irgendetwas fiel Julia an dem umgebenden Gelände auf, sie schaute genauer hin. Sicher, das war es! - Das Areal war komplett mit Gras überwachsen, aber dennoch zeichneten sich in dem Grün unterschiedlich gefärbte Linien und Flächen ab, so, als würden unsichtbare Straßen oder Kanäle das Grundstück durchziehen. Sie machte Gunther darauf aufmerksam. "Gebäudereste", meinte der. "Da haben auch mal Häuser gestanden und die Grundmauern liegen noch dicht unter der Oberfläche."

      Das war logisch, fand Julia, und gab sich wieder ganz der Betrachtung des Wohnhauses hin. - So hatte sie wohnen wollen, solange sie denken konnte.

      Gunther ließ den Wagen langsam auf den Hof rollen und schaute sich vorsichtig um. Er hatte das Schild an der Einfahrt nicht vergessen. Da aber nirgends ein Hund zu sehen war, stiegen er und Julia schließlich aus und gingen zum Tor des Wohnhauses hinüber. Halb in der Erwartung, wütendes Gebell aus der Deele zu hören, schlug Gunther drei Mal hart an das hohe Tor, aber nichts geschah.

      "Vielleicht ist er weggefahren", meinte Julia. Sie dachte an die Familie in dem Jaguar.

      "Er