Michael Stuhr

DIE NOVIZEN


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raus." Irmis Stimme war schwach, behaglich kuschelte sie sich wieder in das Kissen und schloss die Augen.

      Der Mann atmete verhalten tief ein. Sein Herz raste und seine Handflächen waren feucht. Ein Kilometer noch, dann würden sie auf dem Grundstück sein - nur eine Minute! Langsam und mit äußerster Vorsicht lenkte er den Wagen an den Dellen und Schlaglöchern in der alten Straße vorbei. Draußen herrschte jetzt undurchdringliche Finsternis. Weit vor dem Wagen wechselten im Scheinwerferlicht ein paar Rehe von einem Waldstück in das andere. Irmi konnte sie nicht sehen, sie war wohl wieder eingeschlafen.

      Als das Tor in Sicht war, bremste der Mann vorsichtig ab, bog ein und hielt an. Lautlos zog er die Handbremse an, dann brachte er den Schalter der Innenbeleuchtung in die 'Aus'-Stellung. - Kein Risiko eingehen! Nicht, dass das kleine Luder im letzten Moment doch noch aufwachte. Nach einem kurzen, prüfenden Blick auf das Mädchen öffnete er leise die Tür und stieg aus.

      Geblendet vom Licht der eigenen Scheinwerfer kam der Mann zu seinem Wagen zurück. Die Fahrertür hatte er einen Spalt weit aufgelassen, um Irmi nicht durch das Geräusch des Schließens zu wecken. Jetzt stand das Tor zu seinem Grundstück weit auf. In wenigen Augenblicken würde er mit seiner Beute in Sicherheit sein.

      Der Mann stieg ein und schloss die Tür. Jetzt kam es auf ein bisschen Krach nicht mehr an. Triumphierend sah er zur Seite, aber da durchfuhr es ihn wie ein Blitzschlag: Der Beifahrersitz war leer, die Tür offen ...

      Ohne zu überlegen legte der Mann den Rückwärtsgang ein und gab Vollgas. Die Beifahrertür schlug so heftig auf, dass die Scharniere knackten und fiel dann federnd ins Schloss. Der Mann achtete nicht darauf und schlug die Lenkung voll ein. Rasend schnell strich der Lichtkegel der Scheinwerfer die Böschung entlang. - Sie durfte nicht entkommen! Er hatte sie entführt und betäubt. Sie kannte ihn und sie kannte seinen Wagen - und jetzt kannte sie sogar die Einfahrt. Wenn die kleine Schlampe es schaffte, sich bis zu irgendeinem Haus durchzuschlagen, dann war er geliefert.

      Der Mann kniff die Augen zusammen. Da - abseits der Straße waren zwei helle Flecken zu erkennen, die sich rasend schnell auf und ab bewegten. Das verdammte Biest war gerissen; es lief nicht auf der Straße, es rannte auf der Böschung entlang, und nur der Zaun hatte verhindert, dass sie schon im Wald verschwunden war.

      Wenn sie jetzt die Straßenseite wechselte, war er geliefert, das wusste der Mann. Dort gab es keinen Zaun und er hatte keine Taschenlampe im Wagen. Innerhalb von Sekunden würde der Wald sie verschlucken und bei dieser Dunkelheit würde er sie niemals finden.

      "Geliefert!" das Wort beherrschte sein ganzes Denken. "Wenn sie entkommt, bin ich geliefert!" Mit aufkreischenden Reifen beschleunigte der 220er und war nach wenigen Sekunden in Höhe der Fliehenden. "Bleib stehen!", schrie der Mann aus dem Fenster. "Bleib doch stehen! Was hast du denn?"

      "Hauen Sie ab!" Irmi hielt kurz an. "Sie haben mir was gegeben, damit ich einschlafe!" schrie sie außer Atem von der Böschung herab. "In den Pralinen war was drin!" Sofort rannte sie weiter.

      Schlaues Mädchen! Der Mann war immer noch sehr aufgeregt, aber jetzt konnte er wieder klar denken. Ein Grinsen überzog sein Gesicht. - Es sah ganz so aus, als würde sie ganz von selbst in die Falle rennen.

      Der Mann hielt den Wagen knapp hinter der Flüchtenden, so, dass er sie im Licht der Scheinwerfer sehen konnte. Gleich musste sie an die Stelle kommen, wo der Zaun einige Meter von der Straße zurückwich, und dann im rechten Winkel wieder vorsprang - An genau dieser Stelle würde er sie festnageln.

      Jetzt war es so weit. Irmi hielt sich in der Nähe des Zauns und verschwand zwischen den Büschen. Der Mann stoppte mitten auf der Straße, riss die Handbremse an und sprang aus dem Wagen.

      Irmi sah den Zaun nicht und prallte in vollem Lauf dagegen. Die Schuhe, die sie in der Hand getragen hatten, flogen davon und der Anprall an das nachgiebige Geflecht schleuderte sie zu Boden. Rasch wollte sie sich aufrichten, aber da war der Mann schon über ihr und umklammerte mit der Rechten ihren Arm.

      "Hilfe! Ah - Sie tun mir weh!", schrie das Mädchen aus Leibeskräften und holte tief Luft.

      "Ruhig jetzt!", herrschte der Mann sie an und riss sie hoch. Drohend hob er die Hand. "Du kommst jetzt mit!"

      Irmi versuchte, sich loszureißen, aber der Mann war viel stärker. Da gab sie plötzlich nach und ließ sich widerstandslos zwei Schritte weit führen. Dann blieb sie aber doch wieder stehen.

      "Weiter!" Der Mann ruckte an dem Arm.

      "Moment noch!" Irmi wollte sich bücken.

      "Was ist denn jetzt wieder los?" Der Mann zerrte sie ungeduldig weiter.

      "Meine Schuhe!"

      Das war in den Augen des Mannes mal wieder typisch Frau. Er überlegte einen Moment. Liegen lassen konnte er die hellen Schuhe hier sowieso nicht. - Wenn sie am Tag jemand sah - Sollte sie sie doch ruhig mitnehmen. Also ließ er es zu, dass das Mädchen sich bückte.

      Einen Sekundenbruchteil später traf ihn der Absatz mit voller Wucht am Kopf. Vor Schmerz wurde es ihm einen Moment lang schwarz vor Augen. Sein Griff lockerte sich ein wenig, und fast wäre das Mädchen ihm wieder entwischt, aber noch bevor sie ein zweites Mal zuschlagen konnte, fasste er nach und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Dann nahm er selber den zweiten Schuh auf und führte das nach vorn gebeugte Mädchen zum Wagen. Jetzt war er gewarnt und ließ sie nicht mehr los, ehe sie durch die Tür des Bunkers unter seiner Garage gegangen waren.

      Irmi hatte Angst und sie schämte sich entsetzlich. Der Mann hatte sie so fest auf einen Stahlrohrsessel gefesselt, dass sie noch nicht einmal die Beine bewegen konnte. "Ich möchte nur ein paar Bilder von dir machen." erklärte er gerade mit väterlichem Lächeln. "Portraits, um genau zu sein. - Weißt du eigentlich, dass du ein sehr hübsches Gesicht hast?"

      "Lassen Sie mich doch gehen. - Ich sage auch nichts!", bat Irmi mit vor Angst geweiteten Augen. "Bitte!"

      "Natürlich weißt du das", fuhr der Mann versonnen fort, ohne auf Irmis Worte einzugehen. Er nahm die Kamera hoch und ein Blitz zuckte auf. "Ich möchte wetten, dass die Kerle wie verrückt hinter dir her sind - Erzähl mir davon." Er bereitete den Apparat für die nächste Aufnahme vor und legte ihn zur Seite.

      "Was wollen Sie denn bloß von mir?"

      "Hörst du mir nicht zu? - Ich will wissen, was du mit den Männern machst, die du heimlich triffst, in dunklen Kellerecken oder auf dem Boden, wo es keiner sieht."

      "Ich mach sowas nicht! Lassen sie mich doch gehen. Ich sag' auch bestimmt nichts."

      "Du sollst doch nicht lügen." Von Irmis ängstlichem Blick verfolgt nahm der Mann eine Lötlampe vom Regal, schüttete aus einer Flasche ein wenig Benzin auf die Vorglühpfanne und entzündete es mit seinem Feuerzeug. Als das Gerät heiß genug war, drückte er ein paar Mal den Pumpenhebel nieder. Sofort brach eine gelbliche Flamme aus dem Brenner hervor, die nach wenigen Sekunden zu einer bläulichen, handspannenlangen Feuerlanze wurde. Der Mann pumpte nochmals Luft in den Tank, damit die Flamme stabil blieb; dann stellte er das Gerät nahe vor Irmis linkem Bein auf, so dass sie schon etwas von der Hitze spüren konnte.

      Der Mann nahm die Kamera wieder zur Hand. "Kennst du dich in Geometrie aus, Irmi?"

      Das Mädchen hatte entsetzt auf die Flamme gestarrt, aber jetzt sah es kurz zu ihm auf. "Was - was wollen Sie bloß von mir?"

      "Das ist keine Antwort, Irmi", stellte der Mann mit leichtem Tadel in der Stimme fest. "Wo Geometrie doch so wichtig ist." Er konnte ein Kichern nicht unterdrücken. "Lebenswichtig, möchte ich sagen. - Was meinst du wohl, wird passieren, wenn ich die Lötlampe, sagen wir mal, zehn Grad weiter auf dich zu drehe?"

      "Was wollen Sie denn bloß von mir?" Irmi hatte kein Wort verstanden, aber das irre Kichern hatte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken gejagt. Sie hatte den Kopf so weit wie möglich nach vorne gebeugt und starrte angstvoll auf die bläuliche, zischende Flamme, die sie bedrohte. Sie begriff, dass der Fremde etwas unsagbar Schreckliches mit ihr vorhatte - etwas viel Schlimmeres, als sie zunächst gedacht hatte - und dass sie ihm hilflos ausgeliefert war.

      Ein neues Blitzlicht zuckte