Jay Baldwyn

Der Fluch von Capatineni


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Ekel verzerrtem Gesicht langte die Gräfin nach einem Tuch. Beim Abwischen des Blutes erschien ihr die Haut glatter und frischer, um nicht zu sagen: jugendlicher. Ihre treueste Dienerin und Kammerfrau Harild bestätigte sofort den unglaublichen Effekt. Fortan glaubte die Gräfin, das Wundermittel der ewigen Jugend und Schönheit gefunden zu haben: Menschenblut! Doch es musste rein sein, wie man es nur bei Jungfrauen fand.

      Dakaria Udoi war bereits seit drei Tagen wieder bei ihrer Familie. Ihr Vater Razvan strafte sie mit Nichtachtung, und die Mutter Mioara reagierte hilflos. Dakaria stellte keine Ansprüche und nahm keinerlei Nahrung zu sich. Dass sie nachts auch nicht schlief, bekam keiner in der Familie mit.

      Während Razvan tagsüber die Schafe hütete und Petre sich um die Ziegen kümmerte, half Dakaria ihrer Mutter beim Hausputz oder machte sich anderweitig nützlich. Nur das Haus durfte sie nicht verlassen, damit sie von den Dorfbewohnern nicht gesehen wurde. Abends las sie ihren Geschwistern, Lacrima, Sinka und Traian Geschichten aus einem alten, zerfledderten Buch vor oder erzählte aus dem Stegreif typisch rumänische Legenden.

      »Habe ich euch schon die Geschichte über das Märzchen/mărţişor erzählt?«, fragte sie zum Beispiel.

      »Ja, bestimmt schon zehnmal«, maulte Traian.

      »Das macht nichts. Wir hören sie gerne zum elften Mal«, sagte Sinka, »nicht wahr, Lacrima?«

      Die Kleinste nickte heftig.

      »Also, es begab sich vor langer Zeit, dass die Sonne als junges Fräulein auf die Erde herabstieg«, begann Dakaria, »sie hatte nicht vor, lange hierzubleiben, doch ein furchtbarer Drache nahm sie gefangen, um sie in seiner Burg einzuschließen.«

      »War das unsere hier auf dem Berg?«, fragte Lacrima.

      »Nein, ich glaube nicht«, lächelte Dakaria.

      »Gott, bist du dumm! Wie kann man so einen Quatsch nur für bare Münze nehmen?«, beschwerte sich Traian, »die Sonne ist viel zu groß, um in eine Burg eingesperrt zu werden.«

      »Sei still! Du musst ja nicht zuhören. Wir wollen wissen, wie es weitergeht«, sagte Sinka.

      »Ja, du hörst doch, die Sonne hat die Gestalt eines Mädchens angenommen«, fügte Lacrima hinzu.

      »Wie soll denn das gehen?«, gab Traian nicht auf.

      »Sei nicht so streng mit deinen Schwestern«, rief ihn Dakaria zur Ordnung, »in Märchen und Sagen ist alles möglich. Da verwandeln sich Menschen in Tiere und umgekehrt. Also, es wurde auf der ganzen Welt stock-finster. Alle Menschen waren traurig, und die Kinder wollten nicht mehr spielen. Ein besonders mutiger, junger Mann, der sich in das strahlende Fräulein verliebt hatte, kämpfte mit dem Drachen und bezwang ihn. Indem er das Mädchen befreite, konnte die Sonne wieder in den Himmel aufsteigen. Doch der Kampf hatte ihm schwere Wunden beigefügt, sodass er vor der Drachenburg im Sterben lag. Sein Blut färbte den Schnee rot.

      An dieser Stelle sprossen später die Boten des Frühlings – die Schneeglöckchen. Zur Erinnerung an den Helden binden die Menschen jeden Frühling die Schneeglöckchen mit einer roten Schnur zusammen, als Symbol der Tapferkeit und des Frühlingsbeginns. Seitdem verschenkt man am 1. März die Märzchen, und Mädchen und Frauen tragen sie stolz als Glücksbringer an ihrer Brust.«

      Die kleine Lacrima klatschte begeistert in ihre Patschhändchen. »Ja, ich will im Frühling auch Märzchen pflücken!«

      »Bevor Dakaria noch weiteren Unsinn erzählt, gehe ich lieber schlafen«, sagte Traian, »Tata und die Schafe haben mich heute ganz schön herumgejagt, uah …«

      »Aber du erzählst uns noch eine Geschichte«, bettelte Sinka.

      »Also gut. Ihr kennt doch den kleinen Wald am Ende des Dorfes. Dort steht eine über hundert Jahre alte Buche, deren Blätter niemals abfallen. Sie ändern nur ihre Farbe und trocknen aus, bis die neuen nachwachsen. In dem hohlen Baum soll es eine Quelle geben, deren Wasser die Menschen früher getrunken haben, denn es heilte viele Krankheiten. Deshalb nennt man sie auch „Die verzauberte Buche“.«

      »Hör sofort auf, den Kindern mit deinem Hexenkram den Kopf zu verkleistern!«, rief Razvan böse von seiner Lagerstatt aus, »und ihr macht, dass ihr in die Betten kommt! Sonst versohle ich euch den Hintern. Und lasst euch nicht erwischen, in den verfluchten Wald zu gehen. Dort sind schon mehr als ein Kind verschwunden.«

      Die Geschwister folgten brav und zogen sich die Decke über den Kopf. Dakaria ging zu ihrer Mutter in die Küche.

      »Leg dich doch auch hin, Mädchen«, sagte Mioara, »du warst heute sehr fleißig und musst doch müde sein.«

      »Ach, Mama, ich brauche kaum Schlaf.«

      »Sag mal, stimmt es, was dein Vater sagt, du seiest nachts an den Fluss gegangen, um bis Mitternacht auf den Teufel zu warten?«

      »Mama, um dem Teufel zu begegnen, muss man nicht nachts zum Fluss gehen. Es reicht, ihn an einer Wegkreuzung laut zu rufen. Er freut sich nämlich, in die Geheimnisse der Hexerei eingeweiht zu werden. Man kann sich auch an einem unreinen Ort aufhalten, wenn man Höllenhilfe erhalten will.«

      »Kind, du machst mir Angst. Das hast du doch hoffentlich nicht getan?«

      »Nein, und ich habe auch nicht bei Vollmond mit ihm getanzt. Ich sage doch, ich bin eine weiße Hexe und beschäftige mich nicht mit schwarzer Magie. Aber ich halte mich an das Sprichwort: „Sprich nicht schlecht über den Teufel, denn du weißt nicht, wem du später gehören wirst“.«

      »Ich bin jedenfalls froh, dass du dem Rat deines Bruders folgen und auf der Burg arbeiten willst. Es wird Zeit, dass du dem Dorf mit seinem Aberglauben den Rücken kehrst.«

      »In Capatineni und Cheiani ist es nicht anders als in anderen Dörfern. Und was mich dort oben erwartet, daran wage ich nicht zu denken. Wenn es stimmt, was man über die Gräfin erzählt … Doch ich werde mich zu wehren wissen. Mit mir wird sie kein so leichtes Spiel wie bei den anderen haben.«

      »Mach dich nicht unglücklich, Kind. Mit den hohen Herrschaften ist nicht zu spaßen. Sie haben die Macht und viele ihnen treu ergebene Helfer. Für die sind wir Schlachtvieh und nicht mehr.«

      »Mach dir keine Sorgen, Mama. Was kann mir schon passieren? Schließlich bin ich doch schon tot, wie tata meint.«

      »Du darfst das deinem Papa nicht übel nehmen. Er ist von der Situation überfordert und sorgt sich um seine Familie. Und du musst zugeben, dass deine Wiederkehr mehr als seltsam ist.«

      »Man kann sich sein Schicksal eben nicht aussuchen, Mama. Ihr so wenig wie ich. Und jetzt gönn dir etwas Ruhe! Damit du Kraft für morgen sammelst.«

      Drei Tage später war es dann so weit. Zwei Diener und eine Dienerin begleitet von Wachen gingen von Haus zu Haus und verlangten, die halbwüchsigen, jungfräulichen Töchter zu sehen. Es ging dann weniger darum, ob die Eltern bereit waren, ihre Kinder freiwillig herauszugeben, sondern ob die Mädchen geeignet schienen und vom Aussehen her nicht die Augen der Gräfin beleidigten. Dementsprechend gab es viele heiße Tränen und herzzerreißende Abschiedsszenen.

      Dakaria wurde aufgrund ihres ansprechenden Äußeren sofort herangewunken. Mioara umarmte ihre Tochter ein letztes Mal und sprach ihr Mut zu. Lacrima und Sinka weinten bitterlich, und selbst Traian kämpfte mit den Tränen, als wüsste er, dass er die große Schwester niemals wiedersehen würde. Petre klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.

      »Du machst das schon! Und falls es dir zu bunt wird, gib Bescheid! Dann werde ich alles daran setzen, dich da rauszuholen.«

      »Danke, aber überschätz deine Mittel nicht.«

      Auf dem Dorfplatz hatten sich schon mehrere Mädchen versammelt, die streng bewacht wurden. Sie wurden auf einen Karren verfrachtet, der noch die Dörfer Poienari und Cheiani anfuhr. Bald saßen die Mädchen dicht gedrängt, sodass keine Maus mehr zwischen ihnen Platz gefunden hätte. Viele drückten ihr Bündel mit einfacher Kleidung und etwas Proviant von Mama an sich.

      Dakaria kannte die eine oder andere aus Capatineni vom Sehen. Nur mit Mitica, ebenfalls einer Schäferstochter,