Klaus Melcher

Wie im Paradies


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kam das graue Kostüm näher, blieb vor der Gruppe stehen.

      „Was ist hier los?“, fragte sie und schien selbst über ihre brüske Stimme erschrocken.

      Sie, die immer um Sanftheit bemüht war, die jedem Heimbewohner das Gefühl geben wollte, ein besonders geliebtes Familienmitglied zu sein, hatte sich einen Augenblick vergessen. Da half auch nicht, dass sie gleich wieder ein honigsüßes Lächeln aufsetzte und geradezu säuselte: „Ich hoffe doch, es ist nichts Ernstes.“

      Der ständig gepflegte und polierte Lack der Milde hatte einen Kratzer bekommen, einen hässlichen, nicht übersehbaren Kratzer.

      Noch hatte niemand ihr geantwortet, doch sie erkannte sofort, das Problem war Frau Evers – und natürlich ihre Busenfreundin, die Frau Hohenstedt.

      Obgleich ihr durchaus nicht danach zumute war, bezwang sie sich und beugte sich zu der Evers hinab, legte ihr besänftigend, fast liebevoll die Hand auf die Schulter und versuchte ihr beim Aufstehen zu helfen und sie in ihr Zimmer zu führen.

      „Nein! Da bekommen mich keine zehn Pferde hinein!“, protestierte Frau Evers und klammerte sich an ihrem Hocker fest.

      „Bitte, Frau Evers.“

      Die Stimme des grauen Kostüms war wieder gewohnt sanft.

      „Man hat bei ihr eingebrochen“, erklärte eine der versammelten Frauen.

      „Um Gottes Willen, nein!“

      Das Kostüm konnte es nicht fassen und stieß die angelehnte Tür auf.

      Nach Einbruch sah das Appartement nicht aus. Der schmale Flur mit der Kitchenette war identisch mit allen anderen, vielleicht ein klein wenig ordentlicher, die Schubladen und Türen der Schränke waren allesamt geschlossen.

      Die Frauen folgten dem grauen Kostüm.

      Auch im Wohnzimmer deutete nichts auf einen Einbruch hin. Nichts war durchwühlt, alles lag, wie es schien, an seinem Platz.

      Frau Evers arbeitete sich durch die Frauentraube.

      „Das ganze Geld ist weg“, jammerte sie, „alles ist weg!“

      Wo sie es denn aufbewahrt hätte, wollte das Kostüm wissen.

      „Na hier im Zimmer, wo sonst?“

      Frau Evers beschrieb mit ihrem Arm einen großen Bogen, der das ganze Zimmer einschloss.

      „Und wo genauer? In einem Schrank oder wo?“

      Frau Evers sah das Kostüm erstaunt an. Natürlich hätte sie ihr Geld in einer Kassette verwahrt, und die hatte immer hier gestanden, und jetzt wäre sie nicht mehr da.

      Fromm war die Sache langweilig geworden, und er schob sich langsam rückwärts durch die Mitbewohner, die inzwischen den ganzen Raum füllten.

      Er glaubte nicht an einen Diebstahl, schon gar nicht an einen Einbruch. Die Tür war unversehrt, das sah man auf den ersten Blick, und sicher war das auch nicht dem Kostüm entgangen.

      Nichts im Zimmer deutete darauf hin, dass es durchsucht worden war. Blieb nur die Möglichkeit, dass der Dieb die offen herumstehende Kassette mitgenommen hatte, doch was sollte er damit?

      Hier besaß kaum jemand Bargeld. Man brauchte es nur außerhalb des Hauses, wenn man mal ins Café im Dorf oder nach Hameln fuhr.

      Noch bei und nach dem Abendessen beschäftigte der angebliche Diebstahl die Gemüter.

      Auch wenn niemand ernsthaft daran glaubte, der Verdacht war erst einmal da, und er betraf jeden. Jeder der Bewohner und vom Personal konnte in das Appartement eingedrungen sein und die Kassette an sich genommen haben.

      Auch wenn sie nur wenige Euros enthielt, Diebstahl blieb Diebstahl, und es war nicht angenehm, mit einem Dieb unter demselben Dach zu leben.

      Überall wurde getuschelt. Selbst die, die sich immer zurückhielten, die verächtlich auf die Klatschtanten und Stammtischredner herabsahen, einen unsichtbaren, aber umso spürbaren und unüberwindlichen Wall um sie zogen, wurden von dem Virus infiziert.

      Nicht, dass die bisherigen Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen aufgehoben worden waren und sie sich plötzlich an dem allgemeinen Getratsche beteiligten. Man blieb auch weiterhin unter sich, aber man diskutierte auf höherem Niveau, riet zur Besonnenheit, auch wenn man das Problem sehr ernst nahm.

      Wenn jemand sich näherte, der nicht dazu gehörte, sprach man – man könnte fast sagen - schulmeisterlich deutlich und belehrend, so als wollte man dem Eindringling eine Extralektion erteilen, ohne sich allerdings an ihn zu richten. Und der hatte das Empfinden, durch einen außergewöhnlichen Glücksfall Gesprächsbrocken oder mehr noch, wichtige Gedanken der ‚Weisen’ aufgeschnappt zu haben, die er dann auch gleich weiter trug.

      So bildeten sich durch diesen dummen Vorfall vier Gruppen, die sich argwöhnisch beobachteten und um einander herumstrichen.

      Da waren zum einen die Klatschtanten, eine Gruppe von etwa sieben bis zehn Frauen, die sich um Frau Evers scharten, immer wieder deren fürchterliche Erlebnisse durchhechelten und überlegten, wer alles für den inzwischen brutalen Überfall infrage kam.

      Natürlich hatte man bald die ersten Verdächtigen gefunden, wagte aber nicht offen die Namen auszusprechen, sondern beschränkte sich auf Andeutungen. Ein Wort hier, ein weiteres dort hingeworfen, eine scheinbar harmlose Frage gestellt, reichten. Wer es hörte, würde sich seinen Reim darauf machen können.

      Und dann gab es die Stammtischredner, allesamt überzeugte Anhänger der „Aktionsgemeinschaft für Deutschland“, die für jedes Problem die einfachsten Lösungen gefunden hatten. Sie würden den Staat retten, wenn man sie nur ließe oder wenigstens auf sie hören würde. Sie schlugen mit der Faust auf den Tisch, dass der Schaum aus dem Bierglas schwappte, steckten die Köpfe wie Verschworene zusammen, und ab und zu hörte man ein „Richtig!“ oder „Sage ich doch!“ und „Früher hätte man ganz anders durchgegriffen!“

      Meistens war man sich einig und begoss die Zustimmung mit einem kräftigen Schluck Bier.

      Dann waren da die, die sich aus allem heraushielten.

      Sie wollten nur ihre Ruhe haben, hielten nichts von Klatsch und Tratsch, auch nichts von den Biertischgesprächen. Sie zogen sich nach dem Essen in ihre Zimmer zurück oder gingen im Park spazieren. Weg, weit weg war wohl ihr vordringlicher Wunsch.

      Sie hielten sich zurück, äußerten keine Vermutung zur Täterschaft.

      Auch wenn sie diese ganze Angelegenheit für reichlich viel heiße Luft hielten und eigentlich meinten, darüber nur lachen zu können, hüteten sie sich doch, es öffentlich zu sagen. Womöglich hätte man sie gar selbst der Täterschaft verdächtigt.

      Und das wollten sie schließlich nicht riskieren.

      Die letzte Gruppe waren die so genannten ‚Weisen’. Sie war so heterogen, wie eine Gruppe es nur sein konnte, um noch als Gruppe bezeichnet zu werden. In ihr trafen die Bewohner der unterschiedlichsten Bildung und ehemaligen Berufe zusammen.

      Normalerweise waren sie Individualisten, die sich spontan in immer wieder wechselnden Gruppen zusammenfanden, wenn es besonderen Gesprächsstoff gab.

      Sie diskutierten kontrovers bis tief in die Nacht, auch konnte mal ein Teilnehmer der Runde ärgerlich das Lesezimmer verlassen, aber man machte es sich nicht einfach, seinen Standpunkt zu finden.

      Das Einzige, was sie grundsätzlich einte, war die Ablehnung von Vorurteilen und Verallgemeinerung.

      7. Gott bewahre, dass wir jemals so werden

      Die Veränderung trat kaum merklich ein.

      Nur wenn man sehr aufmerksam war und eine gehörige Portion Misstrauen besaß, fiel einem auf, dass Janoš den ganzen Vormittag mit zwei Handwerkern durch die Gänge eilte, mal hier, mal dort stehen blieb, mal diesem, mal jenem Handwerker etwas zeigte, eine Tür