Klaus Melcher

Wie im Paradies


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mit ihr gesprochen hatte, kann man nicht ‚kennen’ nennen. Und er hatte auch wenig Lust verspürt, sie kennen zu lernen. Beide, sie und ihre Freundin, hatten etwas an sich, das ihn störte.

      Doch jetzt tat sie ihm nur leid.

      Heimlich, damit sie es nicht merkte, beobachtete er sie, vergaß fast das Essen, beugte sich zu Gustav Preuss, um ihn auf das bedauernswerte Bild aufmerksam zu machen, aß nur mal einen Bissen, um seine Tarnung nicht aufzugeben.

      In Wirklichkeit sah er nur sie.

      Gut eine Viertelstunde saßen die beiden Frauen am Frühstückstisch, hatte sich die Hohenstedt dreimal nachgeholt. Sie hatte es aufgegeben, ihrer Freundin weiter zuzureden, es hatte ja doch keinen Sinn, und die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen schien sie schließlich ärgerlich zu machen.

      Akkurat faltete sie ihre Serviette und legte sie in ihre Serviettentasche, Frau Evers’ lag immer noch ungebraucht neben ihrem Teller.

      „Komm!“

      „Komm schon!“, wiederholte sie, als ihre Freundin nicht reagierte.

      „Mein Gott, bist du hier angewachsen?“ Jetzt war Frau Hohenstedt wirklich ärgerlich und fasste Frau Evers unsanft am Oberarm, so dass die zusammenzuckte, sich mühsam aufrichtete und ihren Stuhl so abrupt hinter sich schob, dass

      er fast umgefallen wäre.

      Einen Augenblick wandten sich aller Augen den beiden zu, erschrocken, ungläubig.

      Wie eine Gefangene schob Frau Hohenstedt ihre Freundin vor sich her, ohne jeden Anflug von Erbarmen.

      Erst als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, begannen zögernd wieder die Gespräche, klapperten wieder Geschirr und Bestecke.

      Als schließlich Anne und die anderen Schwestern und Pfleger den Speisesaal betraten, von Tisch zu Tisch gingen, den Alten freundlich in die Augen blickten, während sie fragten, ob sie Kaffee nachschenken dürften, da war der unerfreuliche Vorfall schon wieder vergessen.

      Zufrieden genoss Fromm sein zweites Croissant, stippte den kleinen Rest in seinen Kaffee, wartete einen Augenblick, bis er sich voll gesogen hatte und steckte ihn erst dann in den Mund. Dabei hielt er die Augen geschlossen, was ihm den Genuss verstärkte, wie er behauptete.

      „Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“

      Annes Stimme klang von weit her.

      Und doch stand sie ganz dicht bei ihm. Er spürte die Nähe ihres Körpers, den leichten Luftzug, als sie sich bewegte.

      Durch die halb geschlossenen Lider betrachte er sie, speicherte jede ihrer Bewegungen.

      Er kannte diese katzenhaft geschmeidigen Bewegungen. Nicht erst hier in der Seniorenresidenz hatten sie ihn immer wieder fasziniert.

      Vor unendlich vielen Jahren hatten sie ihn schon einmal verrückt gemacht, das wusste er, nur erinnern konnte er sich nicht, wann und wo das geschehen war.

      In seinem Zimmer würde er Zeit finden, in seinen Erinnerungen zu kramen, die einzelnen Schnipsel zusammenzufügen, und vielleicht würde ihm dort einfallen, wo er diese Frau oder eine, die ihr zum Verwechseln ähnlich sah, schon einmal gesehen hatte.

      Doch bereits im Aufzug zermarterte er sich das Gehirn, noch auf dem langen Gang fand er keine Antwort, auch nicht als er den Schlüssel in das Schloss schob.

      Erst als er ihn umdrehte, es dieses leise Klicken gab, sah er sie plötzlich.

      Fast sechzig Jahre zuvor.

      Natürlich war sie es nicht, aber sie hatte genauso ausgesehen. Oder wenigstens sehr ähnlich. Und er war ihr damals verfallen, nach ganz kurzer Zeit, nach so kurzer Zeit, wie er es auch im Nachhinein nicht begriff.

      Er war sechzehn, aufgewachsen in einem prüden, eher sehr prüden Elternhaus, hatte keinerlei Erfahrung.

      Seine Freundin, die erste übrigens, war auch gerade sechzehn. Sie trafen sich am Nachmittag, nachdem sie ihre Schularbeiten gemacht hatten, gingen durch die Marsch, blieben auch mal stehen, nahmen sich in den Arm und küssten sich.

      Aber das war es dann auch.

      Spätestens zum Abendessen waren sie zu Hause.

      Und dann kam Henning. Er erinnerte sich genau an seinen Namen.

      Henning war ein Jahr älter als die anderen Klassenkameraden, hatte eine Ehrenrunde gedreht.

      Und er hatte ungeheuer viel Erfahrung! Sagte er, und sie glaubten es ihm.

      Es gab kein Mädchen in der Stadt, das er nicht klassifiziert hätte.

      Die der Klasse eins und zwei hatte er alle flach gelegt.

      Jedes Schamhaar konnte er beschreiben, jedes lustvolle Aufstöhnen konnte er so täuschend echt nachahmen, dass den anderen vor unerfüllter Lust fast der Atem wegblieb.

      Für die blieben nur die Klassen drei und vier, die, die Henning nicht wollte, die er gerade noch als akzeptabel duldete.

      Und die Abgelegten, deren Henning überdrüssig geworden war.

      Wenn sich die Jungs im späten Frühjahr nach der Schule auf dem freien Platz an der ‚Hafenschänke’ am Ende der Hafenstraße trafen, um sich von einem der hier wartenden Bauern zum Rübenverziehen oder Kohlpflanzen zu seinen Feldern fahren zu lassen, dann warteten sie schon auf dem Anhänger vor Ungeduld auf seine Neuigkeiten.

      Und bekamen riesengroße rote Ohren.

      Was er erzählte, übertraf alles, was sie je gehört und gelesen hatten oder sich in ihren pubertierenden Gehirnen vorstellen konnten.

      Das war Leben!

      Das war die Wirklichkeit!

      Das war die Erfüllung ihrer noch nicht einmal geahnten Wünsche!

      Henning führte sie ein in das Leben der Erwachsenen, gab ihnen einen Einblick in die Libido der Frau – und des Mannes.

      Und während sie Stunde um Stunde über die harte Ackerkrume krochen, links und rechts Büschel von Rübenpflänzchen packten und mit einem Ruck ausrissen, so dass nur eine einzige Pflanze, möglichst die stärkste von allen, stehen blieb, erzählte er.

      Und sie klebten an seinem Mund.

      Irgendwann hatten sie durchschaut, dass vieles erfunden war.

      Aber was?

      Und so glaubten sie schließlich doch alles. Es hätte ja wahr sein können.

      Auch dass er in Hamburg eine Frau kannte, die er einmal in der Woche besuchte und die sich regelmäßig mit Cognac einrieb, bevor sie ihn empfing. Dass er den Cognac ablecken musste, bis sie nicht mehr roch und dass er fast betrunken davon geworden wäre, erzählte er.

      Und dass es in Brunsbüttel eine Frau gab, die – wie man heute sagen würde – auf Jungen stand, glaubten sie und konnten sich nicht satt hören an Hennings Erzählungen, seinen Beschreibungen ihrer Vorlieben.

      Nicht kleine Jungen mochte sie, ein bestimmtes Alter sollten sie schon haben, ihr Alter bevorzugte sie, sagte Henning, und sie wäre durchaus nicht kleinlich. Fünfzig D-Mark bezahlte sie für einen Nachmittag. Das war damals verdammt viel Geld. Fünfzig Stunden musste man dafür auf dem Acker rumrutschen.

      Ob man sich auch mal daran beteiligen könnte, fragten sie ihn, mehr im Scherz.

      Natürlich, antwortete er, ihm würde das sowieso langsam zu viel, die Hamburgerin und die Brunsbüttlerin, und dabei grinste er auf eine sehr eindeutige Art.

      Zwei Tage später fuhr Alexander per Anhalter nach Brunsbüttel, ließ sich vor der Fähre absetzen und wartete.

      Ein VW ‚L351 korallenrot’ würde vor dem kleinen Kiosk halten, einmal kurz hupen, und er sollte wie in Gedanken dorthin schlendern und einsteigen.

      Sie kannten damals alle Modelle, auch die von Opel und Ford, aber natürlich am besten