Klaus Melcher

Wie im Paradies


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Freundin.

      „Komm“, sagte sie einlenkend, „gehen wir in dein Zimmer. Ich erkläre es dir dann alles ganz genau.“

      „Ich will nicht in mein Zimmer! Was soll ich da?“

      Jetzt war Frau Evers wirklich verärgert.

      Störrisch wie ein alter Esel klebte sie an ihrem Platz und machte nicht den Eindruck, ihn so bald aufgeben zu wollen.

      Inzwischen war die Zahl derjenigen, die das Schauspiel beobachteten und langsam zu genießen begannen, erheblich gewachsen.

      Normalerweise gab es nur vielleicht zehn oder zwanzig Personen, die sich nach dem Abendessen hier aufhielten, jetzt hatte sich kaum jemand zurückgezogen.

      Auch Fromm war nicht in das Lesezimmer gegangen, und Gustav Preuss konnte sich ebenfalls noch nicht vom Speisesaal trennen.

      Man hatte ein eigenes kleines Theater!

      „Nun komm doch, die gucken schon alle zu uns!“, fauchte Frau Hohenstedt und fasste die Evers am Oberarm, in der Hoffnung, sie würde dem leichten körperlichen Druck folgen.

      Das Gegenteil trat ein.

      Emma Evers schien zu einer Salzsäule erstarrt zu sein, sie würde nichts und niemand bewegen können. Jede Faser ihres Körpers sagte: ‚Ich bleibe hier! Versuch nur, mich hier weg zu bekommen, ich bleibe hier!’

      Ganz leise, um die beiden Protagonisten ja nicht zu stören, hatten Preuss und Fromm sich wieder gesetzt, hatten auf den Brandy, den sie sich nach dem Abendessen regelmäßig gönnten, freiwillig verzichtet, nur um die Entwicklung dieses Schauspiels nicht zu versäumen.

      Und dann endete es ganz plötzlich, einfach so.

      Frau Evers erhob sich von ihrem Stuhl, stieß die Hohenstedthand, die sich wie schützend um ihre Schulter legen wollte, unwirsch zur Seite und stakte kerzengerade, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt, dem Ausgang entgegen.

      „Emma, bitte! Warte doch!“, rief Frau Hohenstedt, als sie sich von ihrem ersten Schrecken erholt hatte, doch da war Emma Evers bereits auf dem Flur, und die Tür war geräuschvoll ins Schloss gefallen.

      Wie gelähmt saß Frau Hohenstedt da, starrte abwechselnd auf die geschlossene Tür und ihre Hände, die auf dem Tisch lagen, als gehörten sie nicht zu ihr.

      Eine gefühlte Ewigkeit geschah nichts. Niemand wagte die Stille zu unterbrechen oder gar aufzustehen.

      Es war nicht so, dass die Anwesenden etwa aus Respekt vor den beiden Frauen schwiegen oder weil ihr Streit sie berührt hätte. Respekt hatten sie schon lange nicht mehr, die beiden Frauen waren verschrobene Alte, lächerlich in ihrer Betulichkeit und ihrer zur Schau getragenen Fürsorglichkeit für einander.

      Aber auf einmal sahen sie, wie auch sie selbst werden könnten, in ein oder zwei Jahren, wenn sie Glück hatten, auch später, aber vielleicht auch viel früher.

      Und auf einmal erschraken sie.

      Als die ersten aufstanden und leise den Speisesaal verließen, als stählen sie sich heimlich davon, saßen die anderen immer noch schweigend auf ihren Stühlen, unfähig, sich zu bewegen. Selbst das Küchenpersonal, das seine Arbeit endlich abschließen wollte, wagte nicht, auch nur einen Laut zu geben.

      Als Preuss und Fromm sich endlich aufrafften und das Lesezimmer aufsuchten, taten sie es ganz leise, kaum hörbar für die anderen, und doch drehten sich alle Köpfe ihnen zu.

      „Gott bewahre, dass wir jemals so werden“, stöhnte Preuss.

      „Warst du eigentlich verheiratet?“

      Fromm verstand nicht.

      „Na, die beiden waren bestimmt nicht verheiratet, so verschroben wie sie sind. Früher hätte ich gesagt, sie sind nicht …“.

      Er hatte wohl bemerkt, dass seine Bemerkung nicht ganz fein sein würde und hatte sie gerade noch rechtzeitig verschluckt. Trotzdem hatte Fromm sie verstanden und nickte zustimmend.

      Natürlich konnte die Schrulligkeit der beiden auch andere Gründe haben.

      Aber Männer denken häufig etwas einseitig.

      8. Hennings Geschichten

      Natürlich war Fromm gespannt auf das Erscheinen der beiden Freundinnen am nächsten Morgen.

      Hatten sie sich zusammengerauft? Ließen sie sich noch die Verstimmung vom letzten Abend anmerken?

      Albern war das?

      Mag sein, doch so viel passierte hier nicht, dass man die kleine Abwechslung nicht dankbar wahrgenommen hätte.

      Er ging sogar fast eine halbe Stunde früher als gewöhnlich in den Speisesaal. Weil er heute besonders großen Hunger hätte, machte er sich vor.

      Er nahm sogar in Kauf, auf das Frühstücksbuffet warten zu müssen, denn es war natürlich noch nicht aufgebaut.

      Die Tür zur Küche öffnete sich, und der Küchenwagen, beladen mit Müslis, Milch, Marmeladen und Wurst, Brötchen und Brot wurde herein geschoben, hielt vor der langen Tafel, und dann begannen die Köchinnen damit, das Frühstücksbuffet herzurichten. Das geschah in ungeheurer Professionalität. Ruhig und präzis, wie nach einem unsichtbaren, aber sorgfältigen Plan.

      Von beiden Seiten der Tafel konnte man sich vorarbeiten.

      Ganz außen standen die Teller mit den Backwaren, drei Sorten Brötchen, leckeren weißen und gesunden hässlich gekörnten, die von ihm natürlich verschmäht wurden, Brot und Kuchenscheiben. Es folgten Butter und Margarine, Marmeladen und Honig. Fromms Betätigungsfeld waren die Aufschnittplatten mit verschiedenen Wurst- und Schinkensorten und mit Käse. Obst, Gemüse und Müslis bildeten den Abschluss, auf den er allerdings verzichtete.

      Und wenn er dann die Armen betrachtete, die sich zum Buffet schleppten, dann konnte er ohne Schwierigkeit vorhersagen, was sie wählen würden: ein Vollkornbrötchen, ein Schächtelchen Margarine, eine Tomate, zwei Gurkenscheiben, ein Schälchen Müsli mit etwas Magermilch und zum Abschluss eine Banane, vielleicht auch eine Clementine. Aber die war schon schwer verdaulich. Sie würde einem den halben Tag schwer im Magen liegen.

      Was hatten die Armen verbrochen, dass sie im Angesicht dieses Buffets sich so kasteiten?

      Gerade dachte er darüber nach, da öffnete sich die Tür, und die ersten Hungrigen betraten den Speisesaal. Der Oberst mit seinem Gefolge, das er immer um sich scharte, steuerte zielstrebig die Tafel an, machte wohl gerade einen Scherz, worauf die Damen dankbar lachten.

      Es folgten einige Eigenbrödler, die jede Form von Gesellschaft ablehnten und wie verbissen ihr Müsli selbst zusammenstellten, jede einzelne Rosine, jede Nuss genau abzählten und die Flocken genau dosierten, und die, die eigentlich nie auffielen, die Unscheinbaren, die grauen Mäuse, die, die froh waren, wenn man sie nicht beachtete und in Ruhe ließ.

      Und dann kamen sie.

      Aschgrau im Gesicht, betrat Emma Evers den Raum, schien ungeheure Mühe zu haben, ihre Füße über das Parkett zu heben, wurde von Anneliese Hohenstedt mehr geschoben, die sie wie am Abend zuvor am Arm hielt und sie zu ihrem Stuhl zu dirigieren versuchte.

      Sie war ein Bild des Jammers, das über das Parkett schlurfte und, sich auf der Tischkante vorsichtig abstützend, auf ihrem Stuhl zusammensank. Dort blieb sie reglos sitzen, hielt ihre Hände gefaltet und sah vor sich auf den Tisch.

      Nichts schien an sie heran zu dringen, nicht das leichte Geklapper, das einsetzte, als die ersten Bewohner sich am Buffet bedienten, nicht das Rücken der Stühle, auch nicht dass die Hohenstedt ihr den Teller, den sie für sie gefüllt hatte, fast auf die Hände knallte. Sie sah nicht einmal auf.

      Die Hohenstedt schob ihn weiter, gegen ihre Hände. Mechanisch nahm sie sie vom Tisch, sah unendlich müde ihre Freundin an, bevor sie wieder in ihre reglose Starre versank.

      Was war aus