Roland Exner

Der alte Mann und das Haus


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oben zeigend, so dass es aussah, als würde er immerzu ein wenig grinsen, wobei er keineswegs freundlich aussah, zumal die Oberlippe dünn wie ein Markstück, die Unterlippe dick wie ein Finger war. Wegen einer fortschreitenden Augenerkrankung konnte er schlecht sehen.

      "Sie Ärmste", sagte er mitfühlend im fränkischen Dialekt mit Trieber Färbung, den wir hier nicht wiedergeben wollen, "bei dem Sauwetter! Meine Frau hat schon Teewasser aufgesetzt... Aber eh' Sie Mantel und Stiefel ausziehen, möchten wir Sie noch um etwas bitten..."

      Elke lachte. "Ich weiß schon, die Zentralheizung ist nicht nach Ihrem Geschmack; Sie wollen am warmen Ofen sitzen. Ich soll noch Holz holen." Kaum hatte sie dies gesagt, erbleichte sie, denn nun musste sie wohl in diese Scheune.

      Karl Klüber nickte. Helene Klüber zog den Korb hinter dem Kachelofen hervor. "Danach essen wir zusammen Abendbrot, und Sie haben frei für heute."

      Helene Klüber war 67, und sie hatte es mit dem Kreuz. Ihre vollen, bis zum Nacken reichenden, künstlich leicht gelockten Haare waren grau; sie sah aber trotzdem viel jünger als ihr Mann aus. Die Falten im Gesicht waren nicht so tief, aus ein paar Metern Entfernung kaum zu sehen, da konnte man sie leicht deutlich unter 60 schätzen, zumal sie Schminke sehr geschickt, nur nuancierend, einsetzte. Der Lippenstift – so etwas wie rötlich orange – wurde nur leicht aufgetragen.

      Elke wagte keinen Einwand, bat nur um die große Taschenlampe, nahm den Korb, schaltete im Hof das Licht an, obwohl es noch nicht ganz finster war.

      Die Holzscheite lagerten im offenen Teil der alten Scheune, wo sie ebenfalls das Licht anknipste und auch noch mit der Lampe in jeden Winkel leuchtete. Die Tür zur Werkstatt stand halboffen... doch kaum hatte sie mit dem Lichtkegel der Taschenlampe zwischen die gestapelten Korbwaren gestochert, erschütterte ihr gellender Schrei den Hof. Sie rannte zurück zum Haus, wo zu gleicher Zeit Karl Klüber die Tür aufriss. "Was um Himmels Willen ist denn mit Ihnen los?" rief er.

      Elke huschte an ihm vorbei, blieb aber im Flur stehen. "Da, da, da...", stammelte sie und zeigte Richtung Werkstatt. Da ist ein Gespenst, wollte sie eigentlich sagen. Jetzt kam ihr das aber schon wieder lächerlich vor, aber ihren Schrecken musste sie nun erklären. "Da in der Werkstatt stand... war gerade jemand", stammelte sie. "Ein alter Mann stand da!"

      Karl Klüber schlüpfte in seine Jacke, zog Elke am Ärmel auf den Hof; er musste sich dabei ziemlich anstrengen, erst auf halbem Wege gab Elke den Widerstand auf.

      "Den uralten Typen schauen wir uns jetzt mal an!" verkündete er. Seine Stimme klang wie ein Befehl, und wahrscheinlich fasste er den Vorgang auch so auf. Er ging durch das geöffnete Tor der alten Werkstatt, das Licht hatte Elke bei ihrer Flucht natürlich nicht ausgeschaltet.

      "Schauen Sie sich um, da ist doch niemand", sagte er in väterlichem Ton. "Aber kommen Sie, wir suchen alles durch. Ich kenne alle Winkel, auch wenn ich schlecht sehen kann. Wo´s dunkel ist, leuchte ich mit der Lampe, und Sie schauen genau nach!" "Der wird jetzt gerade auf uns warten", erwiderte Elke schnippisch. "Der ist doch längst weg."

      Karl Klüber meinte freilich, man habe hier nicht viele Möglichkeiten, sich zu verstecken, wo der Mann gestanden habe, wollte er wissen. Elke zeigte hinter einen großen Stapel Körbe. Karl Klüber antwortete mit einem Hm und zog Elke in alle Winkel der Scheune bis hoch unters Dach.

      Dabei hatte Elke das Gefühl, als spiele Karl Klüber mit ihr Theater, als wisse er genau, dass es den alten, grauen Mann gab, und zugleich, als wisse er auch, dass sie ihn bei dieser lächerlichen Suche nicht finden würden. Auch die Ehefrau tauchte auf und rief: "Das Abendbrot ist fertig... Karl, hört' endlich mit dem blöden Gesuche auf!"

      "Misch dich da nicht ein!" funkte der Ehemann mürrisch zurück. "Du wirst den Tee doch noch ein Viertelstündchen warm halten können."

      Sie fanden nichts, und Elke fühlte, wie ihr Chef sie nun mit kaum spürbaren Gesten als das kleine Dummerchen vorführte. Er half ihr zum Schluss sogar, die Holzscheite in den Korb zu legen. Als sie den vollen Korb ins Haus trugen, ächzte er freilich sehr demonstrativ und klagte über seine Arthrose.

      Beim Abendessen wusste Helene Klüber zu berichten, dass man sich in so einem großen Hof schon mal erschrecken könne, ansonsten war das Thema vom Tisch.

      Helene Klüber erklärte, sie und ihr Gatte wollten am nächsten Morgen ganz früh nach Nürnberg fahren, den Sohn und seine Familie besuchen. "Da haben Sie morgen wenig zu tun, und Sie können auch etwas länger schlafen."

      In zwei Tagen, Sonntagnacht, wollten die Klübers zurück kommen; es könne auch Montagfrüh werden. Frau Klüber gab ihr auch noch einen Zettel… was alles während ihrer Abwesenheit zu beachten sei.

      Elke verabschiedete sich mit einem fast unmerklichen Knicks, ging zwei Schritte rückwärts bis in den Flur, drehte sich um und lief die Treppen hoch, in ihre Wohnung: Zwei kleine Zimmer, eine Kochnische, alte, mit Blumen bemalte Bauernmöbel, die wohl schon seit Jahrzehnten an ihrem Platz standen. Dusche und Toilette hatte man erst vor einem Jahr eingebaut.

      Elke vermied es, Licht anzuschalten; sie stellte das Radio an und schaute lange aus dem Fenster, aber sie bemerkte nichts Auffälliges. Sie blieb den ganzen Abend unruhig, und sie schlief auch schlecht.

      Kurz nach fünf wurde sie wach. Im Hof hatte jemand eine Autotür zugeschlagen. Sie drehte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. Wieder das Knallen einer Autotür. Und dann noch einmal. Warum so oft?

      Sie stand auf und schaute, hinter dem Vorhang versteckt, aus dem Fenster. Die Klübers hatten beide den Führerschein, aber auch beide dieselben Unarten, wobei der eine stets über den anderen meckerte. Nach dem Starten ließen sie den Motor immer laut aufheulen. Diesmal saß die Ehefrau am Steuer und fuhr mit überdrehtem Motor aufs Tor zu, und hier konnte man die nächste schlechte Gewohnheit beobachten (auch hier war es egal, wer von beiden gerade am Steuer saß): Anstatt das schwere, auf den Steinen schleifende Tor vor dem Abfahren zu öffnen, machten es die beiden genau anders herum, um dann erneut mit jaulendem Motor anzufahren. Aussteigen, Einsteigen, Tür zuknallen. Und gleich noch einmal dasselbe.

      Elke seufzte. Gott sei Dank fuhren die beiden sehr selten so früh am Morgen weg. Sie fror, ging schnell auf die Toilette und schlüpfte wieder ins Bett. Jetzt war sie allein im Haus… wenn dieser graue Mann plötzlich wieder auftauchen würde… Sie schüttelte sich, als könne sie so diesen scheußlichen Gedanken loswerden. Ja, was würde sie dann tun? Wie am Spieße schreien, natürlich, und dann? Sie konnte nicht wieder einschlafen, sprang aus dem Bett und setzte Kaffeewasser auf. Im Radio bat ein Sprecher um Aufmerksamkeit für eine Suchmeldung: Der 75jährige Johann Reuß sei vor einer Woche aus der Nervenklinik Bayreuth verschwunden. Ohne Aufsicht und Betreuung sei er völlig hilflos. Er benötige auch bestimmte Medikamente, sonst müsse er innerhalb von wenigen Tagen sterben...

      Elke stand regungslos neben dem Kühlschrank, den sie eigentlich gerade hatte öffnen wollen. Nun gab der Sprecher die Personenbeschreibung: weiße Haare, wahrscheinlich weiße Bartstoppeln, blasses, faltiges Gesicht, graublaue Augen, graue Steppjacke, graue Hose... es passte offenbar alles, wenn sie auch nicht die Augenfarbe und die Farbe der Kleidung hatte erkennen können. Obendrein hatte man auch noch erklärt, dass der Gesuchte sich vermutlich im Raum Lichtenfels-Trieb aufhalte... Wer Hinweise über den Verbleib des Gesuchten geben könne, möge sich bitte an die Klinik oder die nächste Polizeidienststelle wenden.

      Elke war erleichtert. Damit war alles klar; sie musste nur noch die Treppe hinuntergehen und die Polizei anrufen. Sie warf den Bademantel über, blieb dann aber vor ihrer Wohnungstür stehen. War ein geisteskranker Mann nicht genauso gefährlich wie ein Gespenst? Na ja, durch Wände konnte er wohl nicht gehen, und sehr kräftig konnte er auch nicht mehr sein, aber sicherlich unberechenbar. Man kann nicht wissen, wozu ein Irrer fähig ist. Nein, jetzt verließ sie ihre Wohnung lieber nicht, da wartete sie lieber noch, vielleicht bis acht, wenn es hell ist, das war wohl sicherer… auch wenn die Tiere unruhig wurden.

      Etwa zwei Stunden später wurde dieselbe Suchmeldung nochmals durchgegeben. Nun gesellte sich zu der Angst etwas Neugierde… dass man einem solchen alten Mann so ein hilfreiches Interesse entgegenbrachte…

      Draußen wurde es hell, und es schneite nicht