Roland Exner

Der alte Mann und das Haus


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erwiderte sie, "die Decke hat doch sowieso schon Flecken, und das Bett beziehe ich auch ganz schnell, das kommt alles bei den Klübers in die Waschmaschine, das sind alles Kleinigkeiten."

      Sie ertappte sich bei dem Gedanken, was sie denn tun solle, wenn er noch allzu lange leben würde? Wie konnte sie so etwas denken? Aber sie dachte es doch, und um diese Gedanken zu verjagen, versuchte sie sich abzulenken; sie wedelte um ihn herum, versuchte, ihm jeden Handgriff abzunehmen, machte zwischendurch das Bett, wobei sie immer ein wenig redete, lauter kleine Banalitäten, auf die er kaum antwortete. "Sie können in meinen Büchern und den Zeitschriften lesen... Und wenn ich nicht da bin, können Sie sich auf dem kleinen Kocher da Kaffee kochen und sich was zu Essen nehmen... Haben Sie denn noch Verwandte?"

      "Nein, habe ich nicht", erwiderte der Alte schließlich. "Aber ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll. Ich will hier sterben, aber ich fürchte, ich mach' Ihnen soviel Unannehmlichkeiten."

      "Es ist richtig so, dass Sie hier sind!" erwiderte Elke mit fester Stimme. "Irgendwie schaukeln wir das schon, Sie werden gar nicht mehr sterben wollen!"

      Der Alte lächelte. „Leben aber auch nicht, kleines Fräulein, und erst recht nicht in so einer Klinik..."

      "Sagen Sie bitte nie mehr kleines Fräulein zu mir! Und Sie müssen auch nicht in diese Klinik zurück, wenn ich sagen würde, ich pflege Sie..."

      Der Alte zuckte zusammen, die Tasse, die er gerade zum Mund führen wollte, wackelte in der zitternden Hand derart, dass wieder etwas Kaffee überschwappte. "Sagen Sie niemandem etwas!" flehte er. "Sagen Sie niemandem etwas!"

      Elke kicherte, was war sie doch für eine gute Schauspielerin: "Keine Bange! Aber jetzt muss ich erst einmal zu den Hühnern und den Ziegen runter!"

      Für den Stall brauchte sie am Morgen eine halbe Stunde. Als sie wieder das Haus betrat, roch es ganz fein, aber doch deutlich nach Tabakqualm. Sie hastete nach oben. Der Alte saß in dem Schaukelstuhl und rauchte Pfeife. Sie blieb regungslos in der Tür stehen. „O!“ rief sie – und wusste nicht weiter. Der Alte blies einen Ring in die Luft. „Das ist ja toll!“ sagte sie verblüfft. Er fasst dies als Kompliment auf, und er wiederholte das Kunststück, diesmal mit zwei Ringen. "Es freut mich, dass Sie sich wohl fühlen", sagte sie schnippisch. "Aber woher haben Sie denn die Pfeife und den Tabak?"

      Er machte nur "Hm" und blies wieder einen Ring in die Luft, fing dann aber an zu husten. „Es erinnert mich an bessere Zeiten“, krächzte er.

      Elke seufzte. "Ich muss Sie jetzt leider an schlechtere Zeiten erinnern", sagte sie. „Man riecht den Rauch im ganzen Haus, und die Klübers rauchen nicht.“ Der Alte schien in sich zusammenzusinken, und als er anfangen wollte, den Tabak aus der Pfeife zu entfernen, rief sie, er solle das Pfeifchen nach Herzenslust genießen, es rieche sowieso, sie wisse schon, was sie den Klübers erzählen werde. In Zukunft müsse er aber auf der Toilette bei geöffnetem Fenster rauchen. Sie streichelte ihm über die Schulter. „Es geht nicht anders“, sagte sie.

      Ihr Arbeitsraum am Morgen war vor allem die Küche der Klübers. Sie stellte die Heizung an und bereitete das Frühstück vor. An diesem Morgen war allerdings alles anders: sie spielte ein Theaterstück, zuerst in ihrem Zimmer, nun war die Küche die Bühne. Es gab freilich keinen Text, den sie auswendig lernen konnte, und keinen Souffleur, die Rollen mussten frei gespielt werden. Sie dachte wieder an die Pfeife und den Qualm. Wenn der Alte solche Utensilien dabei hatte, war seine Flucht offenbar gut geplant gewesen.

      Bis zur ersten Begegnung mit den Klübers war es noch ein paar Stunden hin. Elke versorgte die Tiere, und da es wieder heftig zu schneien begann, fegte sie nochmals den Hof, wohl wissend, dass die Klübers die Arbeitsgeräusche auch im Schlafe wahrnahmen. Die beiden tauchten erst gegen zehn Uhr in der Küche auf und Elke glaubte sofort zu erkennen, dass auch ihre beiden Gegenspieler ihre Morgenrolle anders auffassten als sonst. Er trug nicht, wie sonst, eine saloppe Hose und Pulli oder Flanellhemd, sondern, als erwartete er Besuch, dunkle Hose mit Bügelfalte und ein weißes Hemd, fehlte nur noch Binder oder Cordel. Und die Ehefrau hatte sich offensichtlich in Nürnberg von einem teuren Friseur aufdonnern lassen, sie hatte plötzlich blonde Haare, durch eine neue Dauerwelle weit mehr als sonst aufgeplustert, eine goldene Halskette und Armband, und das schlimmste: die Schminke. Roter Lippenstift – allzu stark aufgetragen. Vorher haben Sie viel besser ausgesehen, lag Elke auf der Zunge.

      "Wir machen erst einmal ein kleines Sektfrühstück!" erklärte Klüber fröhlich, "unser Sohn ist Abteilungsleiter geworden!"

      "Das ist ja toll!" schauspielerte Elke, "da gratuliere ich ganz herzlich!"

      Karl Klüber schenkte drei Gläser ein, und sie stießen an. "Wir haben gestern natürlich ausgiebig gefeiert", sagte Klüber, und er erzählte von seinem Sohn, der in einem großen Kaufhaus nun Karriere mache, und schnell waren sie beim zweiten Glas. Fast hätte Elke vergessen, dass versteckte Rollen gespielt wurden. Ob der Sohn nun tatsächlich Abteilungsleiter geworden war oder nicht, der Sekt hatte sicher den Zweck, ihre Zunge zu lockern. Sie musste auf der Hut sein! Das dritte Glas lehnte sie ab, sie vertrage nur sehr wenig Alkohol... und dann kam auch schon, wie nebenbei, erneut die Frage, ob am Tage zuvor irgendetwas Besonderes passiert sei? Elke schüttelte den Kopf und erzählte schnell einen Tagesablauf, wie er, ohne die Begegnung mit dem Alten, hätte sein können, diesmal allerdings mit dem Polizisten, an den sie, wie sie beiläufig erwähnte, gestern bei dem Anruf des Herrn Klüber gar nicht gedacht hatte. Später, nach dem Anruf, sei noch einmal einer in Zivil gekommen. Ein Polizist in Zivil, sie habe sich den Ausweis zeigen lassen, der habe mit seiner Zigarre einfach alles verqualmt… Jetzt musste sie aufpassen, dumm waren die Klübers nicht. "Was haben die denn alles gesagt?" wollte Klüber wissen, und er schien auf die Antwort zu lauern.

      Elke erzählte, was der Polizist erzählt hatte: dass also der aus der Anstalt geflohene Reuß hier vor 40 Jahren gewohnt hatte. Sie verschwieg aber, dass der Polizist auch erwähnt hatte, Reuß sei Eigentümer des Hofes gewesen. „So, so", wisperte Klüber, "der hat hier gewohnt? Vor 50 Jahren? Das ist ja unglaublich... Und Sie haben nicht gesagt, dass Sie den Reuß gesehen haben?"

      Elke riss ihre Augen auf und starrte Klüber so blöd wie möglich an. "Wieso soll ich den gesehen haben?" Jetzt meldete sich Helene Klüber in ihrem übelsten Keifton zu Wort: "Na, stellen Sie doch nicht so an, Ihr graues Gespenst am Abend vorher, das kann dann doch nur dieser Reuß gewesen sein!"

      Elke schlug ihre Hände vors Gesicht, als wäre sie nun völlig überrascht und entsetzt. "Sie meinen, ich hätte da wirklich einen richtigen Mann gesehen?" rief sie. "Aber gestern meinten Sie doch, ich hätte mich getäuscht! Und wir haben doch alles abgesucht!"

      Sie schaute die beiden Herrschaften mit ihren größtmöglichen, runden, braunen Augen an und spürte, dass sie gewonnen hatte. Jetzt hatte sie sich endgültig als das kleine Dummerchen etabliert, das den geschmeichelten Eheleuten alles glaubte. Helene Klüber tätschelte Elkes Hände und schaute dabei wie eine Mutter, die ihr Töchterchen tröstete. "Ja, wir haben auch erst gedacht, Sie hätten Gespenster gesehen, aber jetzt ist uns klar, dass Sie den Reuß gesehen haben!" sagte sie milde.

      Karl Klüber neigte sich in vertraulicher Haltung über die Ecke des Tisches zu Elke hin, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen. "Ich glaube jetzt, dass Sie ein sehr gutes Wahrnehmungsvermögen haben. Ein verdammt gutes Wahrnehmungsvermögen! Der Reuß war wirklich hier, und er ist immer noch hier, jedenfalls hier in der Gegend, das spüre ich, gefangen haben sie ihn jedenfalls noch nicht, ich habe gerade vorhin die Polizei angerufen, aber dieser Geisteskranke hat tatsächlich auch etwas von einem Gespenst." Klüber hob die Hand wie zu einer Warnung, und er verdrehte die Augen. "Passen Sie auf!" sagte er mit scharfem Tonfall. Elke zuckte zusammen. "Sagen Sie uns sofort, wenn Sie etwas bemerken. Schreien Sie aus Leibeskräften, wenn er plötzlich irgendwo auftaucht!"

      Elke hatte nun wirklich Angst, wenn auch eher vor ihrem Gegenüber; sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, und dann sagte sie, einem Geistesblitz folgend: "Und wenn ich erschrecke, wenn Sie plötzlich irgendwo vor mir stehen, wenn ich dann laut schreie?" Nun schaute Klüber, mit halb geöffnetem Mund, blöd daher und schielte zu seiner Frau hinüber, die ihre Nase nun spitz in die Höhe hielt. "Keine Bange", ließ sie vernehmen, "ich bin immer in seiner Nähe."

      Klüber