Jörgen Dingler

Oskar trifft die Todesgöttin


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Das ‚Boquería Hostal‘ führte die Bezeichnung ‚Hotel‘ nicht einmal im Namen. Es war zumindest äußerlich sauber, anonym, hatte WC und Dusche auf dem Zimmer, und vor allem lag es zentral – direkt auf den Ramblas. Der gleichnamige Markt befand sich vor dem Hotel, und auch die nächste Metrostation war in greifbarer Nähe. Die Anonymität eines bestenfalls mittelklassigen Innenstadthotels hatte deswegen ihre Vorteile, weil er unter seinem echten Namen einchecken musste. Es scheiterte weniger an der Infrastruktur, ihm einen gefälschten Pass zu besorgen, sondern eher an der Zeit, diesen anzufertigen. Wer Waffen besorgen konnte, der verfügte zumeist auch über eine Quelle für gefälschte Reisedokumente. Es blieb nur keine Zeit, diese Quellen zu nutzen. Er musste irgendwo unterkommen, und das zur Not unter seinem richtigen Namen, mit seinem echten Pass. Falls Christine Vaarenkroog in Erfahrung bringen wollte, wo Oskar Randow sich befand, würde sie bei den besseren Hotels anfangen. Er ging davon aus, dass auch sie von etwas ausging – nämlich davon, dass er Bescheid wusste, was Kalis nächster Job sein würde und ihn daher in Barcelona vermutete. Ebenso klar war: Sie musste spätestens jetzt wissen, wer – oder besser was – er wirklich war. Aus diesem kühlen Grunde sah er von einer privaten Unterkunft ab, die jemand aus Gregs Netzwerk in Barcelona sicherlich zur Verfügung stellen konnte. Er wollte niemanden in Gefahr bringen, der mit jemandem aus seinem Bekanntenkreis in Verbindung stand. Das, was er vorhatte, war sein eigenes, selbstgewähltes Risiko. Dabei sollte es bleiben. Ein Hotel dagegen – auch eins, das sich in ehrlicher Selbsteinschätzung als ‚Hostal‘ bezeichnete – ging aus Gründen des Gelderwerbs das Risiko ein, wildfremde Menschen bei sich unterzubringen, die wer weiß was im Sinn haben konnten. Das war also etwas anderes.

      Es war Mittwoch, später Nachmittag. Sollte Gregs Information zutreffen, würde das Geheimtreffen der vatikanischen Entscheider morgen abend nach Einbruch der Dunkelheit stattfinden. Zum Glück würde es schon morgen stattfinden. Er war mit dem Nötigsten versorgt, also vorbereitet. Auf dem Bett lag eine Walther, Profianfertigung. Leider nicht so kompakt wie seine Walther in Wien. Aber ansonsten schien alles zu passen: Griffigkeit, Druckpunkt, Zug. Vor dem Ernstfall musste er sie noch richtig testen, quasi einschießen. Für eine derart wichtige Aufgabe muss man sich und sein Werkzeug optimal aufeinander abstimmen. Er hatte genug Munition, die auch für etliche Testschüsse reichte. Auf dem Hotelbett lagen ein Anzug, Hemd, Socken, Unterhosen und Schuhe. Er kam mit nichts als seinem Freizeitoutfit in Barcelona an, mit derselben Kluft, mit der er sich von Maryfuego in die Tiefe gestürzt hatte. Seine kleidungstechnische Erstausstattung war noch in ein handliches Bündel verpackt. Er ging nicht davon aus, dass die Klamotten seinem gewohnten Standard und Geschmack gerecht würden. Aber immerhin: Greg war ein Schatz. Er hatte mitgedacht und für alles gesorgt, obwohl ihm nichts so quer gehen musste, wie Oskars Entscheidung. Der wiederum war so mies drauf wie seit vielen Jahren nicht. War seine Laune überhaupt jemals so mies wie jetzt?

      Er war allein, so allein wie noch nie.

      Oskar hatte das Gefühl, sogar Greg verloren zu haben. Diesen Greg, den er wohl niemals loswerden würde, und das nicht nur aus beruflichen Gründen. Der Amerikaner hatte zweifelsohne einen Narren an seinem deutschen Partner gefressen – wie gesagt, nicht nur aus beruflichen Gründen. Es kam Oskar immer schon so vor, als ob er nicht nur der einzige, sondern auch der erste richtige Freund im Leben dieses gefährlichen, einzelgängerischen Chaoten war. Hätte er den Vaarenkroog-Job auftragsgemäß ausgeführt, würde der Kontakt sicherlich auch dann weiterbestehen, obwohl beide im beruflichen Ruhestand wären. Mörder & Co – wegen Reichtums geschlossen.

      Ja, er wäre Gregory David Norman Morgenstern III wohl niemals losgeworden. Unter normalen Umständen. Und er hätte es wohl auch nicht gewollt. Auch er mochte diesen Chaoten, hatte sich mehr als nur an ihn gewöhnt. Ob sich alles wieder einrenken würde, falls er das nahezu Unmögliche schaffen sollte? Natürlich nur, falls Viktor Vaarenkroog zumindest einen Teil der Gage rüberwachsen ließ. Ginge Greg komplett leer aus, hätte der blonde Deutsche sicherlich auf ewig und drei Tage bei seinem bisherigen Partner verschissen.

      Oskar Randow lehnte in der Fensternische des Hotelzimmers und sah auf die Ramblas hinunter. Sein Zimmer befand sich im dritten Stock. Unten herrschte geschäftiges Treiben. Er hatte sich noch auf dem Flughafen von Arrecife eine Baseballkappe zugelegt. Die und seine Sonnenbrille würde er aufsetzen, sobald er ins Freie ging. Es konnte sich nur noch um Minuten handeln – Hunger machte sich bemerkbar, richtiger Hunger. Außerdem musste er noch ein paar Dinge besorgen, auch Kleidung. Es war gut, dass Kalis Auftritt schon morgen sein würde. Das verkürzte auch für eine Christine Vaarenkroog die Zeit. Nämlich die Zeit, in der sie rauskriegen konnte, wo er sich aufhielt. Er checkte nicht nur als Oskar Randow im Hotel ein, sondern flog mangels gefälschter Dokumente auch unter seinem richtigen Namen von Arrecife nach Barcelona. Supercheckerin Christine würde all dies bald herausfinden. Er begab sich in Richtung Bett und befreite seine Erstausstattungskleidung von ihrer Verpackung. Das hätte er schon längst tun können, aber er musste wieder mal nachdenken. Teil seines Nachdenkens war auch die Bewusstwerdung darüber, dass morgen der letzte Tag seines Lebens sein könnte. Im Grunde genommen war das bei einem Aufeinandertreffen mit Kali sogar die realistischste Perspektive von allen.

      Barcelona war die Motorradhauptstadt Europas – umso besser. Oskar hatte auch dieses Mal vor, sich trotz seiner Cinque Terre-Erfahrung ein motorisiertes Zweirad als Fortbewegungsmittel zuzulegen. Der Umstand, dass halb Barcelona auf motorisierten Zweirädern (nichtmotorisierte, also Fahrräder, waren deutlich seltener als in nordeuropäischen Metropolen) jeder Bauart und PS-Stärke unterwegs war, bedeutete ein Plus an Unauffälligkeit. Man würde einfach im Meer der Moped-, Motorroller- und Motorradfahrer untergehen. Diesmal bevorzugte er ein Leihmotorrad. Er hatte schon genug Spesen in den Sand gesetzt. Spesen, die alle auf seine Kappe gehen würden – falls er es überleben sollte. Er mietete sich eine BMW F800GS, eine bedingt geländetaugliche Straßen-Enduro. Handlich, nicht zu schwer, mit 85 PS mehr als flott genug – genau das Richtige für den Stadtverkehr und um eventuell auch mal über Bordsteinkanten oder Treppen zu heizen. Im Gegensatz zu vielen anderen Vermietern gab es bei ‚Hispania Tours‘ auch die Ausstattung wie Helm, Handschuhe, Stiefel, Lederjacke und -hose zu mieten. Es tat gut, die Leihlederkluft diesmal nicht exorbitant teuren Vaarenkroog-Ursprungs zu wissen. Das hatte nichts mit Geld zu tun. Etwas zu tragen, was diesmal nicht ihren Namen trug, war einfach besser für die seelische Infrastruktur.

      Er aß ein Doppelwhopper Menü mit Pommes und Cola light und begab sich wieder auf die Straße. Es war das erste Junkfood seit vielen Monaten, und es schmeckte ausgezeichnet. Neben einer Plastiktüte hatte er noch eine große Nylontasche – eine Art Ikea-Tasche – mit der Motorradausstattung über die Schulter geworfen. Vom freundlich zur Verfügung gestellten Erstausstattungsanzug hatte er auf neu gekaufte Freizeitkleidung gewechselt – Kapuzenjacke, Jeanshose, T-Shirt, griffige Freizeitschuhe. Das passte besser zu seiner Baseballkappe als der Anzug. Die Kapuze konnte man noch zusätzlich über den Käppi-bewehrten und sonnenbebrillten Kopf ziehen – herrlich anonymer Ghetto-Style, ideal für enttarnte Profikiller. Daher behielt er die neuen Freizeitsachen gleich an und steckte stattdessen Anzug, Hemd und Schuhe in die Plastiktüte. Die alte Freizeitkluft müffelte schon merklich nach Schweiß und Meerwasser, würde also nicht mehr zum Einsatz kommen. Er wollte noch das Einschießen der Walther erledigen, am besten außerhalb der Stadt. So trug er alles ins Hotel, um sich danach wieder in die Calle Joan Miró zu begeben. Sein Leihmotorrad stand noch beim Verleiher, obwohl er die Schlüssel und Papiere schon in Empfang genommen hatte. Erstmal galt es, die anderen Dinge im Hotel abzulegen, sich motorradtauglich umzuziehen und seine Walther nebst zwei vollen Magazinen – eins in der Waffe, eins extra – in einen kleinen Rucksack zu bugsieren, den er ebenfalls frisch erstanden hatte. So einen, den man beim Motorradfahren bequem auf den Rücken schnallen kann. Wegen der Hitze verzichtete er darauf, die Motorradlederhose und -stiefel anzuziehen und ließ seine neue Jeans sowie sein rustikales Freizeitschuhwerk an. Schließlich ging es diesmal nicht um eine rasante Überlandverfolgungsjagd, die maximale Schutzkleidung erforderte. Auch der Motorradverleih war bequem in Fußweite. Die Wahl des ‚Boquería Hostal‘ hatte sich als richtig erwiesen.

      »Buen viaje, Oskar!« Ein Mitarbeiter des Motorradverleihs war auf die Straße getreten, als Oskar das Motorrad bestieg. Es war kurz nach sieben Uhr abends, er sperrte das Geschäft zu. Wie üblich war man gleich beim Vornamen. Oskar besaß trotz seines kühlen Auftretens für manche Menschen eine distanzfreie,