Ted McRied

Drei Wünsche


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mit dir, Liv«, ruft sie sich selbst zur Ordnung. »Das letzte Mal, dass du dich nicht aus dem Waschraum getraut hast, ist 20 Jahre her. Du bist auf keiner verfluchten Teenagerparty, also reiß dich zusammen!« Durch den schmalen Türspalt späht sie auf den Flur hinaus. Abgesehen von den hochwertig gerahmten Kunstwerken an den Wänden ist sie allein. Mit halb gesenkten Lidern betrachtet Olivia die bunten Striche, die sich ohne erkennbare Ordnung über die Bilder ziehen. Wie viel Kohle mag für diesen Schund über den Ladentisch gegangen sein?

      Ein lautes Klappern unterbricht ihre Überlegung. An der Ecke erscheint ein Wagen: Vollbeladen mit Reinigungsmitteln, Eimern und einem Besen drängt er sich immer weiter in ihr Sichtfeld. »Wischblitz« steht in großen Lettern auf der Frontseite. Dass dieser Wagen nicht führerlos durch die Flure fährt, offenbart sich erst, als er auf Olivias Höhe angekommen ist. Die Frau, die ihn schiebt, hat höchstens die Größe einer Grundschülerin und verschwindet komplett hinter einem Berg übereinandergestapelter Tücher. Direkt vor dem Toilettenraum bleibt sie stehen. Ungeniert starrt sie Olivia an.

      »Was gucken Sie so? Gehen Sie lieber an die Arbeit.« Aufmerksamkeit ist wirklich das Letzte, was Olivia jetzt braucht.

      »Das tue ich bereits«, antwortet die Reinigungskraft, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.

      »Sie sind neu«, stellt Olivia fest. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

      Die Frau nickt, rührt sich jedoch nicht von der Stelle. Wo nimmt diese Person nur ihre unverschämte Gelassenheit her?

      »Dann seien Sie sicher, dass das heute Ihr erster und letzter Arbeitstag bei uns ist«, zischt Olivia durch die halb geöffnete Tür. »Ich werde mich über Sie beschweren!«

      Die Frau lächelt und setzt sich wieder in Bewegung. »Machen Sie das, Miss Davis. Machen Sie das nur ...«, murmelt sie, als wäre diese klar formulierte Drohung nicht aus dem Mund einer gestandenen Geschäftsfrau, sondern aus dem eines Kindes gekommen.

      Von Wut beflügelt reißt Olivia die Tür des Waschraums bis zum Anschlag auf. Sie überholt die Kleinwüchsige mit schnellen Schritten und stellt sich ihr in den Weg. »Woher kennen Sie überhaupt meinen Namen?«

      Die Reinigungskraft legt ihren Kopf in den Nacken und schaut zu Olivia auf. »Wer kennt den nicht?«

      »Was soll das heißen?«

      »Nichts weiter. Die Leute in der Firma reden.«

      »Worüber?«

      »Über Sie.«

      »Und was reden die Leute über mich?«

      »Das müssen Sie schon selbst herausfinden.«

      Olivia schürzt die Lippen. Der Gesprächsverlauf gefällt ihr nicht, diese Frau will sie wohl für dumm verkaufen. Aber nicht mit ihr! Ohne ein weiteres Wort wendet sie sich ab und stolziert den Gang hinunter, an dessen Ende ihr Büro liegt. Kaum dort angekommen, hat sie die befremdliche Begegnung bereits abgehakt – für unwichtige Menschen ist Olivia ihre Zeit schon immer zu schade gewesen.

      Ihre Gedanken kehren zu Steven zurück. Auch wenn er ebenfalls in die Kategorie »Bedeutungslos« fällt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich mit ihm auseinanderzusetzen. Es wäre doch gelacht, wenn sie sich von dem heutigen Rückschlag unterkriegen lassen würde. Sie muss klarstellen, dass Steven nicht die richtige Person für diesen wichtigen Posten ist. Irgendeinen Schwachpunkt hat jeder, sie muss ihn nur finden und schonungslos ins Rampenlicht zerren. Seine Beförderung ist ein Fehler gewesen, davon wird sie den Vorstand überzeugen. Ein Fehler, der sich mit ihrer Hilfe problemlos korrigieren ließe.

      »Olivia Davis!« Beim Klang der spöttischen Stimme in ihrem Rücken, befällt Olivia eine leichte Gänsehaut. Sie schließt die Augen, zählt innerlich bis drei und dreht sich dann mit einem strahlenden Lächeln um.

      »Steven!« Sie geht auf ihn zu, das Papiertuch immer noch auf die Flecken an ihrem Hals gepresst. »Ich freue mich für dich! Deine Beförderung kam zwar überraschend, aber du hast es wirklich verdient.« Vertraulich legt sie ihm eine Hand auf den Oberarm. »Vielleicht stoßen wir die Tage mal drauf an, was meinst du?«

      Steven blinzelt auf seine Konkurrentin hinab. Mit einer Körpergröße von gut sechseinhalb Fuß überragt er die anderen Mitarbeiter der Vinina-Holding problemlos und diese Tatsache ist Tag für Tag zusätzliches Wasser auf die Mühlen seines unerträglichen Hochmuts. Kühle blaue Augen durchbohren Olivias Innerstes wie eine Speerspitze.

      »Du freust dich also für mich«, stellt er fest. »Und du hast nicht darauf spekuliert in Georges Präsentation deinen eigenen Namen hinter dem Wörtchen ›Ressortleitung‹ zu sehen? Liv, Liv ...« Er schüttelt den Kopf, als hätte er es mit einem gänzlich hoffnungslosen Fall zu tun. »Jeder weiß, wie sicher du dir gewesen bist«, fährt er mit gesenkter Stimme fort. »Ich habe dich während des Meetings beobachtet. Deinen Blick, während George meinen Aufstieg und damit deinen Untergang verkündet hat, werde ich definitiv als eines der schönsten Geschenke mit ins Grab nehmen.« Nun ist es an ihm, seine Hand für einen Moment auf Olivias Oberarm zu platzieren, bevor er sich abwendet und sie allein zurückbleibt.

      Vor Olivias Büro steht der Putzwagen und versperrt den Durchgang. Sie schaut sich um. Der Flur ist verwaist und auch hinter dem Tuchstapel hält sich niemand versteckt. Olivia versetzt dem Wagen einen Stoß, woraufhin er zumindest so weit beiseite rollt, dass sie ihr Arbeitszimmer betreten kann. Drinnen ist es stickig. Die Klimaanlage gibt keinen Ton von sich und auch ihre gezielten Schläge gegen die Abdeckung der Steuerung schaffen keine Abhilfe. Hat sich denn heute alles gegen sie verschworen? Stiche jagen durch Olivias Schläfen und verlangen nach einer Ration Tabletten. Sie drückt zwei davon aus der Verpackung, schenkt sich ein Glas Wasser ein und würgt die stumpfen Pillen durch ihre Speiseröhre. Als die Schmerzen langsam abebben, greift sie zur Zigarettenschachtel. Das Rauchen ist im gesamten Vinina-Tower nicht erlaubt, aber wen scheren an so einem schwarzen Tag schon Verbote? Was sie in ihrem Büro treibt, geht nur sie selbst etwas an. Olivia schlingt sich den Seidenschal aus ihrer Schublade um den Hals und stellt das Fenster auf Kipp. So nah wie möglich rückt sie an den entstandenen Spalt heran. Spätsommerluft streicht ihr übers Gesicht, die sich gegen den Tabakrauch allerdings nicht lange behaupten kann. Gerne würde Olivia die Fenster ganz öffnen und die Freiheit spüren, die Vögel empfinden müssen, wenn sie hoch oben über dem Asphalt schweben, weit weg vom Großstadtlärm. Doch alle Fenster im Haus sind lediglich mit einer Kippfunktion ausgestattet. Offensichtlich haben die Architekten bei der Planung die Anweisung erhalten, die Selbstmordraten aufgrund von ausbleibenden Beförderungen und unzumutbaren Arbeitskollegen auf ein Minimum zu reduzieren. Olivia stellt sich auf die Zehenspitzen, nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und schaut in die Häuserschlucht hinab. Autos hupen, Menschen eilen über die Gehwege. Alte und Junge, Männer und Frauen, einige mit Kindern, andere mit Hunden – nur die Hektik, die sie umgibt, haben alle miteinander gemein. Morgens klingelt ihr Wecker, abends gehen sie schlafen. In der Zwischenzeit geht’s ums Überleben, jeden Tag aufs Neue.

      Ein langer gelber Wagen schließt so dicht zu seinem Vordermann auf, dass er fast den Kofferraum berührt. Im letzten Moment kommt er zum Stehen. Olivia lächelt und inhaliert eine weitere Dosis Nikotin. Fehlt nur die Lichtanzeige auf dem Dach, dann könnte die Karre glatt als New Yorker Taxi durchgehen. Während des Auslandsjahres in Amerika hat ihr all der Trubel nichts ausgemacht. Weit weg von den Geistern der Vergangenheit bekam sie eine Ahnung davon, dass alles anders sein könnte, dass sie anders sein könnte. Sie hätte niemals nach London zurückkehren dürfen, egal wie verlockend das Jobangebot der Vinina-Holding auch war. Jetzt ist es zu spät. Sie ist nun hier und wird durchziehen, was sie angefangen hat. Aufgeben ist niemals eine Option! Zwar hat sie bei den endlosen «Predigten» ihres Vaters die Ohren oft auf Durchzug gestellt, aber das ist etwas, was hängen geblieben ist.

      Ein schrilles Klingeln lässt Olivia zusammenfahren. Sie schnippt die Kippe ins Freie und kehrt zurück an ihren Schreibtisch.

      »Davis«, bellt sie lauter als beabsichtigt in die Freisprechanlage. Wie gerne wäre sie diesen Nachnamen los! Jedes Mal, wenn sie ihn laut ausspricht, schwappt eine weitere Welle unliebsamer Kindheitserinnerungen an die Oberfläche. Vielleicht könnte sie ihn ändern lassen. Aber für die Mitarbeiter im Amt