Tibor Simbasi

Der Teufel trug Jeans


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macht dabei einige Tausend Umdrehungen in der Minute, und so weiter und so fort. Für uns Kinder einfach unvorstellbar. Nachdem der Lehrer das Fahrzeug auch noch mit Lobgesang auf die Partei als eine technische Errungenschaft vom Sozialistischen Arbeiter und Bauernstaates gepriesen hatte, da durften wir uns sogar einmal in den Fahrgastraum setzen. Was war der Lehrer so stolz auf sein neues Auto. Meistens war es in der Schule auch sehr ruhig, denn durch die strenge Erziehung sind wir eigentlich doch sehr brave Kinder gewesen, bis auf Heinrich.

       Heinrich hat immer irgendetwas ausgeheckt, hat immer was angestellt, wie es der Lehrer nannte und noch hinzufügt, Heinrich wäre nicht Heinrich, würde er nichts anstellen. Heinrich war mit seinen 10 Jahren eines der älteren Kinder und besuchte die vierte Klasse der Schule. Bauerstleute haben natürlich keine Angst vor Tieren, da sie den Umgang mit allerlei Vieh gewöhnt sind. Ein kleines Tier zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort kann jedoch auch bei diesen Leuten für viel Chaos sorgen und genau da half Heinrich ein wenig nach.

       Es war im April, das Wetter für die Jahreszeit erstaunlich gut, die Sonne schien, die Natur erwachte, fing an zu grünen und zu blühen. Der Frühling hielt Einzug. Genau richtig für den alljährlichen Besuch der Schule bei der Genossenschaft des Dorfes, wie unser Lehrer Herr Baum meinte. Terminlich sei alles abgeklärt, der Leiter der LPG erwarte uns bereits mit seinen Genossen zum Rundgang mit anschließendem Essen, bestehend aus Brot, Hausmacher Leberwurst, Blutwurst und Sülze. Zu trinken gibt es Milch für euch, schloss er ab.

       Am nächsten Morgen, einen Freitag, wanderten 16 Schüler und ein Lehrer, wie Tags zuvor besprochen, zu den etwas außerhalb des Dorfes gelegenen Stallungen der Genossenschaft. Pünktlich um 9.30 Uhr trafen wir dort ein. Das ganze Anwesen bestand aus einem großen, langen, weiß angestrichenem Flachbau, mit 2 brauen, etwa in der Mitte angebrachten Holztoren, der als Unterkunft für das Vieh diente. Dann war da noch ein kleines Haus mit Waschraum und Aufenthaltsraum für die Arbeiter. Hinter dem Hauptgebäude für all die Tiere war eine große Scheune und der Geräteschuppen zu finden. Vor dem Viehstall standen rechts und links am Toreingang je eine Hundehütte. Das ganze war, da außerhalb des Ortes, weitläufig mit Zäunen umgeben.

       Vorstellen brauchte sich niemand, in einem Dorf kennt eben jeder jeden und so begrüßten wir uns nur gegenseitig. Der Genossenschaftsleiter begann auch gleich den Rundgang. Hier ist Hofhund Bruno, erklärte er, ein Mischling der von allen was hat. Das da, dabei deutete er auf den anderen Hund, ist der Hecktor, ein reinrassiger Schäferhund. Beide bewachen hier nachts den ganzen Komplex. Chef ist der Hecktor, aber nur in der Nacht, meinte er. Tagsüber, dabei deutete er nun auf einen über den Hof trottenden Ziegenbock, ist er der Chef, da passt der auf alles auf. Unser Liebling hier, der Waldemar. Ja, Ordnung muss sein, brummelte er dabei. Auch die Hühner da hinten haben einen Chef, fuhr er fort und das ist Willi der Hahn. Und wieder: „ja, Ordnung muss sein“. Während wir nun zu dem Vieh in den Stall gingen, waren 2 Frauen bereits damit beschäftigt im Hof aufgestellte Tische für die spätere Zwischenmahlzeit herzurichten. Drinnen im Stall gingen wir zu den Pferden, dann zu den Kühen und zum Schluss besuchten wir noch die Schweine. Es gab viel zu lernen über die Tiere, wie schwer so ein Pferd ist, was für eine Kraft es hat, dass die Kuh ein Wiederkäuer wäre und wie viel Liter Milch sie gibt. Welche Anzahl Nachwuchs ein Schwein mit einem Wurf auf die Welt bringen kann und noch viele, viele andere Dinge, wobei alle Vorträge mit, dem nun schon obligatorischen Zusatz „Ordnung muss sein“, endete. Zum Abschluss des Rundganges erklärte uns der Leiter noch wie wichtig die Arbeit der Genossenschaft ist. Hier werden die Grundnahrungsmittel für die Städter produziert, somit arbeiten also alle hier zum Wohle des Volkes, alles zum Wohle für den Arbeiter und Bauernstaat. Da ja Ordnung sein muss folgten noch die üblichen Loblieder auf die Partei. Dann ging es endlich nach draußen auf den Hof, um die lange erwartete Mahlzeit einzunehmen. Der Tisch war bereits mit den Tellern voller Wurst gedeckt, die Milchgläser standen auch schon da, nur das dazugehörige Brot fehlte noch. Der Genossenschaftsleiter, der Lehrer und 16 hungrige Kinder hatten nun ihren Platz gefunden. Eine Frau brachte einem Korb goldgelb gebackener Brotlaibe, stellte diesen auf den Tisch und wollte jetzt das Brot in Scheiben schneiden. Sie trug eine alte Bauernschürze mit zwei großen Taschen und sah mit ihrem Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, recht lustig aus. Als der Deckel vom Korb herunter genommen wurde und die Frau den ersten Brotlaib in die Hand nehmen wollte, da passierte es, da begann das Desaster. Eine kleine Maus hüpfte aus den Korb.

       Erschrocken, ließ die Frau das Brot auf den Tisch fallen und sprang zwei Schritte zurück. Es klirrte und krachte. Ein vom Brot getroffener Teller zersprang. Mehrere gefüllte Gläser fielen um. Das wiederum führte nun zu einer Kettenreaktion. Keiner wollte die Milch auf den Kleidern haben. Alle sprangen auf und weitere Teller und Gläser gingen zu Bruch. Hofhund Hecktor, der in der Nähe des Tisches lag, um sich seinen erhofften Anteil zu zu sichern, bekam Angst und rannte jaulend in Richtung seiner Hütte. Das aber verstand sein Artgenosse Bruno nicht. Er fing an laut zu bellen. Die Hühner flatterten aufgeschreckt über den Hof. Willi, der Hahn, stand auf dem Misthaufen und krähte nun sogar bei Tageslicht. Jetzt reichte es dem Ziegenbock Waldemar. Er sah wohl seine Stellung als Tageschef untergraben und ging zum Angriff über. Mit gesenktem Kopf rannte er voller Schwung auf Hofhund Bruno los. Doch bis dahin schaffte er es nicht. Ein Arbeiter, durch den Krach angelockt, kam vom Stall heraus und kreuzte den Weg. Nun lagen beide, der Arbeiter und Ziegenbock Waldemar zwischen den umgestürzten Milchkannen, die recht bald vom Fahrer der Molkerei abgeholt werden sollten. Ein Milchstrom ergoss sich über den Hof. Das Chaos war perfekt.

       Jetzt war sie dahin, gänzlich dahin, die hochgelobte Ordnung im Arbeiter- und Bauernstaat. Der Genossenschaftsleiter war kreidebleich. Halb jammerte er, halb schrie er: „die ganze Milch ist hin, die ganze Milch ist hin, wie konnte das passieren, wie konnte die Maus in den Brotkorb gelangen“. Eine Redensart sagt: „wo ein Schlingel sein Unwesen treibt, da ist auch eine Petze nicht weit“ und so war es auch diesmal. Bei uns in der Schule hieß die Petze Brunhilde. Brunhilde war die Königin aller Petzen, die wusste alles und konnte über jeden etwas berichten. Nun kam ihr großer Auftritt, ihre große Szene. Sie konnte es kaum erwarten „Herr Lehrer, der Heinrich war es, der Heinrich war es. Ich habe es genau gesehen, der hat die Maus im Stall gefangen und dann in den Korb getan, der Heinrich war es“.

       Das Donnerwetter, das nun über ihn kam war riesig. Was hat der sich alles müssen anhören, was wurde dem alles an Strafe angedroht, was wurde der verwünscht. Der Leiter sprach gar von Zersetzung des Staates, von Unterhöhlung der Ordnung. Er lief zur Hochform auf. Das Essen wurde kurzerhand gestrichen, all die leckere Wurst weggeräumt.

       Nachdem sich weitgehend alles wieder beruhigt hatte zogen wir heimwärts. Da Heinrich am nächsten Tag unruhig auf der Schulbank hin und her rutschte wussten alle Kinder, welche Strafe er empfangen hat.

      Zwei Tage später, etwa mitten im April, holte die Mutter den Konrad und mich am Abend zu sich an den Küchentisch und meinte, sie habe etwas mit uns zu besprechen. Ohne lange Vorreden kam es: „Kinder, wir hauen ab, wir gehen in den Westen zum Vater“. Es traf uns völlig unvorbereitet. Wir brachten keinen Ton heraus, waren wie gelähmt. Es wurde ein langer Abend, ein sehr langer Abend. Sie tat es nicht gern aber sie musste uns einweihen. Sie hatte keine andere Wahl. Die Vorbereitungen für eine Flucht hätten wir bemerkt, uns vielleicht in der Schule verraten. Das wiederum hätte böse Folgen mit sich gebracht. Man nannte es schlicht Republikflucht und wurde hart bestraft. So beredeten wir alles das uns wichtig erschien. Unsere Einwände mussten entkräftet werden, und die Mutter war geschickt darin. Auf Konrads Einwand er wolle nicht wieder vom Vater geschlagen werden, erklärte sie, er schlägt keinen mehr, er hat aus seinen Fehlern gelernt, hat sich geändert. Das hat er in den Briefen geschrieben. Das Paket, das eine Woche später kam, hat mit dazu beigetragen alle unsere Bedenken über Bord zu werfen. Was waren da unvorstellbar schöne Sachen drin. Bunte Shorts, wir kannten ja nur grau, schwarz oder weiß. Buntstifte für die Schule, Kakao, Bohnenkaffee, Kekse, Nüsse und sogar Apfelsinen. Absender: der Vater. Die Leute redeten ja oft vom goldenen Westen, keiner von der Bundesrepublik. Was es da gibt und was man alles kaufen kann. Überhaupt wäre im Westen alles besser, viel schöner, wie im Schlaraffenland und jetzt hatten wir den Beweis. Nüsse, Schokolade gar Apfelsinen, einfach unbegreiflich für uns Kinder. Nie zuvor hatten wir Apfelsinen gesehen. Für uns ein unvorstellbarer Schatz und all diese Dinge sollte es im Westen immer und zu jeder Jahreszeit geben. Als die Mutter dann vom Tretroller sprach, ja sogar ein Fahrrad würden wir