Tibor Simbasi

Der Teufel trug Jeans


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Zweifel wurden durch sich häufenden Besuche der Parteileute weggewischt. Immer öfter kamen die nun, stellten immer dieselben Fragen, begannen zu nerven und machten der Mutter Angst. Auch in die Schule kamen sie, befragten den Lehrer, den Konrad und mich. Der Druck, den sie ausübten, wurde einfach zu groß. „Die zweifeln, ob ich euch allein großziehen kann. Wenn wir nicht aufpassen, stecken diese hirnlosen Parteideppen euch Kinder irgendwann in ein Heim“, warnte uns die Mutter. Nun war alles klar, dass wir abhauen. Die Vorbereitungen konnten beginnen und keiner der Bewohner im Ort durfte etwas bemerken. Nur ein paar Eingeweihte sollte, ja musste es notgedrungen geben.

       Alles lief wie gewohnt weiter. „Jetzt nur nicht auffällig werden“, warnte uns Mutter wiederholt. Der Konrad und ich gingen wie gewohnt in die Schule, schmückten mit aller Hingabe den Wagen für die Teilnahme am Umzug der bevorstehenden Maifeier. Wir ließen uns nichts anmerken. Da wir, unbemerkt von der Bevölkerung des Dorfes, zum Bahnhof nach Leipzig gelangen wollten, wurden einige wenige Personen, die den Transport übernahmen, eingeweiht. Ihr Schweigen erkaufte sich die Mutter mit der Aufteilung unseres gesamten Hausrats an diese ausgewählten Leute. Für die Fahrt nach Leipzig benutzte Kutsche nebst Pferd wechselte so auch ihren Besitzer.

       Die Großeltern haben uns nach der Flucht vom Vater nie besucht, nicht gefragt ob sie helfen können. Mutter sagte immer: „denen sind wir egal, die haben mich nie gemocht, als Schwiegertochter nicht anerkannt. Die wollten was Besseres für ihren Sohn“. Das tat der Mutter immer sehr weh. Ihre Eltern waren kurz hintereinander gestorben als sie noch ein kleines Kind war. So wuchs sie dann bei einer Tante auf. Diese hat in dem kleinen Mädchen aber nur eine billige Arbeitskraft gesehen, sie den ganzen Tag schuften lassen und oft geschlagen. Liebe und Geborgenheit hat sie nie empfangen.

       In einer, wie es so schön heißt, Nacht- und Nebelaktion, sind wir dann geflüchtet. Es war die letzte Woche im Mai 1961. Eine Nachbarin fuhr uns mitten in der Nacht mit der Pferdekutsche zum Bahnhof nach Leipzig. Außer einer Handtasche, in der sich die Verpflegung befand, wurden keine weiteren verräterischen Sachen mitgenommen. Gepäck wäre zu auffällig gewesen. Mit dem Zug ging es dann weiter Richtung Berlin-Ost. Durch die anhaltende Dunkelheit konnten wir nicht viel sehen. Nur ab und zu huschten ein paar kleine Lichter vorbei. Jedes mal wenn der Zug unterwegs in einem Ort anhielt wurde die Mutter unruhig. Sie öffnete dann das Fenster im Abteil und schaute hinaus, ob Polizei oder Grenzbeamte einsteigen. Im letzten Ort vor Berlin sind tatsächlich Grenzbeamte aufgetaucht. Drei Männer betraten den Zug und führten eine Grenzkontrolle durch. Mutter beobachtete die Beamten genau. Als sie vorne in den Zug einstiegen, sind wir hinten im Waggon ausgestiegen. Auf dem Bahnsteig hantierte die Mutter an den Mädchen herum. Es sah aus, als wollte sie deren Kleidung richten. In Wahrheit diente ihr das nur als Vorwand die Grenzbeamten weiter zu beobachten. Als die Kontrolleure die Waggons am Ende des Zuges erreicht hatten, stiegen wir, unauffällig aber schnell, in den vorderen Teil vom Zug wieder ein. Wir hatten Glück, denn die Kontrolleure haben das nicht bemerkt. Kurz vor Berlin wurde plötzlich die Tür vom Abteil geöffnet. Zwei Männer in Zivilkleidung traten ein und gaben sich als Polizisten zu erkennen. An ihren Augen erkannte ich sofort, dass sie bemerkt haben, dass wir auf der Flucht sind. Aus und vorbei, schoss es mir durch den Kopf. Jetzt haben sie uns doch noch entdeckt. Die Mutter wandert ins Gefängnis, uns Kinder stecken die in ein Erziehungsheim. An diesem Tag müssen alle verfügbaren Schutzengel bei uns gewesen sein, denn zu unserer Überraschung waren die Männer ganz freundlich, musterten nur die ganze Familie. Eine Mutter mit sechs kleinen, müden Kindern, spät in der Nacht. Dieser Anblick hat sie wohl gerührt. Sie ließen uns gewähren, taten als sei alles in Ordnung, wünschten uns eine gute Reise. Was für ein unvorstellbares Glück wir dabei hatten wurde mir erst viel später bewusst. Berlin war damals in einen Ost- und drei Westsektoren aufgeteilt. Der Zugang der Stadtteile aber noch offen. So gelangten wir einfach mit der U-Bahn nach Berlin-West. Wir hatten es geschafft, befanden uns im goldenen Westen. Im August wurde die Mauer gebaut, eine Flucht wäre nicht mehr möglich gewesen.

      Gemischte Gefühle

      Wie vom Donnerschlag gerührt liefen wir am ersten Tag durch Berlin. Das kann es doch gar nicht geben, das musste ein Traum sein. Es war überwältigend was die Geschäfte alles an Waren ausgestellt hatten. Voll mit all den schönen Sachen, wie im Schlaraffenland. Haufenweise Orangen, Kisten voller Bananen, ganze Berge mit Süßwaren, Kleidung in allen denkbaren Farben. Hunderte Schuhe in den Regalen, die neuesten Spielwaren, Dreiräder, Fahrräder, Radios, Fernseher, ja sogar Autos. Hier konnte man alles bekommen. Wir kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus und träumten von den Sachen, die wir nun bald besitzen würden. Jetzt konnte ein neues, besseres Leben beginnen. Das Paradies war da, das Wirtschaftswunder wartete auf uns und wir würden daran teilhaben. Nichts konnte uns mehr bremsen. Die Freude war sehr groß, allgegenwärtig, nicht mehr zu bändigen.

       Doch es sollte ganz, ganz anders kommen.

       Nach der Meldung bei den zuständigen Behörden wurden wir in einem Auffanglager untergebracht. Neue Papiere, wie etwa ein Ausweis, mussten beantragt und ausgestellt werden. Der Vater wurde von der Flucht unterrichtet. Nach wenigen Tagen ging es per Luftreise weiter nach Frankfurt/Main. Von dort mit dem Bus in ein Flüchtlingslager nahe Gießen. Solange noch keine Wohnung vorhanden war sollte das Lager unsere vorläufige Unterkunft sein. Von karitativen Vereinen erhielten wir eine Grundausstattung mit Hygieneartikel und wurden neu eingekleidet.

       Eine Woche später besuchte uns der Vater. Die Begrüßung, eine große Enttäuschung. „Ach, da sind ja nun alle“, war seine ganze Freude beim Wiedersehen. Keine Herzlichkeit, keine Umarmung, keine Aufmerksamkeit für die Kinder, einfach Nichts. Selbst die während seiner Abwesenheit geborene Tochter interessierte ihn nicht. „Konrad, Christian“, befahl er, „ihr passt auf die Kleinen auf, eure Mutter und ich wir haben etwas zu bereden“. Beide sind dann gegangen. Eine eisige Kälte breitete sich im Zimmer aus. Mir war sofort klar, er hat sich überhaupt nicht geändert. Da hatten wir falsch gehofft. Die Angst vor ihm war wieder da.

       Zwei Stunden später kam die Mutter allein zurück. Der Vater hat sich von uns Kindern nicht mal verabschiedet.

       Der Aufenthalt im Lager war sehr eintönig. Den ganzen Tag herumlungern und warten ist langweilig. Vor allem für Kinder. Die einzige Abwechslung, die wir hatten, war ein Ausflug zu einem Obstbauern. Da gerade Erntezeit war sind viele Leute aus dem Lager auf dessen Felder und haben sich durch pflücken von Johannisbeeren ein wenig Geld verdient. Die Mutter ist mit uns Größeren auch dahin gefahren. Während die Erwachsenen am Abend einige volle Kisten mit dem gepflückten Obst abliefern konnten waren bei den Kindern mehr Johannisbeeren im Magen als in der Obstkiste. Aber wir hatten viel Spaß. Zu viel Spaß und Appetit, wie sich am nächsten Tag herausstellte, wir hielten uns stets in der Nähe der Toilette auf.

       Es vergingen weitere 4 Wochen bis eine Wohnung gefunden war.

       An einem Samstag im Juli wurden wir vom Vater, seiner Schwester und deren Mann abgeholt.

       Tante und Onkel haben sich vorgestellt und waren recht freundlich, begrüßten uns herzlich. Nun fuhren alle zusammen zu der neuen Wohnung, in den neuen unbekannten Ort, in die neue Zukunft. Was würde sie uns bringen?

      Ernüchterung

      Die Ernüchterung kam sehr schnell. Der neue Wohnort, welcher nun auch unsere neue Heimat werden sollte war mit 6000 Einwohnern ein recht großes Dorf mit Kleinstadtcharakter. Ein sehr schöner Ort, 12 km von Kaiserslautern, in der Pfalz liegend, entfernt. Die gemietete Wohnung aber entpuppte sich als ein abbruchreifes, uraltes Einfamilienhaus. Drei kleine Zimmer, oder besser ausgedrückt Kammern. Ein Raum, der wahrscheinlich mal als Küche diente und eine winzige Toilette waren vorhanden. In 2 der Zimmer lagen Matratzen überzogen mit Betttüchern und Wolldecken. In der Ecke stand jeweils ein alter Kleiderschrank. Im nächsten Zimmer befanden sich eine Ausziehcouch, ein Tisch, einige Sitzkissen, ein Sessel und eine Kommode. Das sollte eine Wohnstube sein. Die sogenannte Küche bestand aus einem uralten Kohleherd mit 2 Kochplatten, einem großen Tisch, 6 Stühlen und einem Küchenschrank. Gardinen, wenn man die überhaupt so nennen konnte, hingen nur in den beiden der Straße zugewandten Räumen, der Küche und dem Wohnzimmer. Den goldenen Westen hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Hier