Joana Goede

Schlussakt


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Gedanken, denn etwas anderes zog meine Aufmerksamkeit auf sich.

      Nun fing es nämlich leider doch noch an zu regnen, und zwar so sehr, dass ich auf einen Schlag klatschnass war. Ich musste mich direkt im Zentrum der großen, schwarzen Wolke platziert haben, die wohl mit ihren Tropfen genau auf mich zielte. Verwünschungen murmelnd zog ich mich am Drahtzaun hoch und rannte schnell über die Straße, den linken Arm an den Körper gepresst. Rennen war auch so eine Sache. Von wegen Kondition.

      Vor der Kirchentür angekommen, warf ich einen gequälten Blick gen Himmel, der wohl ausdrücken sollte, wenn Du mich schon vom Zaun fallen und nass werden lässt, dann lass mich nun wenigstens in Dein Haus! Das war ja wohl nicht zu viel verlangt.

      Ich drückte die kühle Messingklinke in Form eines Fisches nach unten und schob mit einem leisen Ausruf der Erleichterung die massive Holztür auf. Drinnen war es dunkel und still, bis auf das Geräusch des Regens, der auf das Dach trommelte. Einige Kerzen erhellten den Innenraum und wenige Leuchter, die von der Decke hingen, verbreiteten spärliches künstliches Licht. Die Kerzen gruppierten sich vorne um den Altar, so schloss ich die Tür hinter mir und ging bedächtigen Schrittes den Gang entlang. Die schönen bunten Fenster ließen nur an äußerst sonnigen Tagen genug Licht durch, um die Kirche zu erhellen, und da draußen gerade die zweite Sintflut tobte und der Himmel beinahe schwarz war vor Regenwolken war, hätte es genauso gut Nacht sein können. Aber ich genoss das Zwielicht, denn ich fand, dass es zu der ausgeglichenen und feierlichen Stimmung dieser Kirche passte, die zwar nicht besonders groß war, aber in gewisser Weise doch die Gegenwart Gottes verdeutlichte, die ich in diesem Augenblick spüren wollte. Sicher war Gott überall allgegenwärtig, doch für mich reichte dieser Glauben im Moment nicht, denn ich wollte jetzt, dass Gott mir zuhörte und mir, wenn möglich, auch noch antwortete.

      Ich ließ also den Blick durch die Kirche schweifen und nachdem ich mich vergewissert hatte, dass kein anderer Mensch anwesend war, setzte ich mich auf die erste Bank und legte meine Jacke ab, die mich, da sie selbst nass war, nicht wärmen konnte. Nun warf ich erst einmal einen Blick auf meinen linken Arm, indem ich den Ärmel meines Pullovers vorsichtig hochschob und die leicht bläuliche Schwellung betrachtete, die sich von meinem Ellbogen bis zum Handgelenk erstreckte. Immerhin ist die Hand nicht gebrochen, dachte der unerschütterliche Optimist in mir, während der Pessimist meine Dummheit verfluchte, über einen hohen, nassen Drahtzaun geklettert zu sein, was zu allem Überfluss auch noch verboten war. Zusätzlich musste ich nun auch noch die Zähne zusammenbeißen und den Schmerz ignorieren.

      Madeleine hatte gewiss eine Salbe, und sicherlich würde sie mich auch gern verarzten, wenn ich nach Hause zurück käme, doch in diesem Augenblick ging es mir um mein geistiges Wohl, nicht um das körperliche. Im Zweifelsfalle musste der Körper bei mir immer warten. Ich zog meinen Ärmel also langsam wieder herunter und richtete meinen Blick auf den Altar, der das Leben Jesu in mehreren Bildern darstellte, angefangen mit der Geburt, beendet mit der Auferstehung und dem Auffahren in den Himmel. In der Mitte war auf dem größten Bild, um das sich alle anderen versammelten, die Kreuzigung dargestellt. Das fand ich traurig. Ich hätte dort stattdessen die Auferstehung dargestellt. Gekreuzigt wurden schließlich viele, da war ja an sich nichts Besonderes daran. Der Jesus am Kreuz blickte aus traurigen Augen zu mir hinunter. Du warst auch in der falschen Geschichte, dachte ich. Ihn hatte man auch in ein Leben gesteckt, dass eigentlich gar nicht seines war. Ich fühlte mich ihm in gewisser Weise verbunden. Aber er hatte es schließlich schon hinter sich und es hatte auch noch einem guten Zweck gedient. Mein Leid war sinnlos.

      Jetzt wendete ich mich an Gott, zu Beginn noch mit leiser zittriger Stimme, da es mir wenig vertraut erschien, meine Stimme mit so viel Hall zu hören, dass sie völlig fremd wirkte, doch nach einigen Sätzen festigte sie sich und wurde lauter und deutlicher. Jetzt musste Gott mir einfach zuhören. Ich erzählte also alles, was ich von mir wusste, erzählte ausführlich von meinem Problem und davon, nicht zu wissen, wo ich hingehörte und ich erzählte von meiner Pflegefamilie, die ich zwar tolerierte, aber in die ich einfach nicht gehörte. Schließlich berichtete ich von meinen merkwürdigen Kopfschmerzen, von den Träumen und von der Schwäche, die mich nun schon einige Male heimgesucht hatte. Ich endete mit der Bitte, Gott möge sich doch auch dazu äußern, was Er davon hielte, denn Er habe ja immerhin den Überblick und müsse wissen, wie man mein Problem lösen könnte. Mit mehr Essen und etwas mehr gesellschaftlichem Umgang war es sicherlich nicht getan.

      Als meine Stimme in der Kirche verhallte, machte sich Stille breit und ich wartete. Ich wartete auf eine Antwort, egal in welcher Form, völlig gleich, was sie beinhaltete.

      Der Schmerz in meinem Arm pochte ungeduldig, doch ich zog es vor zu schweigen und es Gott zu überlassen, wann Er antwortete und ob Er überhaupt antworten wollte. Immerhin hatte Er mir zugehört, mehr konnte ich eigentlich nicht von einem so viel Beschäftigen erwarten. Trotzdem hoffte ich auf eine Antwort, die mir wenigstens einen Wink geben könnte, in welche Richtung ich als nächstes gehen sollte und ob meine Entscheidung, die Familie zu verlassen und in ferne Lande zu ziehen richtig war. Doch die Stille blieb. Keine mächtige Stimme erfüllte plötzlich den Raum, keine Taube kam aus dem Nichts und flog über meinen Kopf, nur die Kerzen flackerten leise und stumm, als wenn auch sie keine Antwort wüssten.

      Während ich noch wartend verharrte und auf den armen Jesus starrte, der jetzt noch trauriger und verlassener wirkte als vorher (mochte wohl am Zwielicht liegen), hörte ich plötzlich Schritte, die den Gang entlang hallten und immer näher kamen, bis sie plötzlich neben mir verstummten. Der Pfarrer setzte sich neben mich auf die Bank, den Blick ebenfalls nach vorn auf den leidenden Christus gerichtet. „Manchmal braucht Er lange, bis Er antwortet.“, sagte er leise und sanft, wie ein Hirte zu seinen Tieren spricht, um sie zu beruhigen. „Manchmal verstehen wir auch erst nach vielen Jahren, dass Er damals geantwortet hat, weil Er uns nie direkt seine Antwort wissen lässt. Wir müssen die Augen danach offen halten. “ Ich nickte, schwieg aber. Ob der Pfarrer mir wohl zugehört hatte? Natürlich hatte er das, er musste jedes Wort von der Empore aus gehört haben.

      „Aber antworten tut Er immer, darauf kann man sich verlassen, du musst nur etwas Geduld haben.“ Wieder Schweigen. Ich zitterte vor Kälte. Die Wärme war gewichen und meine nasse Kleidung tat nun das Übrige um mich frieren zu lassen.

      „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, murmelte ich leise, mehr zu mir selbst, als zu dem Pfarrer, doch dieser nickte verständnisvoll und drehte seinen Kopf in meine Richtung, bis er mich direkt ansah. „Du wirst es bald erfahren.“ Ich sah ihn ungläubig an. Woher wollte er das wissen? Konnte er mehr über mich wissen, als ich selbst? War das möglich? Oder war das nur so ein Spruch, mit dem er mich beruhigen wollte? Ich beschloss, es einfach erst einmal so hinzunehmen. Mir ging es nicht besonders gut.

      „Ich möchte nach Hause“, flüsterte ich, kaum hörbar. Und obwohl ich nicht genauer definierte, welches Zuhause ich meinte, antwortete der Pfarrer: „Du wirst es finden, du wirst es schon bald finden.“ Da ahnte ich, dass ich meine Antwort erhalten hatte. Gottes Wege sind eben doch nicht immer unergründlich. „Was muss ich tun?“, fragte ich den Pfarrer gespannt, doch dieser lächelte nur geheimnisvoll und sagte: „Abwarten.“

      Na gut, dachte ich, dann werde ich warten. Warum auch nicht. Wahrscheinlich löst sich tatsächlich alles von allein. Eine erstaunliche Ruhe breitete sich in mir aus. Ich war plötzlich ganz entspannt. Eine Weile saßen wir noch nebeneinander und betrachteten den Altar, jeder für sich und jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Dann stand ich auf, zog vorsichtig meine Jacke an. „Danke“, sagte ich, was sowohl dem Pfarrer, als auch Gott galt. „Leg dich am besten gleich ins Bett, damit du nicht ernstlich krank wirst“, murmelte der Pfarrer. „Und gib acht auf deinen Arm“, rief er mir hinterher, als ich schon ein gutes Stück in Richtung Ausgang gegangen war. Ich lächelte, drehte mich aber nicht mehr um. Gewiss würde ich nicht noch einmal über diesen Zaun klettern, soviel stand fest.

      Draußen regnete es kaum noch, nur wenige, feine Tröpfchen stürzten sich auf die Erde. Selbst wenn es stärker geregnet hätte, wäre es egal gewesen, denn ich war schließlich schon nass. Klitschnass. Der Himmel war noch immer grau und verhangen, doch ich warf keinen Blick hinauf, sondern schlenderte langsam und gelassen am Zaun vorbei und um den großen Parkplatz herum, der nun nicht mehr so voll war. Die Mittagszeit war vorbei, die Autobesitzer waren wieder an ihrer Arbeitsstellte