Joana Goede

Schlussakt


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Uhr sagte mir, dass der Film eigentlich in zehn Minuten enden müsste, wenn er die normale Filmlänge nicht überschritt, das hatte zumindest Constanze gesagt, und die musste es ja wissen.

      Ich freute mich immer mehr auf mein Bett und mein Buch, das ich in den letzten Tagen stark vernachlässigt hatte, wie alles andere auch. Ich wüsste nur gern, was genau mich zu dieser Vernachlässigung getrieben hatte. Im Grunde genommen war ich die ganze Zeit mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, doch das Nachdenken hatte zu keinem richtigen Ergebnis geführt. Es war eigentlich gar kein richtiges Nachdenken gewesen, sondern eher ein stilles vor sich hin vegetieren, wie es mir noch niemals passiert war. Dieser Tatendrang wie ein Eisblock, der über Tage angehalten hatte und in gewissem Sinne noch nicht besiegt worden war, hatte mich sehr verunsichert. Vielleicht war ich der melancholische Typ, vielleicht war ich auch völlig introvertiert und gedanklich immerfort realitätsfern, doch was hatte mich zu diesem inhaltslosen Dasein gebracht? Wahrscheinlich war es dieser plötzliche Anfall gewesen, die äußerst schmerzliche Erfahrung am ersten Tag im Neuen Jahr, die mich so verunsichert und erschreckt hatte, dass ich eine Weile gebraucht hatte, um sich wieder aufzurappeln. Nun saß ich hier im Kino, nach einem kleinen Schwächeanfall, den ich so gut es ging vertuschen wollte, um niemanden zu beunruhigen, doch ich selbst war beunruhigt. Es konnte eine Krankheit sein, natürlich, doch irgendetwas sagte mir, dass ich gesund war, kerngesund, dass nur etwas mit meinem Verstand nicht stimmte.

      An dieser Stelle schreckte ich selbst zusammen. Wenn mein eigener Verstand an seinem Verstand zweifelte, was blieb dann noch von mir übrig, als eine leere Hülle, angefüllt mit Nichts? Verfiel ich langsam dem Nihilismus? Das konnte doch nicht sein. Das war viel zu absurd.

      Ich stierte in eine Ecke des breiten Flurs und fixierte den dunklen Schatten einer Säule. Ich musste mir eingestehen, dass ich Angst hatte. Ich selbst erschreckte mich, ich fühlte mich verfolgt, beobachtet, als wenn irgendjemand Fremdes gewaltsam die Kontrolle über mich an sich gerissen hätte und mich jetzt steuerte, wie ein Spielzeug. Oder hatte ich nur deshalb den Eindruck, weil ich die Kontrolle selbst verloren hatte, durch mein eigenes Unvermögen?

      Da war es wieder, dieses Gefühl, dass irgendetwas falsch lief, ein Gefühl, dass mich in letzter Zeit öfter überkam und das mich jedes Mal aufs neue ängstigte. Doch benennen, um was es sich dabei handelte, konnte ich immer noch nicht, obwohl ich sonst doch auf beinahe alles eine Antwort wusste, oder sie mir aus Büchern zusammensuchen konnte. Diese Angewohnheit half mir nur jetzt leider nicht weiter, denn ohne nachgeschaut zu haben, wusste ich, dass kein Buch auf der Welt eine Antwort für mein Problem enthalten konnte, weil es absolut individuell war, eine unglückliche Ausnahme, die gerade mich getroffen hatte, bedingt durch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

      Die Türen öffneten sich. Kinobesucher strömten heraus. Ich beobachtete sie angeekelt, wie ein Knäuel aus sich windenden Würmern, in sich verknotet und untrennbar, aus dem einfachen Grunde, weil sie alle gleich waren, für mich, den neutralen Beobachter. In der Masse ging das Individuum völlig unter.

      So bereitete es mir auch einige Schwierigkeiten, meine Schwester in diesem Trubel aus geschockt und gleichermaßen begeistert blickenden Menschen auszumachen. Zum Glück fand sie mich, den Außenstehenden, der ich durch meine Isolation am Rande des Raumes und vielleicht auch durch meine kränkliche Erscheinung ins Auge stach, also kaum zu übersehen war.

      Constanze strebte, hatte sie mich einmal erblickt, direkt auf mich zu, mit dem gewohnten, verständnislosen Gesichtsausdruck, doch sie fragte nicht, meinen abweisenden Blick richtig deutend. Ich wollte jetzt nicht erklären, warum ich diese Grausamkeiten nicht ertragen konnte, weil es sicherlich wieder zu Streit geführt hätte, und für eine ordentlich gegliederte Argumentationskette fehlte mir nun einfach die Kraft. Ich erhob mich von der Bank, als der Besucherstrom etwas abgeebbt war und folgte Constanze die Treppe hinunter ins Foyer, in Richtung Ausgang.

      Die kühle Nachtluft brachte mich zum Frösteln, erschien mir aber auch angenehm, nach der chronisch sauerstoffarmen Luft in Räumen, wo sich viele Menschen tummeln. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen, und so ging ich mit gesenktem Blick, um den kolossalen Pfützen auch rechtzeitig ausweichen zu können. Der Weg zum Auto erschien mir unnatürlich lang. Ich stolperte ungeschickt hinter meiner Schwester her, die einige Male stehen bleiben und auf mich warten musste. „Du musst unbedingt schlafen“, sagte sie und musterte mich misstrauisch, als ich mich ins Auto zwängte. „Du siehst nicht so aus, als könntest du ohne Hilfe stehen.“

      Ich nickte bedrückt. Da hatte sie ausnahmsweise einmal Recht. Eigentlich hatte ich gehofft, dass man mir meine Schwäche nicht so sehr ansehen würde, doch das war natürlich nur ein Wunsch ohne realistische Basis gewesen. Ein Gefühl, das einem praktisch die Beine unter dem Körper wegriss und eine Schwäche, die einem das Gehirn lahm legte, musste sichtbar sein, so etwas konnte ich nicht verstecken, so sehr ich mich auch bemühen mochte. Während der Fahrt sprachen wie wieder kein Wort. Ich fror vor mich hin und observierte den Straßenrand mit akribischer Genauigkeit, als wenn ich erwartete, etwas zu sehen, das mir die Lösung zu meinem Problem auf einem Silbertablett präsentierte. Es waren nur sehr wenige Autos unterwegs und natürlich überhaupt keine Fußgänger, aber vielleicht war es auch gut. Vielleicht hatte ich die Einsamkeit ja nötig, um wieder die Kraft zu sammeln, die ich benötigte, um mich in wenigen Monaten auf die Suche zu begeben. Wahrscheinlich würde sich alles in Luft auflösen, wen ich mein richtiges Leben fand und in es hineinschlüpfte, denn im Stillen hatte ich mich entschieden, den schwereren Weg zu wählen, von den beiden, die möglich waren, denn eines wusste ich sicher. Ein richtiger Fehler konnte es nicht sein, denn falsch waren schließlich beide Wege. Ich hatte also eine Chance von hundert Prozent das Falsche zu tun. Wann hat man schon einmal so ein Glück?

      Der verfluchte Zaun

      In dieser Nacht schlief ich wie ein Stein. Ohne Gefühle, ohne Gedanken, ohne Träume. Die Erinnerung an die Nacht war im Nachhinein nicht vorhanden. Ich legte mich hin, schloss die Augen, öffnete sie und da war er, der neue Morgen, einfach so. Und noch erstaunlicher war die Tatsache, dass ich mit einem Schlag hellwach war und mich überhaupt nicht erschöpft oder geschwächt fühlte. Als wäre ich aus einem Tagelangen Alptraum endlich erwacht, der mich solange terrorisiert hatte, bis ich sogar an meiner Vernunft zweifelte und an meiner geistigen Zurechnungsfähigkeit. Nun hing das alles wie ein schwarzer Schatten in der Vergangenheit, abgespeichert, als ein Hauch von böser Erinnerung, doch ohne den Wunsch, näher darauf einzugehen. Ich blieb eine Weile liegen, starrte an die Decke und ordnete meine Gedanken neu. Mein Entschluss stand noch immer Felsenfest, doch die Art und Weise, auf die man mir zu dieser Erkenntnis verholfen hatte, war mehr als fragwürdig und unangenehm. Diese Folter der Sinne, so hoffte ich, sollte möglichst nicht fortgesetzt werden, auch wenn sie mir wenigstens die Richtung gezeigt hatte, in die ich mich bewegen musste.

      Meine Bettdecke von mir werfend sprang ich auf und stellte erleichtert fest, dass mich weder Schwindel noch Migräne überfiel, nur der Hunger warf mich fast um. Meine Vergesslichkeit musste zugenommen haben. In einem Moment am vergangenen Abend hatte mich der Hunger noch gequält und ich hatte gedacht, dass es unaushaltbar sei, noch längere Zeit ohne Essen zu verbringen und im nächsten Moment war der Hunger einfach weg gewesen.

      Nun war er zurück und hatte mit ungebändigter Macht zugeschlagen, so dass ich schnellen Schrittes aus dem Zimmer stürzte und mir erst auf der Treppe auffiel, dass ich noch immer vollständig bekleidet war. Sogar meine Schuhe hatte ich noch an, nur die Jacke und den Schal musste ich gestern Abend abgelegt haben. Kurz blieb ich verwundert stehen, feststellend, dass in meinem Gedächtnis eine Lücke klaffte, die ich selbst durch intensives Nachdenken nicht würde schließen können, setzte meinen Weg dann dennoch fort und landete in der Küche. Die Uhr dort zeigte kurz vor Mittag. Madeleine war vermutlich arbeiten und wo Constanze war, interessierte mich im Augenblick nicht. Ich nahm mir soviel wie ich tragen konnte aus dem Kühlschrank und setzte mich mit Teller, Brot und allem, was sonst noch zu einem ordentlichen Frühstück gehörte, an den Küchentisch, faszinierend auf den unverhofften Reichtum an Nahrung blickend, die mir nun plötzlich zur Verfügung stand.

      Nachdem ich erfolgreich die Ereignisse der letzten Tage aus meiner Erinnerung verdrängt hatte, konnte ich mich auch endlich ganz meiner Speisenvielfalt widmen, wobei ich das weiße Hemd mit