Joana Goede

Schlussakt


Скачать книгу

sie habe etwas mit meinem merkwürdigen Verhalten zu tun, doch ich wusste, dass wenn sie etwas damit zu tun haben sollte, sie höchstens eine untergeordnete Rolle dabei spielte. Aber ich genoss es, dass sie mich zum ersten Mal so behandelte, wie es sich für eine besorgte Schwester gehörte.

      Der Schnee draußen war geschmolzen und nur der graue, scheußliche Matsch am Straßenrand erinnerte noch an die Winterliche Pracht vergangener Tage. Ich verließ das Haus nicht, kein einziges Mal. Ich las auch nicht, oder spielte Gitarre, denn ich hatte alles Produktive und Kreative aufgebenden. Meistens saß ich einfach nur da und starrte vor mich hin, Gedanken nachhängend, die ich niemandem mitteilen wollte. Das schwarze Loch der Motivationslosigkeit hatte mich eingesogen und verschluckt. Jetzt war es mein Problem, es wieder zu verlassen. Doch im Augenblick fühlte ich mich dort eigentlich ganz wohl.

      Madeleine schien das zu beunruhigen. Ständig brachte sie mir Erkältungstee und machte viele verschiedene Nudelgerichte, die ich sonst sicherlich sehr gern gemocht hätte, doch in diesen Tagen fehlte es mir an Appetit, so wie an allem anderen auch. Ich stocherte nur in meinem Essen herum, und den Erkältungstee würgte ich nur herunter, um meine Pflegemutter zu beruhigen. Natürlich war ich nicht erkältet und schon gar nicht krank. Bis auf die Schwäche und die Müdigkeit, die mich nicht loslassen wollte, fühlte ich mich gesund und schrieb meine Appetitlosigkeit meiner Verwirrtheit zu. Typisch menschlich, die eigene Schuld immer auf andere zu schieben. Ich hätte lieber einmal mich selbst nach der Ursache durchforsten sollen.

      Am dritten Tage meiner Lethargie wurde ich gestört. Das kam mir sehr ungelegen, schließlich hatte ich mich so erfolgreich in meinen Panzer zurückgezogen, dass ich alles um mich herum einfach abgeschaltet und vergessen hatte. Madeleine trug Constanze auf, mit mir ins Kino zu gehen, um mich abzulenken. Danach, sagte sie, könnten wir machen, was wir wollten. Sie gab Constanze genug Geld, um zwei jungen Leuten damit einen angenehmen Abend zu bescheren. Aber ich hatte selbstverständlich keine Lust. Ich fühlte mich nicht danach, das Haus zu verlassen. Constanze sagte, ich sähe bleich und krank aus. Da widersprach ich ihr nicht, denn ich wusste, dass ich aussah, wie eine lebendige Leiche, und dazu kam noch, dass ich schon vier Tage dieselbe Kleidung trug. Das hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht im Mindesten gestört. Und jetzt zwang man mich auch noch dazu, meine ganze Gemütlichkeit abzulegen und mein geliebtes Loch zu verlassen. Eine Zumutung sondergleichen! Meine Privatsphäre wurde eindeutig unterdrückt.

      Constanze tat das Schlimmste, was sie mit mir machen konnte und schleppte mich an diesem kalten, grauen Nachmittag an den Ort, den ich am meisten hasste, nämlich zum Kaufhaus.

      So, wie ich jetzt aussähe, wollte sie mich auf keinen Fall mit ins Kino nehmen, sagte sie, da müsse sie sich ja schämen. Das war Ansichtssache. Sie war auch nicht gerade der Typ Frau, mit dem ich mich gern in der Öffentlichkeit zeigte. Nur gut, dass mir die Öffentlichkeit egal war. Im Grunde genommen war mir gerade sogar alles egal, sonst hätte ich mich niemals zum Mitgehen überreden lassen.

      Constanze hatte kurz vor Weihnachten ihren Führerschein bestanden und hatte von ihrer Oma das alte Auto gekriegt, das selbst auf der Autobahn nicht mehr als 110 km/h schaffte. Seitdem fuhr sie selbst die kürzeste Strecke mit ihrem kleinen Auto, das noch nicht einmal ein Radio hatte. Es hatte sowieso fast nichts. Erstaunlich, dass es über ausgeleierte Anschnallgurte verfügte.

      Widerstandslos zog ich meine Jacke an und wickelte mir meinen langen Schal viermal um den Hals. Ich warf einen zweifelnden Blick aus der Tür, wo es kalt und nass war und die Autos so vorbeirasten, als müssten sie die vergangenen freien Tage wieder aufholen.

      Constanze fasste mich am Ärmel und zog mich nach draußen, wo mich die Kälte fast erschlug. Warum hörte ich nur auf meine Schwester, warum blieb ich nicht einfach zu Hause? Ich entwickelte so etwas wie einen eigenen Willen, allerdings in noch nicht sehr ausgeprägter Form. Aber ich fühlte mich nicht kräftig genug um zu argumentieren, das war mein derzeitiges Problem. Madeleine winkte aus dem Fenster, als ihre beiden Kinder sich in das hässliche kleine Auto zwängten und lostuckerten. Vermutlich wunderte sie sich nur darüber, warum Constanze sich auf einmal so um mich kümmerte, doch aus keinem von uns hatte sie auch nur ein Wort über die Silvester-Nacht erfahren, und das wunderte sie und machte sie misstrauisch. Ich beobachtete ihren zweifelnden Blick, den sie uns durchs Fenster zuwarf und da wusste ich, dass sie etwas ahnte.

      Hinter ihr in einem Körbchen im Wohnzimmer, balgten sich meine Kätzchen. Sie waren die einzigen, mit denen ich noch sprach, als könnten nur sie mich verstehen. Madeleine seufzte und drehte dem Fenster und damit auch mir ihren Rücken zu. Irgendetwas lief hier falsch, doch niemand wollte ihr sagen, was. Am allerwenigsten ich.

      Das Auto hatte keine Heizung. Das wurde mir schlagartig bewusst, als ich nach fünf Minuten immer noch entsetzlich fror. Constanze schien von der Kälte nichts zu merken, aber wer das ganze Jahr über mit bauchfreien Tops bekleidet war, verlor vermutlich jegliches Gefühl für Wärme und Kälte. Das Thermometer zeigte vier Grad. Es erschien mir wesentlich kälter und unangenehmer als letzte Woche, als der Schnee noch gelegen hatte.

      Das Auto war von innen genauso hässlich wie von außen. Während es hellblau lackiert war, hatte jemand, dem alles Farbgefühl abhanden gekommen sein musste, die Sitze mit orangenem Stoff bezogen, der schon sehr verblichen und an vielen Stellen kaputt war. Da, wo einmal das Radio gewesen sein musste, ragten nur bunte Kabel aus einem schwarzen Loch. Immerhin war alles sauber. Abgesehen von seiner absoluten Hässlichkeit, war das Auto auch noch ohrenbetäubend laut, so laut, dass man hätte Schreien müssen, um sich zu unterhalten. Doch ich wollte mich natürlich nicht unterhalten. Stattdessen saß ich da, zitterte und wünschte mich zurück in mein Bett. Leider erfüllte mir niemand meinen Wunsch und so zog ich den Schal höher und konzentrierte mich auf die Fußgänger auf den Gehwegen. Die Straßen waren voll von ihnen und von Radfahrern und natürlich Autos. Wir befanden uns genau in der Zeit, in der die Haupt-Arbeitszeit des Tages vorbei war und alle nach Hause gingen. Wie gerne wäre ich mitgegangen, hätte mich neben die warme Heizung gesetzt und aus dem Fenster geschaut, die Stille und Wärme genießend. All das blieb mir verwehrt. Stattdessen tuckerte ich meinem Untergang entgegen, dem Kaufhaus.

      Constanze bog auf den Parkplatz des größten Kaufhauses ein, das unsere kleine Stadt zu bieten hatte und ich verzog unwillkürlich das Gesicht, angewidert von dem Anblick der zahlreichen Werbeplakate und der Menschenmasse, die wohl alle unnütze Weihnachtsgeschenkte umtauschen wollten, oder ihr frisch verdientes Geld für irgendwelche sinnlosen Dinge herauszuwerfen wünschten.

      Constanze parkte ein, alles andere als geschickt und sehr nah am Auto daneben, so dass ich über ihren Sitz klettern musste, um auszusteigen, weil meine Tür nicht aufging. Leider war es draußen noch kälter als im Auto, das wenigstens den eiskalten Wind abgehalten hatte, der mich nun so lange quälte, bis ich im Eingang des Kaufhauses stand. Dort war es warm. Beinahe hätte ich so etwas wie Sympathie für dieses Gebäude empfunden, doch dieses Gefühl verdrängte ich rasch, als ich die ersten Osterhasen sah, die mich mit traurigen Augen anblickten. Allerdings waren sie aus Schokolade, genauso wie die letzten Weihnachtsmänner, die direkt daneben standen und für die sich niemand mehr interessierte. Ich musterte sie traurig und schüttelte unmerklich den Kopf. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu.

      Constanze rauschte durch die ihr wohl bekannten Gänge und zog mich mit sich, eine Rolltreppe hinauf und noch eine und noch eine, bis wir in der Herrenabteilung standen und ich mit größtem Desinteresse die vielen Hosen und Pullover betrachtete, die meiner Meinung nach alle gleich aussahen und viel zu teuer waren. Ich fühlte mich wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen und an Land geworfen hatten, sprich: Ich war vollkommen hilflos und völlig fehl am Platze.

      Meine Schwester schubste mich in eine Umkleidekabine und dort wartete ich. Umkleidekabinen waren mir bislang fremd und während ich mich unsicher umsah stellte ich auch fest, dass sie mir äußerst unsympathisch waren. Oben in einer Ecke lebte eine Spinne, die dort ihr Netz wohl schon seit langer Zeit immer mehr verfeinerte und ihr Endprodukt gerade zur Perfektion führte, als ich sie beobachtete. Der Teppich war übersät mit Flusen und Papierschnipseln (woher auch immer) und mir gegenüber erblickte ich eine magere Gestalt in einem Ganzkörperspiegel, die ich, hätte ich sie auf der Straße getroffen, gleich nach Hause ins Bett geschickt hätte. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit mir, sah aber so aus wie ich mich fühlte, denn ich