Joana Goede

Schlussakt


Скачать книгу

Eltern überhaupt noch Freunde hatten und nicht schon längst aus der Gesellschaft verbannt worden waren.

      Anstatt mir diese Ohrenfolter anzutun, genoss ich lieber die ruhigen Stunden allein, bis die Uhr Zwölf schlug und verbrachte meine Zeit auf angenehme Art.

      Da nun die Kätzchen da waren, war ich auch nicht länger ganz allein. Wir würden uns schon einen gemütlichen Abend machen.

      Als die Familie winkend abgefahren und Constanze ohne ein Wort zu einer Party mit Freunden verschwunden war, die darin bestand sich sinnlos zu betrinken und anschließend durch die Stadt zu ziehen und Böller in Briefkästen zu stecken, machte ich mich mit meinen drei Gefährten im Wohnzimmer breit, wo wir uns behaglich einrichteten und alles bereitstellten, um einen schönen, gemütlichen Silvesterabend zu verbringen.

      Die Kätzchen lagen auf und neben mir, so dass ich gar nicht recht zum Lesen meines Buches kam, weil kleine Katzen nie still liegen. Sie bewegten sich die ganze Zeit und lagen bald übereinander, untereinander, bissen einander in die Ohren und in die Schwänze und zupften ordentlich Flusen aus meinem Lieblingswollpullover.

      Ein ruhiger Abend sollte es also nicht werden, soviel stand fest.

      Wie es manchmal vorkam, schlief ich beim Lesen ein, was meistens durch den nicht vorhandenen Spannungsbogen des Buches zu erklären war. Dass es gerade am Silvesterabend geschah, war natürlich Pech für mich, denn ich schlief sicherlich eine Stunde vor zwölf ein und verschlief somit das ganze Spektakel um Mitternacht. Merkwürdig war nur, dass ich weder von der Knallerei erwachte, noch von den wild auf mir herumtollenden Kätzchen, die natürlich an keinen Nachtschlaf dachten.

      Quasi als Entschädigung dafür, dass ich die Festivitäten für das neue Jahr versäumt hatte, träumte ich in diesen Stunden ziemlich wirr. Nach meinem Erwachen erinnerte ich mich an kaum etwas, und das, was mir in Erinnerung geblieben war, konnte ich zu nichts Sinnvollem zusammenfügen.

      Es waren nur irgendwelche Bildfetzen, die sich, wie auf einer Drehscheibe, vor meinem geistigen Auge im Kreis drehten und mich damit fast wahnsinnig machten, weil ich eben diesen Kreislauf nicht abzuschalten wusste. Ob ich die Augen geöffnet oder geschlossen hielt, es war mir unmöglich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Es musste in den frühen Morgenstunden sein, in denen ich erwacht war, doch es dämmerte noch nicht zum Morgen. Der Schlaf hatte mich, anders als erwartet, eher ausgelaugt als gekräftigt, ich konnte mich nicht aufraffen, um aufzustehen und ins Bett zu gehen. So blieb ich also auf dem Sofa liegen mit zwei kleinen Kätzchen auf dem Bauch, die nun auch endlich Schlaf gefunden hatten. Das dritte hatte sich in die gegenüberliegende Sofaecke gekuschelt. Alle Drei schnurrten leise im Schlaf. Mein Kopf dröhnte und ich fühlte mich schlapp.

      Matt streckte ich den Arm nach der Fernbedienung aus, um mir die Zeit mit sinnlosen Fernsehsendungen zu vertreiben und das Wirrwarr aus meinen Gedanken zu überspielen, doch leider lag sie gerade so weit entfernt auf dem Sofatisch, dass ich die Kätzchen hätte wecken müssen, um sie zu erreichen, und das war es mir nicht wert.

      Die Bilder, die an mir vorbei schossen und mein geistiges Auge hypnotisierten, wurden schwächer, und ich konnte nicht mehr erkennen, was auf ihnen dargestellt war. Plötzlich brach der Bilderstrom ab, just in dem Moment, als ich begann, mich auf die Bilder zu konzentrieren, um den Zusammenhang zu rekonstruieren. Das war also der Trick.

      Es war ganz so, als hätte jemand den Stecker herausgezogen oder den Saft abgedreht. Es dauerte nicht lange, da waren auch meine schwachen Erinnerungen an die Bilder fort, beinahe, als hätte sie jemand mit einem Klick von meiner Festplatte gelöscht. Wahrscheinlich war der Jemand ich selbst gewesen. Das Verdrängen unangenehmer Erinnerungen lag mir irgendwie.

      Wie benommen starrte ich an die weiße Zimmerdecke und streichelte vorsichtig den Kopf des kleinen schwarzen Kätzchens, das von mir ja bereits den Namen Figaro erhalten hatte. Der winzige Kopf des Tieres schmiegte sich im Schlaf gegen meine Finger und es schien mir so, als ob es lächelte. Natürlich wusste ich, dass Katzenliebhaber dazu neigten, ihren Tieren allzu viele menschliche Eigenschaften zuzuordnen, doch trotzdem war ich überzeugt davon, dass zumindest die Mundwinkel Figaros leicht gezuckt hatten, was ich einfach mal als ein angedeutetes Lächeln und als Ausdruck tiefster Zufriedenheit interpretierte. Dazu kam noch das wohlige Schnurren des kleinen Kätzchens und schon hatte ich meinen merkwürdig tiefen und plötzlichen Schlaf vergessen und ebenso die Verwirrtheit, die mein Traum in mir ausgelöst hatte. Als hätte das Kätzchen mich verzaubert, einfach nur durch die kindliche Zuneigung, die es mir entgegen brachte. So eine Art der Liebe gab es unter Menschen nicht, davon war ich überzeugt.

      Der Himmel draußen war noch pechschwarz und kein Stern zeigte sich an ihm. Dieses dunkle Tuch lag wie ein plissierter Schleier auf der Welt, die ich durch das Fenster erblickte. Ich war ein bisschen wütend. Allerdings hatte ich, wie ich mir bald selbst eingestehen musste, keinerlei Grund dazu. Zwar verbrachte ich den Silvesterabend allein, ohne die Familie, doch das tat ich auf meinen eigenen Wunsch hin, niemand hatte mich zu dieser Einsamkeit gezwungen. Leider neigte ich dazu, meinen Pflegeeltern immer die Schuld an Dingen zu geben, für die sie überhaupt nichts konnten und auf die sie auch gar keinen Einfluss hatten. Ich war mir dessen bewusst, sah mich allerdings außer Lage dieses abzustellen.

      Dass meine richtigen Eltern mich nicht hatten haben wollen, das hatte in mir ein Liebesdefizit ausgelöst, das meine Pflegeeltern leider nicht beseitigen konnten, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich es gar nicht erst zuließ. Diese Form von Selbstmitleid war bei mir so stark ausgeprägt, dass ich mich sogar selbst darüber ärgerte. Ich verbaute mir praktisch selbst den Weg zu einer Familie, der ich vertraute und die ich liebte. Folglich war ich wütend auf mich selbst. Doch trotz meiner Wut und allen Bemühungen wusste ich, dass es zwecklos war, zu versuchen, diese selbst errichtete Blockade zu brechen. Ich hatte sie in dem Moment aufgebaut, als ich dieses Haus das erste Mal betreten hatte. Damals hatte ich beschlossen, dass ich diese Familie niemals lieben könne, da sie nicht meine eigene war. Ich beschloss sogar, niemals einen Menschen zu lieben, weil ich einfach das Gefühl hatte, ich könnte niemandem mehr trauen, da mich selbst die Menschen verraten hatten, die im Leben eines Kindes die allergrößte Rolle spielen. Diese gestohlene Liebe hatte mir die Fähigkeit zu vertrauen geraubt. Mein Verstand wollte mich vor noch mehr Enttäuschungen bewahren, doch leider bewahrte er mich dadurch auch vor dem glücklichen Gefühl, eine Familie zu lieben. Dass diese Blockade gegen Liebe und Vertrauen ein fundamentaler Fehler gewesen war, stand außer Frage, doch unglücklicherweise war dieser Fehler nicht mehr zu beheben. Je länger die Blockade standhielt, desto mehr verfestigte sie sich. Doch in mancher Hinsicht war es vielleicht auch Glück. Madeleines Liebe mochte echt sein, doch da war sie die einzige in der Familie, die mich wirklich wollte. Bernhard kannte nur Constanze und hatte mich vom ersten Moment an gehasst. Ich konnte mir nur nicht erklären, weshalb das so war.

      Ich schrak aus meinen Gedanken hoch, als ich das Geräusch des Haustürschlüssels hörte, der sich im Türschloss herumdrehte und bald darauf drang ausgelassenes Gelächter an mein Ohr. Einen Moment später stand Constanze in der Türöffnung und sah mich mit diesem Blick an, den sie immer aufsetzte, wenn ich sie störte und ihr im Weg war. Hinter ihr erschienen die Gesichter zweier ihrer Freundinnen und zweier Kerle, die mir gänzlich unbekannt erschienen. In ihren Händen hielten sie Bierflaschen und der Alkoholgeruch, den die Gruppe ausströmte, erfüllte den ganzen Raum.

      „Möchtest du nicht ins Bett gehen, Ben?“ Constanzes direkte Aufforderung das Feld zu räumen, wurde von ihren Freunden mit breitem Grinsen aufgenommen. „Du kannst doch oben mit deinen Kätzchen weiterspielen!“ Das Grinsen wurde noch breiter. Ich warf einen Blick auf die drei Kleinen, die die Äuglein ein Stück geöffnet hatten und die Ohren in Richtung Tür gedreht hatten. Katzen entgeht nun einmal nichts, und besonders nicht, wenn sie an einem Ort unerwünscht sind. Immer das gleiche. Ich tat immer das, was Constanze wollte und machte mich gleichzeitig auch noch zum Gespött ihrer Freunde, was ich natürlich sowieso war, weil ich einige Jahre jünger war als sie und ohnehin merkwürdig. Ein Junge, der Bücher las und sich nicht jedes Wochenende in hochprozentigem Alkohol ersäufte, war für sie nur eine Abart Mensch, eine fremde Spezies die nur rein äußerlich über gewisse Ähnlichkeiten verfügte, doch die nicht zu verstehen war. Lange starrte ich Constanze an, um so etwas wie Freundlichkeit oder Akzeptanz in ihrem Blick zu erkennen, doch sie zeigte nicht mehr freundschaftliche Regungen