Joana Goede

Schlussakt


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Schwester begann, mir ein Kleidungsstück nach dem anderen hineinzureichen, die ich alle nacheinander anprobierte und mit jedem die Kabine verließ, sie Constanze vorführte und dann zum nächsten überging. Diese Prozedur kam mir wie Stunden vor und schließlich stand ich da in einem weißen Hemd und einer schwarzen Jeans, beides so dünn, dass ich schon bei dem Gedanken daran, damit dieses Gebäude zu verlassen, beinahe eine Lungenentzündung davontrug. Das war mein Tod, soviel stand fest. Mir wurde übel.

      Constanze betrachtete mich zufrieden und hängte die anderen Sachen zurück. „Aber das ist mir zu kalt.“, murmelte ich leise, nicht fähig zu einem erfolgreichen Protest, als sie mich zur Kasse schleppte und bezahlte. Ich sollte die Sachen gleich anbehalten, sagte sie.

      Selten hatte ich mich so unwohl gefühlt wie jetzt. Ich sah so aus, als würde ich im nächsten Moment im teuersten Restaurant der Stadt die Speisekarte studieren und ich kam mir lächerlich vor, weil ich diese Kleidung für einen Siebzehn-jährigen für unangemessen hielt, und erst recht für einen Kinobesuch.

      Ich ging einige Schritte zur Seite, als Constanze bezahlte, denn ich wollte gar nicht wissen, wie viel sie wohl für das bisschen Stoff ausgab. Da stand ich wieder vor einem Spiegel und fand mich auf einmal noch magerer und bleicher, ich sah wirklich krank aus, ich gehörte ins Bett. Ich glaubte nicht, auch nur noch einen Schritt gehen zu können. Die Augen der anderen Kaufhausbesucher schienen mich mitleidig zu verfolgen. Was für eine Misere. Und keine Chance auf ein Entrinnen.

      Eigentlich hatte meine Schwester mich danach noch zum Friseur schleppen wollen, doch das ließ die Zeit nicht mehr zu, da in einer halben Stunde der Film im Kino beginnen sollte. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass wir es bitte nicht mehr rechtzeitig schaffen sollten.

      Dann wickelte ich mir meinen Schal nun fünfmal um den Hals und verließ mit meiner Schwester widerwillig das Kaufhaus, in dem ich wenigstens nicht gefroren hatte. Wir würden etwa eine Viertelstunde zum nächsten Kino brauchen. Hätte ich doch bloß eine Mütze mitgenommen.

      Der Parkplatz vor dem Kaufhaus war nun fast wie ausgestorben, keine Rede mehr von Menschenmassen, die so viel Geld wie möglich ausgeben wollten. Die saßen nun alle zufrieden zu Hause vor ihrem Fernseher. Nur ich zitterte am ganzen Körper und verwünschte den Winter, während wir in das kleine Auto einstiegen und Constanze mit Vollgas losfuhr. Es war draußen so dunkel und so still, dass es mitten in der Nacht hätte sein können, dabei war es erst kurz nach halb acht an einem Mittwochabend.

      Die Fahrt kam mir vor wie mehrere Stunden, auch wenn es nur einige Minuten waren. Ich starrte gedankenverloren aus dem Fenster und wünschte mich weit fort, in eine unbekannte Welt, in der es noch so etwas wie Abenteuer und Entdeckungen gab. In eine Welt, in der ich lange Reisen durch nicht erschlossene Landstriche unternehmen konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Das war mein Traum, das war meine ganz eigene Utopie und das war gleichzeitig das, was mich an meiner gegenwärtigen Welt ununterbrochen störte. Man wusste einfach zu viel für meinen Geschmack. Es gab zu wenige Geheimnisse und zu viele Lösungen. Es war nicht mehr möglich, einfach etwas zu glauben ohne es zu beweisen oder etwas abzulehnen ohne das zu begründen.

      Gott bildete für mich dabei die große Ausnahme. Denn ich war mir sicher, dass noch sehr viel Zeit vergehen würde, bis jemand einen stichhaltigen Beweis für oder wider die Existenz Gottes würde erbringen können. Ich wünschte mir, das nicht mehr miterleben zu müssen, denn dann, so glaubte ich, würde die Menschheit elendig zu Grunde gehen, da sie die Fähigkeit zu glauben verloren und sich allein dem Wissen verschrieben hätte. Und die Fähigkeit zu glauben erachtete ich als etwas sehr wichtiges, etwas, das für ein glückliches Leben unerlässlich wäre.

      Ich spürte einmal mehr, dass irgendetwas in meinem Leben gehörig schief lief, auch, wenn ich es immer noch nicht genau benennen konnte. Es war eben dieses Gefühl der Unzugehörigkeit und des allgegenwärtigen Fremden, das mich erschreckte, abstieß und das mich von sich weg schob. Eine gewaltige, nicht überwindbare Antipathie zwischen meinem wirklichen Leben und meiner Traumexistenz, an deren beider Rand ich nur deshalb leben konnte, weil sie sich gegenseitig akzeptierten und tolerierten, aber fürchteten sich zu überlappen und deshalb stets einen gewissen Sicherheitsabstand einhielten, um der Gefahr möglichst aus dem Weg zu gehen. Ich stand praktisch auf Messers Schneide, jeder Schritt bedeutete Gefahr.

      Als ich bei diesem Gedanken angekommen war, hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, verflucht zu sein. Vielleicht nicht verflucht im ursprünglichen Sinne, denn an Zauberei verlor ich keinen Gedanken, sondern eher daran, verdammt viel Pech zu haben, mehr als ein normaler Mensch. Das erschien mir plausibel, denn ich war in einer Situation, in der beides falsch war, zwischen dem ich mich entscheiden musste.

      Einerseits konnte ich bei der Familie bleiben, bei der ich es relativ gut hatte und bei der zumindest mein Überleben gesichert war, war dann aber gezwungen, ein mir fremdes Leben zu leben. Oder andererseits, nahm ich in Kauf, sie zu verlieren und machte mich stattdessen auf die Suche nach meinem wahren Leben und meiner wirklichen Existenz. Es war die denkbar schwierigste Situation, in der man sich befinden konnte, denn ich musste zwischen zwei Fehlern wählen. Auf der einen Seite lauerte Scylla, auf der anderen Charybdis, und beide beobachteten mich mit gierigen Augen, nur darauf wartend, dass ich einen Fehler begehen würde, damit sie leichtes Spiel hatten, mich zu verschlingen.

      Unglücklicherweise war ich kein weiser Odysseus, der auf alles eine Antwort wusste. Ich wusste nur, dass, wenn ich den schwierigen Weg wählen, also mein Zuhause verlassen würde, ich vermutlich genauso lange auf unkontrollierbaren Irrfahrten umher segeln würde, wie mein großes griechisches Vorbild. Allerdings wohl mit weniger Erfolg und ohne festes Ziel, denn mein Ithaka kannte ich noch nicht.

      Ich seufzte bedrückt und ließ den Kopf in meine Hände sinken. Das Motorengeräusch war mir jetzt nur angenehm in den Ohren, da es mir eine Art Schutzwall bot. Ich hatte eine Grenze erreicht, an der ich nicht mehr weiter wusste. Beide Richtungen schienen ins Nichts zu führen und eine schien undurchschaubarer zu sein, als die andere. Das Ziel war ohnehin kaum mehr als ein grober Umriss, von dem ich zwar nicht genau sagen konnte, was er war, der mich aber magisch anzog und mich mit einem Gefühl lockte, dass mir bislang praktisch völlig fremd war, nämlich dem Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit. Prachtvolle Lockvögel.

      Das war also das Ergebnis der letzten Tage und unzähliger Stunden des verzweifelten Nachgrübelns über meine Zukunft. Denn in wenigen Monaten war auch mein einziger Leitfaden, die Schule, dahin, denn dann hatte ich mein Abitur(oder auch nicht, wer wusste das schon?). Dann wäre es an der Zeit, endlich zu entscheiden.

      Ich lehnte meinen Kopf gegen das Fenster und schloss die Augen. Wahrscheinlich gab es kein Richtig und kein Falsch. Wahrscheinlich war sogar alles eine große Lüge, auf die ich hineingefallen war, und wohl auch viele andere. Ich musste also überlegen, ob ich stark genug war, um mich dagegen zu wehren, oder ob ich still leiden und es als mein Schicksal annehmen würde.

      In diesem Moment verschwand das Motorengeräusch und es wurde unheimlich ruhig. Ich wurde unsanft angeschubst und genervt riss ich die Augen auf. Es gab Menschen, die ein unleugbares Talent dafür besaßen, einen anderen immer im ungünstigsten aller Momente zu unterbrechen. Gerade jetzt war ich davon überzeugt, dass Constanze genau zu dieser Sorte Mensch gehörte und ich musste mich trotz meines gefassten Gemüts und meiner körperlichen Schwäche stark zusammenreißen, um sie nicht böse anzufahren und es stattdessen mit einem resignierenden Gesichtsausdruck zu ertragen. Aber irgendwann musste sicherlich auch mir der Geduldsfaden endgültig reißen.

      Ich quälte mich aus dem Auto, fühlte mich schwach und eingefroren und blickte zu dem großen, eckigen Gebäude mit der übertrieben bunten Leuchtschrift auf, die verkündete, dass es sich bei diesem außergewöhnlich scheußlichen Klotz um ein sehr modernes Kino handelte, was der Betrachter sich auch unschwer aus der unüberblickbaren Vielzahl an Film-Plakaten hätte erschließen können, doch selbst dieser Schritt wurde ihm abgenommen. Der Zweck dieses Gebäudes war sicherlich meilenweit nicht zu übersehen.

      Ich fühlte mich auf einen Schlag noch unwohler und es widerstrebte mir mich in dieses Gebäude hineinzubewegen und mich irgendeinem fiktionalen Ereignis, das nach allen Regeln der Kunst unglaublich spannend und nervenkitzelnd arrangiert war, als normaler Konsument hinzugeben. Abgesehen davon war ich mir schon, bevor ich alle Plakate