Joana Goede

Schlussakt


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dekoriert waren, und blieb sogar das ein oder andere Mal stehen. Aber ich betrat kein einziges Geschäft. Das Einkaufen lag mir nicht. Aber trotzdem erwischte ich mich manchmal dabei, wie ich lange vor einem Schaufenster stand und mir die ausgestellten Dinge bewundernd ansah.

      Das Pochen in meinem Arm hatte nachgelassen, doch ich spürte die starke Schwellung und wagte gar nicht nachzusehen, welche Farben mein Arm mittlerweile angenommen hatte. Wahrscheinlich war er mittlerweile gar nicht mehr als Arm erkennbar.

      Als ich mein Ziel erreichte und die Haustür aufschloss, schlug mir angenehme Wärme und der Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen entgegen. Ich zog meine Schuhe aus, hängte Jacke, Mütze und Schal zum trocknen über die Heizung und ging dann durch den Flur zur Treppe, um mich umzuziehen.

      „Ben, bist du das?“, hörte ich plötzlich Madeleines Stimme aus der Küche. Gleich darauf trat sie in den Flur mit einem Handtuch in der Hand. „Wo warst du?“, fragte sie und musterte meine nasse Kleidung. „Ich war in der Kirche“, antwortete ich, nicht bereit, mehr zu erzählen. Madeleine fragte sich wohl einen Augenblick, warum ich denn gerade heute da gewesen sei, wo doch gar kein Gottesdienst war, doch sie wusste, dass sie es vermutlich nicht aus mir herausbringen konnte. Wenn ich es hätte erzählen wollen, hätte ich es sicher schon getan. Dafür kannte sie mich gut genug.

      Ich drehte mich herum und ging nach oben in mein Zimmer. Eigentlich wollte ich Madeleine die Geschichte mit dem Zaun nicht unbedingt erzählen. Vielleicht sollte ich einfach sagen, ich sei gestolpert. Doch im lügen war ich nicht besonders gut. Ich hätte mich verhaspelt und dann hätte ich schließlich doch die Wahrheit sagen müssen. Das wäre dann umso schlimmer gewesen.

      Nachdem ich mich umgezogen hatte, hängte ich mir einen Pullover über den Arm und ging im T-Shirt hinunter, denn wenn Madeleine den Arm verarzten wollte, wäre der Pullover sicher nur hinderlich.

      Ich hatte mich noch nicht getraut, ihn anzusehen und vermied auch jetzt, auf meinem Weg nach unten, jeden Blick in diese Richtung. Wenn er so aussah, wie er sich anfühlte, konnte ich auf den Anblick gut verzichten.

      Madeleine war nun im Wohnzimmer und deckte den Tisch zum Kaffeetrinken. Der warme Apfelkuchen stand bereits auf dem Tisch. Ich setzte mich auf das Sofa und wartete, bis Madeleine sich umdrehte, um Teller aus der Küche zu holen. „Ich bin vom Zaun gefallen.“, sagte ich dann, und bevor Madeleine etwas antworten konnte fuhr ich fort: „Dabei bin ich auf meinem linken Arm gelandet. Ich wollte den Weg zur Kirche abkürzen, weil ich nicht nass werden wollte und da bin ich über den großen Drahtzaun geklettert und abgerutscht.“, ich streckte ihr den geschwollenen linken Unterarm entgegen, in der Hoffnung, dass sie über diesen Anblick vergaß, dass es verboten war, über diesen Zaun zu klettern. Das erwies sich als gute Taktik.

      Tatsächlich setzte sie sich erst einmal neben mich und zog den Arm zu sich heran. Jetzt riskierte auch ich einen Blick. Von meiner aufgeratschten Handfläche an, bis zu dem äußerst blauen und angeschwollenen Ellbogen, strahlte mein Unterarm in allen möglichen Farbabstufungen von gelb über grün zu blau, bis zu einem besonders dunklen Violett.

      Darüber hinaus war er so sehr angeschwollen, dass er fast nichts Menschliches mehr an sich hatte. Ein bunter Klumpen Schmerz. Madeleine schluckte eine Bemerkung herunter, in Anbetracht dieses Anblicks und verschwand im Bad. Ich ließ mich zurücksinken und starrte an die Decke. Hoffentlich schickte sie mich nicht zum Arzt.

      Nach einer Weile kam sie wieder, mit einer dicken Tube Salbe und mehreren Mullverbänden. Doch bevor sie die Salbe auftrug, tastete sie auf sehr unangenehme Weise meinen Knochen ab, um sicher zu gehen, dass nichts gebrochen war. Das alles tat sie mit dem gleichgültigen Blick einer Mutter, die viele Jahre Krankenschwester gewesen war, und der solche Verletzungen, besonders bei Schuljungen, die gern Fußball spielten, sehr vertraut waren. Ich wusste, dass ich keine Gnade zu erwarten hatte, und biss stattdessen die Zähne zusammen. Um nicht zu Arzt zu müssen, würde ich beinahe alles über mich ergehen lassen.

      „Eigentlich müsstest du zum Arzt“, sagte Madeleine und ich stöhnte hörbar. Immer dieser Arzt, der mit seinem Herumgequetsche alles nur noch schlimmer machte, als vorher. Darauf konnte ich gut verzichten. „Ich bin mir nicht sicher, ob er gebrochen ist. Wir müssen ihn röntgen lassen.“, sagte Madeleine und schmierte mit großer Sorgfalt eine dickte Schicht angenehm kühlende Salbe auf meinen Arm, den sie danach mit schnellen, geübten Bewegungen verband. „Sonst hast du dir nirgends weh getan?“, fragte sie und betrachtete mich mit einem Blick, der jede Lüge sofort erkannt hätte. Ich schüttelte den Kopf und fügte hinzu, dass sonst alles in Ordnung sei. Dabei verdrängte ich, dass ich mich gewiss erkältet hatte. Das wusste meine Mutter mit Sicherheit selbst, hielt mich aber für alt und vernünftig genug, um zu entscheiden, was ich in einer solchen Situation zu tun hatte.

      „Am besten fahre ich dich jetzt erst einmal zum Arzt“, sagte Madeleine, stand auf und holte ihre Jacke und die Autoschlüssel. Ich bewegte mich nicht und schaltete auf stur. Sie wusste doch genau, wie sehr ich den Arzt verabscheute. Leider zwang sie mich doch dazu, mitzukommen. Sie erzählte mir auf der Fahrt dorthin furchtbare Geschichten, von Menschen, die sich etwas gebrochen hatten, und danach war der Knochen schräg zusammengewachsen. Der musste dann wieder gebrochen und gerichtet werden. Ich schauderte, wie immer, wenn sie Geschichten aus ihrer Zeit im Krankenhaus erzählte. Ich hatte Angst, dass mir so etwas auch passierte, aber genau darauf hatte sie es mit ihren Geschichten ja angelegt. Trotzdem war mir nicht wohl bei dem Gedanken, zum Arzt zu fahren.

      Leider waren wir schon nach wenigen Minuten da. Das Wartezimmer war vollkommen überfüllt und wir hatten keinen Termin. Da saßen Mütter mit ihren Kindern, die so aussahen, als wären sie mehr als einmal von dem Baum im Garten gefallen. Auch Erwachsene waren da, die irgendein Körperteil in Gips hatten und gelangweilt vor sich hinstarrten. So ein Wartezimmer war meistens bis zum Bersten gefüllt mit Langeweile, die einem schon an der Rezeption entgegen strömte. Dazu noch der Geruch von Krankheit und Elend. Wirklich fürchterlich. Wenigstens saßen wir hier in der Abteilung für Knochenverletzungen und nicht dort, wo einen von allen Seiten Menschen mit starker Erkältung anhusteten und anniesten. In diesen Wartezimmern wurde man dann garantiert richtig krank, wenn man es vorher noch nicht gewesen war. Da lobte ich mir doch den Tierarzt.

      Natürlich dauerte es auch dementsprechend lange, bis ich endlich zum Arzt gerufen wurde. In der Zeit hatte Madeleine alle Zeitschriften auf dem Tischchen in der Mitte durchgeblättert und ich hatte alle Flecken und Risse an den Wänden genau studiert und untersucht, weil Zeitschriften mich nicht interessierten. Da blieben mir nur die Patienten und die Wände zur Auswahl. Ich hatte mich für die Wände entschieden, weil die nicht so gereizt reagieren, wenn man sie die ganze Zeit anstarrte. Patienten werden dann in der Regel ungehalten.

      In regelmäßigen Abständen warf ich meinem Arm böse Blicke zu, der immer noch pochte und sich gar nicht beruhigen wollte. Ich sah schwarz für ihn, vermutlich musste er in Gips. Und alles nur wegen dieses dummen Zaunes.

      Als ich nun endlich zum Arzt kam, warf dieser einen Blick auf meinen Arm, sagte: „Oh weiha“, und schickte mich zum Röntgen nach nebenan, wo ich wieder eine halbe Stunde warten musste, bis ich meinen Arm endlich durchleuchten, fotografieren lassen und wieder zum Arzt bringen durfte. So konnte man seinen Tag auch verbringen. Der betrachtete dann lange mit erstem Blick mein Röntgenbild und eröffnete mir anschließend mit Grabesstimme, mein Arm sei nicht gebrochen, ich hätte noch einmal Glück gehabt und eine Krankenschwester würde mich verarzten. Als ich endlich wieder zu Hause ankam fühlte ich mich unglaublich schlecht und müde. Man hatte mir Schmerztabletten mitgegeben, mein Arm lag in einer Schlinge, aber immerhin nicht in Gips. Ich sollte jeden Tag eine bestimmte Salbe auf ihn auftragen und ihn neu verbinden. Natürlich müsse ich ihn auch schonen. Das war alles, das hätte ich mir auch selbst denken können. Dafür hatte ich nun den ganzen Nachmittag fern meines Bettes verbracht, obwohl sich meine Erkältung schon meldete.

      „Ich leg mich jetzt ins Bett“, nuschelte ich und verzog mich nach oben, als wir in Flur unsere Jacken aufhängten. „Dann bring ich dir nachher ein Stück Kuchen und Tee“, rief Madeleine mir hinterher, als ich schon auf der Treppe war. Erkältungstee, dachte ich und verzog mein Gesicht.

      Unterwegs sammelte ich meine drei Kätzchen ein, die im Flur mit den Fransen des Teppichs spielten. Ein bisschen Gesellschaft