Eric Boss

Blood Vision


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unter Tränen, ins Ohr geflüstert, dass bald alles gut werden würde.

      Aber diesmal kam niemand in ihre Arme gelaufen.

      Als das matte Licht der Glühbirne den Raum auf gespenstische Weise erhellte, saß er einfach nur da. Still, blass und mit eingefallenen Augen.

      Fast wie ein Geist.

      Julie schauderte, wollte etwas sagen, aber etwas in seinem Blick ließ sie verstummen. Langsam hob der Junge den Kopf. Seine dunklen Augen schienen Julie zu durchbohren und bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen. Endlose Sekunden lang. Eine Leere lag in diesem Blick, wie Julie sie noch nie zuvor erlebt hatte. Dann begann er zu sprechen. Leise, aber sehr deutlich:„Er hat mit mir gesprochen.“

      „Wer?“

      Aber der Junge schwieg.

      „Wer verdammt nochmal! Wer hat mit dir gesprochen?“

      Julies Stimme hatte einen hysterischen Klang angenommen. Sie machte noch einen Schritt auf ihn zu, um ihm sanft übers Haar zu streichen, hielt aber sofort inne, als sie seine abwehrende Geste registrierte.

      „Bitte sag mir wer!“

      Endlich hob der Junge seinen Kopf. Der Blick in seinen Augen jagte Julie einen eisigen Schauer über den Rücken.

      „Der Mann mit dem Narbengesicht.“

      Julie Simpson begann zu zittern. Erst nur die Fingerspitzen, dann der ganze Körper. Sie wusste, wer dieser Mann war. In letzter Zeit hatte ihr Junge immer wieder von ihm erzählt. Und jedes Mal hatte seine Stimme dabei diesen schrillen, panischen Unterton angenommen. Trotzdem hatte Julie ihn nicht ernst genommen. Wie so oft in seinem Leben.

      Aber nun begriff sie plötzlich, dass das ein Fehler gewesen war. Zu deutlich sah sie es in seinen Augen. Etwas war geschehen. Etwas Schlimmes.

      „Was hat er gesagt?“, fragte sie vorsichtig.

      Diesmal antwortete er sofort. Er senkte seine ohnehin schon leise Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern. Dann hauchte er nur ein Wort: „Tod.“

      Chicago, Illinois – Oktober 2012

      1.

       ... lassen Sie Ihre Albträume Wirklichkeit werden. Erleben Sie eine Nacht, die sie nie vergessen werden ...

      So lautete eine der schmierigen Werbeanzeigen des Elite Clubs. Obwohl die Werbung nicht immer hielt, was sie versprach, war der exklusive Club längst zum beliebtesten Ziel der gehobenen Sado-Maso-Szene geworden. Gutes Programm, diskrete Lage am Rande der Stadt und viel Abwechslung. Jedes Wochenende trafen sich dort im Erdgeschoss die Reichen der Stadt, um die verschiedensten Shows zu genießen. Männer, Frauen und erstaunlich viele Paare.

      Eine Etage tiefer, im Keller, waren dann hauptsächlich männliche Wesen zu finden. Für ganze Monatsgehälter eines durchschnittlichen Arbeiters wurden dort ihre dunkelsten Fantasien Wirklichkeit. Wohlhabende Männer ließen sich quälen, demütigen, auspeitschen und noch vieles mehr.

      Auch an diesem Abend war die SM-Show wieder restlos ausverkauft. Schon ein paar Minuten nach Beginn erfüllte der penetrante Geruch von Schweiß den engen Raum. Wie immer drängten sich gaffende, vor Erregung bebende Zuschauer grob nach vorne. Rücksichtslos und gewalttätig.

      Sie hatten alle viel Geld bezahlt und wollten nun kein Detail der Show verpassen. Sie waren hier um einen Abend zu erleben, den sie nie vergessen würden. Und im Gegensatz zu vielen anderen Abenden zuvor sollte dieser Wunsch heute Wirklichkeit werden. Der schreckliche Albtraum dieser Show sollte sich für immer in die Gehirne der Zuschauer einbrennen.

      „Das war der erste Teil unserer beliebten SM-Show. Wir werden nun fünfzehn Minuten Pause machen ...“

      Männer und Frauen waren gleichermaßen beeindruckt als Samantha Blake die Bühne betrat. Groß, schlank und mit wallendem Haar, das beinahe ihren perfekt geformten Po berührte. Ihr hauteng anliegendes Lederkorsett, die stahlblauen Augen und die Art, wie sie eine schmale Reitgerte in ihren Händen bog, ließen den Atem des Publikums schneller werden.

      „... danach erleben Sie wie bei uns unfolgsame Schulmädchen gezüchtigt werden. Schlechtes Benehmen und Faulheit werden hier nicht toleriert!“, fuhr sie in strengem Ton fort.

      Zustimmende Rufe erklangen vom Publikum und die Ersten begannen zu applaudieren. Samantha schien es zu genießen und ließ ein paar Augenblicke verstreichen, ehe sie wieder das Wort ergriff.

      „Unsere verzogene Kleine hier“, sagte sie, während sie mit ihrer Gerte auf eine von Kopf bis Fuß in Latex eingehüllte Gestalt an einem Andreaskreuz deutete, „wird die Pause in dieser Position verbringen, ohne sich zu bewegen. Verstanden?“

      Das letzte Wort galt eigentlich dem jungen Mädchen am Kreuz, das sofort demütig den Kopf neigte. Aber Samanthas Ton war so beißend geworden, dass auch ein paar Zuschauer unbewusst mit dem Kopf nickten. Wie Samantha Blake so auf der Bühne stand, schien sie einfach alles und jeden zu überragen. Das Ebenbild einer Göttin. Einer Göttin, die direkt aus der Unterwelt gesandt worden war, um die menschlichen Sünder zu bestrafen. Hart und erbarmungslos.

      Die Vorhänge schlossen sich und die gaffende Stille wich einem regen Treiben. Getränke wurden geholt, Small Talk betrieben und die verschiedensten Ideen ausgetauscht. Keiner schien die dunkle Gestalt, die irgendwas hinter der Bühne hantierte, zu bemerken. Und die wenigen, welche die dunklen Umrisse registrierten, hielten sie für einen Bühnenarbeiter.

      Genau fünfzehn Minuten später hatten die Zuschauer ihre Plätze wieder eingenommen. Die Vorhänge öffneten sich. Zu diesem Zeitpunkt realisierten die ersten, aufmerksameren Zuschauer bereits, dass etwas nicht stimmte.

      Es lag an dem Mädchen am Andreaskreuz.

      Zwar erinnerten sich alle an Samanthas Worte, trotzdem schien die Haltung des gefesselten Mädchens etwas zu bewegungslos. Es hing einfach nur in den Seilen. Kraftlos und ohne die natürliche Körperspannung.

      Auch Samantha, die gerade den zweiten Teil der SM-Show ankündigen wollte, bemerkte es. „Stell dich ordentlich hin, kleine Schlampe!“

      Ein paar Zuschauer klatschten, aber ein Gefühl der Unruhe blieb. Es hing im Raum wie eine dunkle Wolke. Das Mädchen rührte sich nicht.

      Samantha Blakes Augen schienen Funken zu sprühen. Sie hasste es, wenn ihre Shows nicht perfekt liefen und ihre Befehle ignoriert wurden. Soweit sie sich erinnern konnte, war so was noch nie vorgekommen. Drohend ließ sie die biegsame Reitgerte durch die Luft zischen. „Auf jetzt!“

      Als sich das Mädchen immer noch nicht rührte, ergriff das Gefühl von Unruhe auch Samantha. Plötzlich bemerkte sie den seltsamen, leicht süßlichen Geruch, der von der gefesselten Gestalt ausströmte.

      Zögernd streckte Samantha ihre Hand nach dem Mädchen aus. Ihre Finger begannen zu zittern, als sie ihr vorsichtig die schwarze Ledermaske über den Kopf streifte. Dann ...

      ... versank die Welt für ein paar endlose Sekunden. Samanthas Augen weiteten sich vor Entsetzen. Panik. Unglauben.

      Ihr kreischender Schrei erfüllte den Raum. Ein spitzer, animalischer Laut, der von den Wänden widerhallte und von dutzenden Kehlen erwidert wurde. Ein bizarres Echo, das wie auf Kommando, von den lauten Schreien des Publikums verstärkt wurde. Denn nun sahen es auch sie.

      2.

      „Gottverdammte Scheiße, es ist vier Uhr morgens!“, brüllte Michael in sein Handy.

      „Er hat wieder zugeschlagen“. Die ruhige Stimme von Special Agent Landers holte ihn zurück in die Realität. Langsam verblassten die wirren Träume von Wasserleichen und Köpfen, die ihn ohne Augen anstarrten. Von Frauen, die ihn betrogen und einem Vater, der ihn seit seiner Geburt hasste.

      Nur das Hämmern in seinem Kopf blieb.

      „Sorry“, sagte Michael