Eric Boss

Blood Vision


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dem Schatten ihres mächtigen Kleiderschrankes.

      Langsam näherte sich der dunkelgekleidete Mann und trat an ihr Bett.

      Dort verharrte er eine ganze Weile. Studierte die Konturen des hübschen Kindergesichtes. Beobachtete, wie sich die Bauchdecke des Mädchens bei jedem Atemzug leicht anhob und wieder senkte.

      Noch schlief Amelie.

      Aber schon bald würde sich ihr Leben verändern. Für immer. Denn nun war er hier im Haus.

      Ganz nah.

      6.

      Michael stand noch immer gedankenverloren im Raum, während Kate sich bereits angeregt mit einem jungen Forensiker der Entomologie unterhielt.

      „Michael, kann ich noch einen Augenblick mit Ihnen alleine sprechen?“

      Abrupt sah er auf. Jo Maryland hatte ihm leicht die linke Hand auf die Schulter gelegt.

      Michael nickte: „Um was geht’s?“

      Schweigend gingen sie mehrere Schritte nebeneinander. Dann begann Jo Maryland: „Sie wissen, ich erzähle den Leichen auf meinen Tischen mehr über meine Gefühle als meiner Frau oder sonst wem, aber ...“

      „... Die hören wenigstens zu, ohne einen zu belügen. Was man von Lebenden nicht behaupten kann“, warf Michael ein.

      Beide lachten. Es war das trockene, humorlose Lachen von Männern, die schon zu viel Schreckliches erlebt hatten. Dann wurde Jo Maryland wieder ernst: „Ich arbeite jetzt schon 25 Jahre fürs Morddezernat. Ich habe Dinge gesehen, die stehen in keiner Zeitung und werden in keinem Film gezeigt ...“

      „Was heutzutage etwas heißen soll“, bemerkte Michael Scott trocken, aber diesmal wurde er von Maryland ignoriert.

      „... Aber nie etwas wie das hier“, fuhr er fort, „Es ist nicht nur die Grausamkeit der Morde, es ist diese unglaubliche Perfektion während der Ausführung. Die unheimliche Inszenierung danach. Es ist das bizarre Spiel eines Wahnsinnigen.“

      Er seufzte und musterte Michael mit klugen Augen. Dann kam er zum Punkt: „Passen sie verdammt gut auf Kate auf.“

      „Wie bitte?“

      „Solche Fälle machen Menschen kaputt. Ich habe das schon öfters miterleben müssen. Bei uns beiden spielt das keine Rolle mehr.“ Er lachte bitter. „Aber um Kate wäre es schade. Sie ist im Grunde immer noch ein guter, herzlicher Mensch. Wenn ich die Befugnis hätte, würde ich sie davon abziehen.“

      „Sie ist erwachsen und gehört zu den Allerbesten!“, widersprach Michael, „Und Jo, das sage ich!“

      Aber sein Tonfall wirkte weit weniger überzeugend als seine Wortwahl.

      Die beiden Männer sahen sich lange an, ehe Michael todernst erklärte: „Kate ist so ziemlich der einzige Mensch, den ich mag. Ich würde mein Leben geben, um sie zu schützen.“

      „Hoffen wir, dass es nicht so weit kommen wird.“

      Michael schluckte.

      Düstere Vorahnungen zuckten durch sein Gehirn. Bruchteile von Sekunden nur und nicht greifbar, aber mit der Intensität von elektrischen Stößen.

      Maryland schüttelte leicht den Kopf: „Dieser Mann ist gefährlicher als alle Psychopaten, die wir je hatten. Er ist eine Bestie. Eine geniale Bestie.“

      7.

      Geilheit!

      Geilheit auf den ersten Blick. Gab es das überhaupt? Falls ja, war es genau das, was Michael fühlte, als er Samantha Blake das erste Mal sah. Dabei machte sie sich keine Mühe irgendwie hübsch auszusehen. Sie hatte ihr Domina-Outfit gegen eine schlichte Jeans und ein weit ausgeschnittenes, lila Top getauscht. Außerdem wirkte sie müde, geschockt und lümmelte demonstrativ uninteressiert in einem schwarzen Ledersessel. Trotzdem wusste Michael vom ersten Augenblick an, dass er diese Frau ficken wollte.

      „Verzeihung Miss Blake. Ich muss ihnen noch ein paar Fragen stellen. Mein Name ist ...“

      „Ich dachte, dass ich diesem Gartenzwerg bereits alles gesagt habe“, unterbrach Samantha ihn missmutig, „steht alles im Protokoll“.

      „Es dauert wirklich nicht lange. Ich bin selbst hundemüde und habe ebenfalls ein paar abgefuckte ... Stunden hinter mir.“

      Eigentlich hatte er abgefuckte Tage sagen wollen. Oder Wochen? Jahre? Egal, es ging sie nichts an.

      Jedenfalls verzog er seine Mundwinkel zu einem entschuldigenden Lächeln und bemerkte zum ersten Mal etwas wie Sympathie in ihren Augen.

      „Wollen Sie wissen, wo ich in der Viertelstunde Pause war“, fragte sie spöttisch.

      Michael erwiderte den Blick ihrer schönen, dunklen Augen mindestens ebenso spöttisch. In seiner gesamten Karriere hatte er diese dämliche Alibi-Frage noch nie gestellt. Nie, ohne die Antwort bereits zu kennen.

      Überhaupt hatte er sich noch nie an irgendwelche didaktisch aufgearbeiteten Module oder irgendwelche psychologisch ausgetüftelten Fragebögen gehalten. Auch jetzt lächelte er leicht und fragte direkt, in harmlosen Ton: „Haben sie einen Verdächtigen, Miss Blake?“

      Dabei ließ er seinen Blick demonstrativ durch den düsteren Raum wandern. Von lebensgroßen Schwarz-Weiß-Fotografien bildhübscher Sklavinnen über diverse Peitschen, Rohrstöcke und Ruten bis hin zu diversen Ketten und Masken, die überall an den Wänden hingen.

      Definitiv das seltsamste Büro, das er jemals gesehen hatte.

      Gleichzeitig aber beobachtete er Samantha scharf aus den Augenwinkeln. Das Spiel ihrer Mimik. Augen. Mundwinkel. Stirn. Jede noch so verborgene Reaktion auf seine Frage. Es war nahezu unmöglich Michael Scott zu bluffen. Er hätte ein berühmter Pokerstar werden können, wären da nicht diese unkontrollierbaren Wutausbrüche bei Bad Beats gewesen.

      Aber an jenem Tag bemerkte er nichts Verdächtiges.

      Samantha überlegte zwei, drei Sekunden ernsthaft und schüttelte nur den Kopf. Absolut glaubwürdig.

      „Wo bekommt man diese Latexanzüge her?“, fragte er weiter.

      „Was für Anzüge?“

      „Einen jener Anzüge, den das Opfer anhatte.“

      „Tja, die gibt’s in jedem SM-Shop“, antwortete Samantha und fügte rasch hinzu: „Auf so was stehen viele Männer. Sie auch, Agent Scott?“

      Sie lachte, vielleicht eine Spur zu laut. Michael beobachtete sie scharf und ignorierte ihre Frage.

      Danach unterhielten sie sich ein paar Minuten über alles Mögliche, wobei Michael versuchte möglichst freundschaftlich zu klingen. Was ihm bei dieser Frau ausnahmsweise nicht schwerfiel.

      Schließlich meinte er knapp: „Noch eine Frage, dann sind Sie mich los.“

      „Dann mal los!“

      „Wer arbeitet hinter der Bühne?“

      „Mein Bruder Philip“, war die knappe Antwort.

      Es klang sachlich und nüchtern, aber Michael war nicht entgangen, dass sich ihre Nasenflügel geweitet hatten. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber zu lange um es vor Michael Scott zu verbergen. Eine unbewusste und unmöglich zu kontrollierende Geste bei beginnendem Stress.

      „So, so ihr Bruder ... dann macht die Mutter wohl die Buchhaltung?“

      „Meine Mutter hat sich das Gehirn mit einer Pumpgun weggefetzt. Auf dem Dachboden. Als ich die Stiege hochrannte, rollte mir ihr linkes Auge entgegen!“

      Michael schluckte, sah Samantha kurz an, schluckte wieder. Verdammt, der Witz wäre so schon nicht gut gewesen. „Es ... es tut mir leid“, stotterte er, „keine weiteren Fragen