Michael Stuhr

DIE GABE


Скачать книгу

und Müllmänner keinen Zugang zu den Wohnhäusern hatten.

      Auf einen Zaun um das Gelände herum hatte man verzichtet. Nur ein großes Schild an der Zufahrtsstraße wies unübersehbar in mehreren Sprachen darauf hin, dass alle Besucher sich zuerst in der Poststelle zu melden hatten.

      Diego fühlte sich nicht als Besucher, und die Schranke war oben, also fuhr er unbehelligt auf das Gelände und parkte den Porsche direkt am Wohnheim neben einem Maserati-Cabrio. Er verzichtete darauf das Verdeck des Wagens zu schließen, nahm sein Gepäck und ging auf den Haupteingang zu. Nach knapp zwanzig Schritten stoppte der Van eines privaten Wachdienstes neben ihm. „Leichte Jagd, Sir“, sprach der Beifahrer ihn mit dem Gruß der Darksider an.

      Diego blieb stehen. „Langes Leben! Ich wohne hier“, sagte er. „Erstsemester, äh - Freshman.“

      „Willkommen in Berkeley, Sir.“ Der Beifahrer stieg aus. „Dürfte ich Ihre Papiere sehen?“

      „Sicher.“ Diego stellte die Taschen ab und reichte dem Mann seinen Pass und die Bestätigung der Hausverwaltung für Zimmer 512 zum heutigen Tag.

      „Danke, Sir.“ Der Mann kletterte wieder auf den Beifahrersitz und glich die Daten auf einem Notebook ab, das auf dem Armaturenbrett angebracht war. Er brauchte dafür nur wenige Sekunden, da er bloß die Barcodes auf den Dokumenten auslesen musste.

      „Alles in Ordnung Sir.“ Der Mann reichte Diego seine Papiere zurück. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“

      „Danke.“ Diego nahm die Taschen wieder auf und ging ins Haus.

      Die Verwaltung hatte zur Schlüsselübergabe eine dunkelhaarige junge Frau geschickt, die in der Eingangshalle auf ihn wartete. Ohne jeden Zweifel eine Darksiderin. Sie trug eine Kennkarte an ihrer Kostümjacke und verzichtete darauf, seine Papiere zu prüfen, als er sich mit kurzen Worten vorstellte. Wahrscheinlich hatte sie durch die Glastüren hindurch gesehen, dass der Mann von der Security das schon erledigt hatte. „Leichte Jagd!“, grüßte sie.

      „Langes Leben!“, wünschte Diego mit einem unverbindlichen Lächeln.

      „Ich bin Alicia Moss von der Hausverwaltung. Willkommen in Berkeley. Das Beste wird sein, wenn wir zunächst zu deinem Zimmer gehen, damit du das Gepäck abstellen kannst.“

      „Gerne.“ Diego folgte ihr zu den Aufzügen. „Ist mein Mitbewohner eigentlich schon da?“

      „Oh, ich fürchte, das weiß ich nicht“, sagte Alicia mit einem bezaubernden Lächeln, „aber ich könnte nachfragen.“ Sie griff nach ihrem Handy.

      „Nicht nötig, danke“, wehrte Diego ab. In spätestens zwei Minuten würde er ja sowieso wissen, ob Hercule den Weg hierher auch schon gefunden hatte.

      Hatte er nicht, also konnte sich Diego ganz in Ruhe die Einrichtungen des Hauses zeigen lassen und seine Seite des Zimmers einräumen. Gerade schloss er das Stromkabel seines Notebooks an, als es vor der Tür rumorte. Schabende und schleifende Geräusche drangen durch das Holz, gefolgt von einem Poltern und einem leisen Fluch. Statt anzuklopfen trat jemand von außen gegen die Tür. Den Geräuschen nach musste das die Lieferung mit der schweren Bücherkiste sein. Diego ging eilig zur Tür und öffnete sie.

      „Hallo, Diego!“ Es war Hercule, der sich gleich drei prallvolle Reisetaschen umgehängt hatte. Auf dem Weg hierher waren die Gurte ihm allerdings von den Schultern gerutscht, hingen jetzt in den Armbeugen und behinderten ihn bis zur Bewegungslosigkeit. Ändern konnte er daran nichts, denn vor sich trug er einen Flachbildschirm von enormen Ausmaßen, auf dessen Sichtfläche alles mögliche Zeug gestapelt war. Diego erkannte eine Notebook-Tasche, eine X-Box mit den nötigen Controllern und DVDs, eine Mini-Stereoanlage mit Lautsprecherboxen und einige unidentifizierbare Geräte, die aber bestimmt alle auch gewaltig viel Krach machen konnten. Ganz obenauf thronte ein Plastik-Totenschädel mit einem Elektrokabel daran.

      „Mein Nachtlicht“, erklärte Hercule, der Diegos Blick bemerkt hatte. „Der leuchtet. Klasse, was? Ich kann im Dunklen doch nicht schlafen. Er kann auch singen. Drei Lieder. Zeig ich dir. Ich schließ ihn gleich an.“

      „Hallo, Hercule.“ Diego spähte in den Flur. „Ist niemand von der Hausverwaltung da?“

      „Nein.“ Hercule schüttelte den Kopf. „Dieser Hausmeistertyp ist mit dem Taxifahrer gleich zurück zum Tor. Ich hab gehört, dass du schon da bist, da hab ich dem gesagt, dass du mir alles hier zeigst.“

      „Ah, ja. Na, komm rein.“ Diego trat zur Seite. „Soll ich dir was abnehmen?“

      „Nicht nötig!“, wehrte Hercule ab. „Ich hab’s im Griff.“ Ungestüm drängte er voran und prompt verkantete sich der Bildschirm im Türrahmen. Der bekam einen gehörigen Kratzer, was Hercule aber nicht weiter störte. Mit noch ein wenig mehr Druck ging es dann doch. Lacksplitter rieselten zu Boden und Hercule war im Zimmer. Allerdings verhakte er sich mit dem Tragegurt einer weit abstehenden Tasche am Türknauf und wäre durch die plötzliche Bremsung fast gestürzt. Statt nun aber einen Schritt zurückzugehen, um die Spannung aus dem Gurt zu nehmen, trampelte er hilflos auf der Stelle, bis Diego ihn befreite.

      „Welche Seite ist meine?“ Hercule schwankte gefährlich unter seiner Last.

      „Du schläfst links“

      „Okay!“ Hercule steuerte nach rechts und baute sich vor dem Bett auf, das dort stand.

      „Nein, nein, da schlafe ich“, protestierte Diego.

      „Ich weiß“, strahlte Hercule ihn an, und ließ den Stapel von seinen Armen auf die Bettdecke rutschen. „Aber ich muss doch noch einräumen. Da kann ich doch nicht meine eigene Seite blockieren. Da wär’ ich ja blöd!“ Schwungvoll klatschte er die erste seiner drei Umhängetaschen zu dem übrigen Zeug auf Diegos Bett.

      „Pass auf, Hercule!“ Diego hielt ihn am Arm fest und schaute ihn ernst an. „Wenn du das hier überleben willst, dann musst du lernen, zuzuhören. Also pass auf: Dein Bett steht links, also steht auch dein Schrank links, genau wie dein Schreibtisch und dein Stuhl. Und dieser Müllhaufen auf meinem Bett verschwindet jetzt auch nach links, und zwar zügig, sonst fliegt das Zeug im hohen Bogen runter!“

      „Nach links“, vermutete Hercule mit eingezogenem Kopf.

      „Auf deine Seite!“, bestätigte Diego. „Denn das hier ist die rechte Seite - meine Seite, kapiert?“

      „Jetzt sei doch nicht gleich so“, maulte Hercule, ging aber mit den restlichen beiden Taschen auf seine Seite des Zimmers, stellte sie dort auf den Boden und begann Diegos Bett abzuräumen. Zuletzt nahm er den Totenkopf, schloss ihn an eine Steckdose an und stellte ihn am Kopfende seines Betts auf die Fensterbank. Es war noch zu hell im Zimmer, sodass der Effekt nicht richtig zur Wirkung kam; das Teil sah aber so schon abscheulich genug aus.

      „Jetzt pass auf!“ Hercule schlug dem trübe glimmenden Ding auf die Schädeldecke, das sofort anfing mit knarzender Stimme Somwhere over the rainbow zu plärren. Der Kiefer öffnete und schloss sich im Takt und untermalte die Vorstellung mit knackenden Geräuschen.

      „Götter der Tiefsee!“, fluchte Diego. „Stell das ab!“

      „Geht nicht“, grinste Hercule. „Der singt immer zu Ende, aber ich kann den Song wechseln.“ Wieder ließ er seine Hand auf den Schädel klatschen, der sofort zu Always look on the bright side of live wechselte.

      Blitzschnell war Diego bei Hercules Bett und zog den Stecker aus der Wand. Sofort brach das Lied ab und der Kiefer des Plastikschädels blieb weit geöffnet stehen, was dem Ding ein erstauntes Aussehen verlieh.

      „Aber du hast das dritte Lied doch noch gar nicht gehört“, protestierte Hercule.

      „Später!“ Es war Diego völlig klar, dass er es in allzu naher Zukunft wirklich hören würde. Das war unvermeidlich und im Moment tat es ihm mächtig Leid, dass er seinen Eltern das Versprechen gegeben hatte, sich um Hercule zu kümmern.

      Etwas beleidigt stöpselte Hercule den Stecker wieder ein, verzichtete aber darauf, Diego das dritte Lied