Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


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kam, drückte er die Klinke nieder und trat ein. Hinter ihm fiel die Tür zu. Der Raum war stockdunkel, seine Hand suchte den Lichtschalter, fand ihn nicht, er tastete sich an der Wand längs weiter. Kein Lichtstrahl drang durch die Fenster, die Jalousien waren herabgelassen und die schweren Vorhänge zugezogen. Ein kratzendes Geräusch, das sich anhörte, als schärfte eine Katze ihre Krallen, erschreckte ihn. Er wollte raus, griff suchend nach Lichtschalter und Türklinke, Panik erfasste ihn, der Puls klopfte bis zum Hals. „Bleib ruhig, ganz ruhig!“, ermahnte er sich, hangelte sich an der Mauer entlang, stieß auf einen Metallrahmen, ein Bett, tastete sich weiter, bekam einen Arm zu fassen, lies ihn entsetzt los. Schritt für Schritt bewegte er sich zurück, erreichte die Tür, riss sie auf und hetzte den Flur entlang zum Ausgang. Minutenlang atmete er die scharfe feuchte Luft ein, die der Wind von der See ins Land blies, ehe er wieder die Auskunft aufsuchte.

      „Sie haben mir eine falsche Zimmernummer gegeben“, sagte er missmutig, noch außer Atem.

      Ein Zeigefinger fuhr auf der Liste nach unten und plötzlich begann die Frau hinter der Scheibe zu lachen. „Oh Gott, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, habe tatsächlich das falsche Zimmer erwischt! Sie waren im Institut für Pathologie.“ Sie wischte sich Lachtränen aus den Augen. „Wenn ich das den anderen erzähle …“, gluckste sie. „Eigentlich ist Vorschrift, dass abgeschlossen wird, der Professor hat wohl wieder vergessen.“ Lachend nannte sie eine andere Nummer, entschuldigte sie sich abermals.

      Carl verschob den Krankenbesuch, eilte zum Parkplatz, warf einen Blick auf die Fenster mit den geschlossenen Rollläden. Auf der Heimfahrt winkte ihn eine Streife auf den Parkplatz einer Tankstelle.

      „Ihr linker Scheinwerfer brennt nicht.“ Bei der Kontrolle der Papiere beanstandete der Polizist das Foto im Führerschein, es sei zu alt. Carl wechselte das Birnchen aus. Tage später erschien er mit neuem Passbild in der Behörde, nun hieß es, die Fahrerlaubnis verliere demnächst ohnehin ihre Gültigkeit, er solle das Formular hier ausfüllen und die angekreuzten Unterlagen nachreichen.

      Die Unannehmlichkeiten häuften sich, er gewann den Eindruck, Ämter und andere Stellen, mit denen er zu tun hatte, waren darauf aus, ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Die Krankenkasse lehnte Leistungen ab, die bisher immer genehmigt worden sind, jedes Mal war ein Widerspruch fällig. Die Bank forderte bei Abhebungen die Unterschrift seiner Frau, obwohl er deren Totenschein vor Monaten übersandt hatte. Ein Geldinstitut, dem er pünktlich die Raten für einen Kredit überwies, verlangte eine Bestätigung seines Einkommens, obgleich bei der Bewilligung alle Unterlagen vorgelegen hatten. In einer Behörde wurde er von einer Abteilung zur anderen geschickt, als er eine Beschwerde wegen nicht erfolgter Erledigung eines Antrags einbringen wollte. Immer hieß es, das könne nicht angehen, niemand hier habe ihm diese Auskunft gegeben, er müsse sich verhört haben. Am Ende landete er bei der gleichen Stelle, bei der er gestartet war, als hätte man ihn absichtlich in die Irre geführt. Einmal drang er in die Direktion einer Versicherung vor, um zu reklamieren. Die Sekretärin mit tiefen Ausschnitt, die gern zeigte, was sie hatte, ließ ihn abblitzen und erklärte, es sei das falsche Stockwerk, die Direktion nehme grundsätzlich keine Beschwerden entgegen, dafür sei die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Sie sah die Zornesröte in seinem Gesicht hochsteigen, fügte beschwichtigend hinzu, bei den vielen Abteilungen könne man sich schon mal irren. Erste Zweifel über der Annahme, dass alles harmlose Zufälle seien, ließen sich nicht mehr unterdrücken.

      Das Abschleppen seines Autos passte in das Puzzlespiel. Er hatte, um die Kollegin aus Russland am Flughafen abzuholen, das Auto im Parkverbot abgestellt, es war alles besetzt. Als er mit der Russin zurückkam, war der Wagen weg. Sie suchten umliegende Straßen ab, es wäre nicht das erste Mal, dass er den Standplatz verwechselt hätte.

      Elena lachte. „Ich habe nicht gedacht, dass in Hamburg Diebe ihr Unwesen treiben wie in Moskau.“

      Die Werbung für einen Abschleppdienst an der Verbotstafel brachte ihn auf die Idee, bei der Polizei nachzufragen und er wurde fündig: Sie hatte das Abschleppen des Wagens veranlasst, Kosten plus Strafe waren fällig. Beim Versuch, wenigstens die Strafe abzuwenden, wurde er gewarnt, bereits anderen Dienststellen unangenehm aufgefallen zu sein. Er war nicht überrascht, als er feststellte, die Behörde eines anderen Bundeslandes verfügte über Informationen, die er ihr nicht übergeben hatte.

      Die Kollegin, die so gut deutsch sprach, dass viele nicht glauben wollten, dass sie Russin war, wunderte sich, als Carl ihr die Aufforderung der Polizei zeigte, er habe den Kaufvertrag fürs Auto vorzulegen, ein ähnlicher Wagen sei als gestohlen gemeldet.

      „Die Polizei schätzt dich wohl sehr“, feixte sie.

      „Vermutlich Schlamperei“, entgegnete er, „es gibt hunderte gleiche Autos in der Stadt.“ Weder Zufall noch Schlendrian war es, als er auf dem Parkplatz der Hochschule tiefe Schrammen in den Autotüren entdeckte. Er vermutete, ein Student, der in der Prüfung nicht so gut abgeschnitten hat wie er sich eingeschätzt hatte. Die Versicherung nahm den Schadensfall zum Anlass, die Prämie zu erhöhen. Das Finanzamt teilte ihm eine ungünstigere Steuerklasse zu und mit gleicher Post traf die Mahnung ein, die überfällige Steuerklärung zu schicken, verbunden mit einem Zahlschein für den Säumniszuschlag. Er hatte die Unterlagen längst abgesandt, der Beamte behauptete, sie seien nicht eingetroffen. Erst als sich Carl nach der Telefonnummer der übergeordneten Behörde erkundigte, fand sich die Akte. Die Klinik schickte Rechnungen über eine Operation, die ein Jahr zurück lag, er musste sich wegen der überzogenen Frist herumstreiten. Alles kaum erwähnenswerte Banalitäten, in der Häufung jedoch misslich, die seine Gelassenheit erschütterten. Er merkte es, als er an der Anlegestelle der Fähre unter dem gewaltigen Ahorn wartete. Bogenlampen an der Straße zu den großen Fährschiffen ins Baltikum warfen den Schatten des Baums auf den Kai; er beobachtete verblüfft einen zweiten, der nach dem Lichteinfall nicht existieren dürfte und der ihm, als er zur Stiege an der Kaimauer ging, zu folgen schien. Es war kein gewöhnlicher eindimensionaler Schatten, sondern hatte die Form eines menschlichen Körpers. Das Schiff legte an, misstrauisch blickte er zurück, als könnte der Schatten mit an Bord gehen. Schnell lief er über die mit Seilen gesicherte Planke an Deck.

      Die Erscheinungen nannte er Schattenspiele, sie hielten auch in seine Träume Einzug. Er spazierte mit einem Schatten, der aufrecht neben ihm ging und dessen Haltung der seines toten Vaters glich, an endlos langen Gebäuden entlang, die alle gleich aussahen, in deren Mauern runde Löcher geschnitten waren, wie Bullaugen. Gelblicher dicker Nebel lag über der Anhäufung grauer Bauten. Sie gingen und gingen, Vaters Schatten wich nicht von der Seite, bis sich der Nebel so verdichtete, dass nichts mehr zu erkennen war und er erwachte. Bei Tag verdrängte er die Schattenwelt, doch hartnäckig drängte sie sich immer wieder zwischen seine Gedanken.

      Eine Woche hatte er Ruhe vor Belästigungen durch Staat und Bürokratien, frohlockte schon, damit sei es vorbei, als ihn Strafzettel wegen überschrittener Geschwindigkeit und überzogener Parkzeiten, beides in geradezu lächerlichem Ausmaß, eines Schlechteren belehrten. Das Finanzamt schickte den Steuerbescheid an die Kinder. Sie hatten zwar das Haus geerbt und ihm stand nur das Wohnrecht zu, doch bedeutete das nicht seine Entmündigung. Sein Widerspruch wurde mit haarsträubenden Begründungen abgewiesen. Um zu vermeiden, auf die schwarze Liste gesetzt zu werden, schaltete er die Anwältin nicht ein. Es wurde so schon bei jeder Eingabe ein Haar in der Suppe gefunden, wurden kleinste Unterlassungen beanstandet. Und wiederum musste er feststellen, dass ein Amt über Informationen verfügte, die er nicht zugeschickt hatte. Der Gedanke lag nahe, dass die Schwierigkeiten, die früher an ihm abgeperlt wären wie Regentropfen von der Öljacke und nun zunehmend sein Lebensgefühl beeinträchtigten, in einem Zusammenhang standen. Vorkommnisse, über er sonst gelacht hätte, begannen ihn zu beunruhigten wie spätabends in der Fakultät. Gemächlich schlenderte er zum Lift, in Gedanken beim Fax aus Russland, als das Licht ausging. Er knipste es an, da erschien an der Wand ein Schatten, den es nicht geben dürfte, da die Deckenlampen den Gang gleichmäßig ausleuchteten und seiner bloß ein kleiner dunkler Kreis am Boden war. Hastig drückte er den Liftknopf, als befürchtete er, die Gestalt an der Wand könnte ihm in den Aufzug folgen. Beim Aussteigen sah er sie verdutzt wieder, als hätte sie auf ihn gewartet. Wie gehetzt verließ er das ehemalige Verwaltungsgebäude der Werft und eilte über das nass glänzende Kopfsteinpflaster zur Anlegestelle.

      Auf dem Gelände wohnten