Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


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als Verkettung zufälliger Ereignisse ein. „Schließlich leben wir in einem Rechtsstaat!“

      Carl verkniff sich die Bemerkung, das habe er bis vor kurzem auch geglaubt. Sein Gefühl, ständig beobachtet zu werden, wurde durch die Bemerkung eines Polizeibeamten bei einer Routinekontrolle bestätigt: „Aha, Sie wieder …“

      Auch wenn er es nicht aussprach, schwang in dem Halbsatz unterschwellig mit: ‚Sie sind uns bereits hinlänglich bekannt …‘

      Hatte ihm Vater vielleicht im Traum mitteilen wollen, wie er mit den unsinnigen Belastungen fertig werden oder zumindest die Ursachen erkennen könnte, um etwas dagegen unternehmen zu können? War die Kooperation mit russischen Institutionen der Grund, steckte der FSB dahinter? Wer sonst hatte die Macht, Firmen im Ausland zu veranlassen, jemanden unter Druck zu setzen? Bis ihm einfiel, die Geheimdienste im Westen hatten sie ebenfalls, auch sie sammelten Daten, ohne sich um Grundrechte und Souveränität des Gastlandes zu scheren.

      Die gedankliche Verbindung Dollar – USA erinnerte ihn an das utopisch erscheinende Angebot aus dem Internet, man wolle ihm fünfzehn Millionen Dollar für soziale Zwecke zur Verfügung stellen. Dass dies kein Traum war, bewies eine von der Bank bestätigte Geldüberweisung, normalerweise etwas Erfreuliches. In einer Mail auf Englisch – die Geldgeber meinten, wer im Kapitalismus mitreden wolle, habe gefälligst die Weltgeldsprache zu verwenden – wurde ihm vorgeschlagen, ein Institut mit dem Ziel aufzubauen, Einrichtungen für die Betreuung behinderter Kinder zu fördern. Im Vorstand sollten ein Sozialverband, ein Vertreter der Geldgeber und Carl sitzen; über die Verwendung der Mittel werde einstimmig entschieden, ohne Zustimmung der Kapitalgeber ginge also nichts. Im Institut sollten zudem Treffen der Sponsoren stattfinden, die unerkannt bleiben wollen. Medien dürften über die Projekte nur informiert werden, wenn die Geldseite zustimme. Die Überlegung lag nahe, der eigentliche Zweck der Aktion sei, unter sozialem Deckmantel mit wissenschaftlicher Verbrämung dunkle Geschäfte abzuwickeln oder Geldwäsche zu verschleiern. Carl hatte abgelehnt und die Bank beauftragt, die überwiesene Summe zu retournieren. Hingen seine Schwierigkeiten etwa damit zusammen? Die Vernunft gebot, niemandem davon zu erzählen, man hätte ihn für bescheuert gehalten, so viel Geld zurückzuweisen – für einen guten Zweck!

      Für die Ablehnung war das Erscheinen Vaters im Traum ausschlaggebend gewesen. Er hatte davor gewarnt, das verlockende Angebot anzunehmen und anders als bei seinem früheren Erscheinen war seine Stimme klar gewesen. Vater hat außerdem eröffnet, man werde ihn Prüfungen unterziehen und bestehe er sie, dürfe er mit ihm das Schattenreich besuchen. Im selben Traum hatte Vater angekündigt, sich mit ihm zu treffen, um über das Moorland zu reden.

      Carl war nicht so sehr erstaunt, im Traum vom toten Vater Ratschläge zu bekommen, als vielmehr über die Tatsache, dass er seinen Roman gelesen hat. Die Ankündigung des väterlichen Besuchs allerdings tat er als Produkt seiner Einbildungskraft ab und die Idee, den Sohn ins Reich der Schatten mitzunehmen, als Schnapsidee. „Sonderbarer Traum“, murmelte er. „So lebendig, als wäre Vater wirklich erschienen …“ Hätte er geahnt, dass die Erschwernisse und Ärgernisse die Vorankündigung von Ereignissen waren, die sein Leben umkrempeln würden, hätte er intensiver nach Ursache und Zusammenhang geforscht.

      Nach dem Tod seiner Frau war er überzeugt gewesen, keine großen Änderungen mehr zu erleben, alles würde in eingefahrenen Bahnen weiterlaufen, sah er von den Besuchen in Russland ab. Nun hatte sich eine unbestimmte, rational nicht zu begründende Idee eingenistet, etwas ganz Außergewöhnliches komme auf ihn zu, etwas, das alles, was er bisher erlebt habe, überragen werde.

      Eine Folge seiner zerrissenen Gemütslage war, dass er immer öfter das Gefühl bekam, jemand folge ihm. Drehte er sich um, war da nur der eigene Schatten, den der Mond auf die Straße warf. Bog er um die Ecke, ging sein Schatten wie es sich gehörte mit, wurde seitwärts auf die Mauer geworfen.

      Er lachte auf und murmelte vor sich hin: „Nichts als Einbildung! Wer sollte mich denn verfolgen? Bei mir ist nichts zu holen, ich nehme keine bedeutsame Position ein, bin kein Geheimnisträger. Für Machtspielchen dieses Schlags bin ich nicht interessant genug.“ Selbstgespräche waren ihm in letzter Zeit zur Gewohnheit geworden. Ihm war bekannt, dass der FSB eine Akte über ihn führte, aber das hatte ihn nicht sonderlich beunruhigt, die Beobachtung war gewissermaßen eine Art Schutzschild – wenn auch ein fragwürdiges – gegen Verbrechen gewesen.

      Die Schattenspiele auf den nächtlichen Streifzügen änderten ihr Erscheinungsbild, es traten zwei Schatten auf: Der eigene und ein zweiter etwas versetzt neben sich, den es nach dem Lichteinfall nicht geben dürfte. Der fremde lief im Gleichschritt neben ihm, machte gleiche Bewegungen wie er – ein Spiegelbild. Bis sich ganz unerwartet der Schatten selbständig machte, plötzlich etliche Schritte voraus war. Und zu seiner Verblüffung änderte sich sein Volumen auch dann nicht, als das Licht von vorne kam. Carl schob das unglaubhafte Phänomen auf seine überreizten Nerven, vielleicht hatte er auf der Weinkost auch ein Glas zu viel probiert, überlegte er, hatte vorsichtshalber den Bus genommen. Doch das bizarre Spiel der Schatten wiederholte sich und er überlegte, einen Psychiater zu Rate zu ziehen. Ein Freund hatte ihm dazu geraten, nachdem ihm Carl anvertraut hatte, sein toter Vater werde ihn besuchen, wolle ihn ins Schattenreich mitnehmen. So verrückt das klang, aber deshalb gleich einen Psychiater konsultieren?

      Die Scherereien mit Bürokraten und die Manipulationen krimineller Firmen nahmen kein Ende, allmählich gelangte er zur Überzeugung, alles stand zueinander in Beziehung und wurde von anonymen Mächten gelenkt. Das Nichtgreifbare und Nichtfassbare verunsicherte ihn, ein Gefühl des Ausgeliefertseins machte sich breit.

      Und mit einem Male war er sich sicher, so unlogisch das sich auch anhörte, dass alles mit dem angekündigten Erscheinen seines toten Vaters zu tun hatte. Er schalt sich einen Narren, der Gespenster sah, doch die Erkenntnis half nicht, seine unbestimmte, durch nichts gerechtfertigte Angst vor dem Kommenden zu bezwingen.

      2. Begegnung mit dem toten Vater

      Dankbar registrierte Carl, dass er wenigstens im Schlaf von den Widerwärtigkeiten verschont blieb. Manchmal träumte er von Kindheits- und Jugenderlebnissen, in denen seine Eltern die tragende Rolle spielten, vornehmlich Vater. Nach der Warnung vor dem Millionen-Dollar-Projekt war Vater wiederholt im Traum erschienen, hatte genickt, wenn er mit einem Vorhaben einverstanden war oder den Kopf geschüttelt, wenn er es nicht gut fand. Vater war quasi in sein Leben zurückgekehrt und allmählich gewöhnte er sich daran. Mit zunehmendem Alter träumt man von der Geborgenheit in Kindheit und Jugend, sehnt sich zurück in den Lebensabschnitt, der voller Hoffnung ist, in dem man unentwegt Pläne für die Zukunft – einem unabsehbar weiten Raum, gefüllt mit Sehnsucht und Erwartung – schmiedet. Kein Kind kann sich vorstellen, wie verschlungen ein Lebensweg sein kann, welche Schwierigkeiten privater und beruflicher Natur zu überwinden sind, bis der Tod einen Angehörigen nach dem anderen dahinrafft. Und dann braucht es geraume Zeit, bis man Ratschläge eines Verstorbenen annimmt, sie gar beherzigt und umsetzt.

      Carl nahm den Weg auf dem Flussdamm, auf dem Vater viele Jahre Tag für Tag spaziert war. Solange der unberechenbare, bösartige Schäferhund gelebt hat, war der sein Begleiter, dann war er allein marschiert, hatte es schroff abgelehnt, sich von Familienangehörigen begleiten zu lassen, hatte nur widerwillig eingewilligt, dass der Sohn mitging, weil er im Urlaub hier war. Nun, Jahre nach Vaters Tod, spazierte Carl zum Auwald, ebenfalls allein. Im kühlen Spätnachmittag stiegen Nebel vom Fluss auf, hüllten Weiden und Erlen in zarte Schleier. Vater war trotz Familie einsam geblieben und Carl war hatte sein Erbe angetreten.

      Feierlich senkte sich die Dämmerung herab, bald würde sich schweigende Dunkelheit ausbreiten. In seiner Jugend war die Au ein richtiger Urwald gewesen, geheimnisvoll und voller Abenteuer und wie damals hingen Lianen mit herbstbraunem Laub von den Bäumen, waren die Pappeln schon kahl. Niemand wartete auf ihn, er hatte all die kleinkarierten Sorgen, die Hirn und Seele belasteten, abgestreift. Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten stiegen auf, da er dem Augenblick gelebt und überzeugt war, dass eine unabsehbare Kette von Tagen und Monaten vor ihm lag und die Welt auf ihn wartete. In der Fertigkeit, lästige Pflichten von sich zu schieben, hatte er es früh zur Meisterschaft gebracht, war stundenlang mit Freunden oder allein durch den Auwald gestreift, Gedicht und