Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


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nachgeraten.“

      „Früher“, wandte Carl ein, „hast du manchmal betont, ich hätte von Mutter ein Übermaß an Fantasie mitbekommen …“

      Vater lächelte. „Das stimmt, ich wollte verhindern, dass du in die Fußstapfen deines Großvaters trittst. Ich befürchtete, du könntest dir Chancen im Berufsleben verbauen.“ Nachdenklich gab er zu: „Du weißt, ich hatte gehofft, du würdest einmal mein Nachfolger in der Fabrik werden… Daraus ist nichts geworden. Für dich war es wohl besser so.“ Er begann, mit einem Stock seltsame Zeichen in den Sand zu malen. „Du hast jede Gelegenheit, dich zu verändern, beim Schopf gepackt, hast deine Unruhe durch Reisen in ferne Länder bekämpft.“ Er zögerte. „Ganz besiegen wirst du sie nie. Ich hatte keine Gelegenheit dazu, brauchte im Krieg und nachher meine ganze Kraft, um das Überleben der Familie zu sichern.“

      Nach seiner Pensionierung, dachte Carl, hätte er genügend Zeit gehabt und auch die Mittel, mit Mutter in ein Heilbad zu reisen, etwas zu unternehmen, das sie sich all die Jahre gewünscht hat. Sie hätten es sich gut gehen lassen können, Vater hätte Mutter mehr bieten können als den ewig gleichen Trott: Punkt zwölf das Mittagessen auf dem Tisch.

      „Stimmt, ich war festgefahren und hatte nicht den Mut, das Ruder herumzureißen. Aber lassen wir die Vergangenheit, daran ist nichts zu ändern.“

      Erstaunt stellte Carl fest, Vater hatte reagiert, als hätte er das alles ausgesprochen, dabei hatte er es nur gedacht. Als Vater den Kopf hob, sah sein Sohn den dünnen Hals, die Gestalt schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen.

      „Nicht mal das“, nahm Vater den unausgesprochenen Gedanken auf, „ist geblieben. Ich könnte“, grinste er, „als Gespenst durchgehen, bin eben ein Schatten. Du hast das vorhin richtig erkannt: Da ist nichts mehr, das Schatten werfen könnte, bin selbst einer geworden.“

      Eine verwirrende Aussage. Ehe Carl nachhaken konnte, machte Vater mit dem Arm eine weit ausholende Geste. „Hier am Fluss hast du als Junge die Abenteuer Tom Sawyers nachgespielt. Jetzt stehst du zwar bereits im letzten Drittel deines Lebens, aber dir steht noch einiges bevor.“

      Carl kam nicht dazu, nachzufragen, was er damit ausdrücken wollte.

      „Du bist hergekommen, weil ich dich sehen wollte, hast es gespürt.“ Als ob er fröstelte, zog er den weiten Kapuzenmantel fester an sich.

      In der Tat hatte Carl zu Hause ein Drängen verspürt, es hatte ihn hergezogen, obwohl bald die Dunkelheit einfallen würde. „Willst du meinen Anorak überziehen?“ Er stand auf. Vater lächelte und Carl erkannte im fahlen Licht, dass er keine Zähne hatte.

      „Danke, sehr fürsorglich, aber er würde nichts nützen. Ich könnte ihn nicht tragen, er fiele zu Boden. Bleib sitzen, es ist alles gut, mir ist nicht kalt.“

      Gemächlich zogen die Nebelschwaden über dem Fluss, hin und wieder riss ein Windstoß ein Stück heraus. Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander.

      „Dort“, nahm Vater den Faden wieder auf, „wo ich jetzt bin, frage ich mich stets von neuem, warum ich das eine so und das andere anders gemacht habe. Von außen gesehen mag das wie eine Strafe wirken, sich wieder und wieder vorzustellen, wie man etwas besser machen hätte können und zu wissen, nichts mehr daran ändern zu können, absolut nichts.“

      „Warum solltest du bestraft werden?“, fragte Carl. „Du hast dein ganzes Leben hart gearbeitet, hast dir nie etwas Unrechtes zu Schulden kommen lassen, hast gut für deine Familie gesorgt …“

      Vater wandte ihm den Kopf zu. Carl sah im schmalen ausgezehrten Gesicht den Totenkopf durchschimmern, rief sich zur Ordnung: Schließlich war Vater tot, wie sollte er sonst aussehen? Oder war es so wie er angedeutet hatte, dass sich sein Aussehen wandelte?

      „Ich kann nicht lange bleiben“, vertraute ihm Vater an und als könnte er die Gedanken seines Sohns lesen, bestätigte er: „Ich schlüpfe wieder in die Gestalt, die mir zugewiesen wurde, erschrick nicht.“ Stockend ging er auf die Aussage des Sohns ein: „Na ja, im Wesentlichen stimmt das. Aber ich habe Fehler gemacht, viele Fehler. Das Grübeln empfinde ich nicht als Strafe, es ist, wie du noch erfahren wirst, ein Privileg.“ Dann folgte ein Satz, den Carl überhaupt nicht verstand. „Erinnerungen sind das einzige, was uns bleibt und das oft nicht für immer …“ Er nahm den Stock, zeichnete einen Kreis in den Sand, malte Striche für die Stunden ein, keinen Stundenzeiger. Der Minutenzeiger stand knapp vor zwölf. „Ich muss weg, es bleibt keine Zeit für das, was ich dir eigentlich sagen wollte. Nur so viel jetzt: Du wirst noch eine Weile in der Talsohle ausharren müssen, manches Ungemach zu überstehen haben.“ Er erhob sich. „Komm hierher, wenn ich dich rufe, du wirst es spüren. Erzähle niemandem von unserem Treffen, sie würden dich für übergeschnappt halten. Die Leute schätzen es nicht, wenn jemand allzu sehr von der Norm abweicht …“

      Carl streckte gewohnheitsmäßig die Hand aus, doch die Gestalt war überraschend schnell im Nebel verschwunden. Wie erstarrt saß er auf dem Baumstrunk, bis die Nachtkälte in die Glieder stieg. Er rieb sich die Augen. „Habe ich geschlafen, die Begegnung nur geträumt?“ Nachdenklich betrachtete er den Kreis im Sand mit den regelmäßigen Strichen für die Stunden, der lange Zeiger stand nun auf zwölf, der Stundenzeiger fehlte. Ein Beweis, dass er da war? Er war sich ganz sicher, die Uhr nicht in den Sand gezeichnet zu haben, schlenkerte die Beine, um die Starre aus den Gelenken zu vertreiben, ging mit schleppenden Schritten durch den Auwald zur Straße. Es war kühl geworden im Wind. Kopfschüttelnd ermahnte er sich, seiner Fantasie Fesseln anzulegen, es war nicht ungefährlich, Erträumtes mit der Realität zu verwechseln. Er schritt rasch aus, schlich im Haus in den zweiten Stock, mied knarrende Stufen, um niemanden zu wecken, bis ihm einfiel, er war allein, die Kinder waren aus dem Haus, seine Frau war unter der Erde, genauer: ihre Asche im Meer. Sie hatte eine Seebestattung gewünscht, wollte nicht, dass er und die Kinder zur Grabstätte pilgerten, es war ihr wichtig gewesen, der Familie traurige Erinnerungen zu ersparen. Er trat auf den Holzbalkon, starrte auf die über dem Fluss liegenden Nebelbänke, sah die Lichter des Dorfes gegen die Schwärze der Nacht ankämpfen, lauschte dem dunklen Anrollen der Eisenbahn aus der Ferne, dem Anschwellen des Gedröhnes, dem Vorbeidonnern und dem sich entfernendem Verklingen. Die Zuggeräusche waren ihm von Kindheit an vertraut. Ihm fiel ihm, Vater hatte ihn etwas fragen wollen. Unschlüssig zog er sich aus, schlief sofort ein. Plötzlich fuhr er auf, setzte sich kerzengerade im Bett auf und stieß sich den Kopf an der Schrägdecke an. Was war das gewesen? Vater hatte ihn im Traum gefragt, ob er nie mehr zum Moorsee komme, um das Mädchen mit dem seltsamen Namen Moormaid zu besuchen. Von jenem eigenartigen Land, das er Moorland genannt habe, wisse er nur das, was der Sohn im Buch beschrieben hat. Verwirrt stand Carl auf, trat im Nachthemd – die einengenden Pyjamas konnte er nicht ausstehen – auf den Balkon. Vater hatte also sein Buch gelesen, verwechselte ihn offensichtlich mit Hannes, dem Protagonisten. Ihn hatte Maid geliebt, so war es geschildert. Carl legte das Gesicht in die offenen Hände wie stets, wenn er Erinnerungen aus dem Gedächtnis aufzurufen versuchte. Wohl war ihm bewusst, dass die Begegnung am Fluss und der Traum Halluzinationen waren, ein Toter kann sich nicht auf den Weg in die Welt der Lebenden machen, doch die Frage ließ ihn nicht los, was Vater im Traum sagen hatte wollen. In den letzten Monaten hat er viel an Vater gedacht, er war in der Erinnerung so lebendig als lebte er. Seinerzeit, als sie im Urlaub in den Bergen jeden Abend Karten gespielt und viel gelacht hatten. Auch im Spiel hatte Vater seine Korrektheit nie ablegen, sein Wesen nicht ändern können. Ein einziges Mal hat Carl gezeigt, dass er so mischen konnte, dass eine bestimmte Karte obenauf blieb, Vater hatte das nicht amüsant gefunden und gerügt: „Mogeln beim Spielen gibt es nicht!“

      Carl war auf dem Rückweg aus dem Urlaub. Wochen hatten ihn die lästigen Scherereien verschont, als ihn die Wirklichkeit auf der Autobahn einholte. Ein Streifenwagen winkte ihn mit der Kelle auf einen Rastplatz. „Sie sind zu schnell gefahren, Ihre Papiere bitte!“, bellte der Polizist, überprüfte die Autonummer und reichte den Ausweis zurück.

      Im Strom der Fahrzeuge war Carl wie hundert andere zehn Kilometer schneller als erlaubt gefahren, hütete sich aber, das einzuwenden. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, zu schweigen. Irgendetwas war immer am Auto zu finden, das nicht den Vorschriften entsprach. Der zweite Polizist, der im Auto sitzen geblieben war, hatte eine Suchanzeige mit Foto in den Händen.