Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


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Altar auf dem Hügel eine Spur. Während eines Orgelkonzertes war ihm die Idee zum Roman zugeflogen, von dort aus war Hannes wie durch Zauberhand ins Moorland gelangt. Die Kirche war verschlossen, er wischte die nachtfeuchte Bank im Friedhof trocken, ließ Szenen an sich vorbeiziehen, die mit dem Kirchhof in Verbindung standen, doch das Moor oder gar der Weg ins Moorland wollten sich nicht zeigen.

      In der Karte war weiter südlich ein Moor mit See eingezeichnet, er war sich ganz sicher, nie dort gewesen zu sein. Die Straße führte an einsamen Höfen und Weilern ohne Kirche vorbei. Schüttere Wälder zogen sich die Hügel hinauf, in denen sich kein Reh vor den unnachgiebigen Jägern verbergen könnte. Er bog von der Straße ab, folgte einem schmalen in der Karte nicht verzeichneten Weg durch ein Gehölz. Büsche streiften das Auto, tiefe Löcher und dichtes Gras ließen erkennen, dass sich selten jemand hierher verirrte. In einer Lichtung stellte er den Wagen ab, hob das Fahrrad heraus, hielt wie erstarrt inne: Es war exakt wie beschrieben, Hannes hatte das genauso gemacht – im Roman. Carl radelte durch den Wald mit den krumm gewachsenen Erlen und Birken, umfuhr die Löcher und zunehmend überkam ihn das Gefühl, doch schon hier gewesen zu sein. Und abermals fragte er sich, ob es Reminiszenzen an Buchsequenzen oder gespeicherte Bilder aus der Realität waren. Nach einer Wegkrümmung hielt er vor einer Schranke mit verrostetem Schild: Befahren und Betreten verboten, Privatgrund! Das war die Stelle im Buch, die Hannes vor Augen hatte, ehe er den Moorsee erreichte – aber doch nicht er! War er nun hier gewesen oder kannte er das Gelände lediglich aus der eigenen Schilderung im Roman? Und war es denkbar, eine Landschaft beschreiben zu können, die man nie gesehen hat und sie Jahre später in der Wirklichkeit exakt so vorzufinden? Er erreichte das Moor, lehnte das Fahrrad an eine windzerzauste Birke, folgte dem Pfad, der sich zwischen Erikapolstern und Krüppelkiefern durchwand, im sumpfigen Boden kaum zu erkennen war. Das sperrige Gras richtete sich nach Betreten sofort auf. Er sprang von Polster zu Polster, drang durch einen schmalen Schilfstreifen und stand jäh vor dem See, schöner und traumverlorener als im Roman. Dichtung und Realität waren deckungsgleich geworden, selbst die Farben der Sumpfpflanzen und des Wassers waren wie beschrieben. Carl setzte sich auf einen umgestürzten Birkenstamm, ließ die Stille auf sich wirken, hin und wieder unterbrachen sie hoch flatternde Wildenten.

      „Gut, dass Vater so gedrängt hat“, murmelte er, „sonst hätte ich den See nie gesucht.“ Es war nicht wichtig, ob wieder gefunden oder neu entdeckt, es war unerheblich, woher die präzisen Ortskenntnisse im Roman stammten. „Wie auch immer“, murmelte er, „das einzige, was zählt, ist der gefundene Moorsee.“

      Er verstand Hannes‘ Verzauberung, der See strahlte etwas aus, das jeden in Bann schlug, dem die Natur mehr bedeutete als ein Erholungsraum. Ein Boot war nicht zu finden, er erinnerte sich, im vorletzten Kapitel war der einzige Kahn nach Hannes’ Vertreibung aus dem Moorland abgesoffen. Die Suche im dunklen Wasser brachte wie erwartet kein Ergebnis.

      Die Befürchtung, dass die Vermengung von Ereignissen im Buch und solchen in der Realität seelische Gefährdungen mit sich bringen könnte, verdrängte er und beschloss, der Fantasiewelt den Vorrang einzuräumen. Auf dem Baumstamm kauernd tauchte er in das Romangeschehen ein, dachte an Maid, wie er sie kennen gelernt hat, stutzte: Nicht er war es gewesen, der mit Maid die Überfahrt im Boot gemacht und später die mysteriöse Nebelgrenze passiert hat, sondern Hannes. Vorsicht, warnte er sich, sonst kommt dir noch die Fähigkeit abhanden, Schein und Sein klar voneinander zu trennen! Doch er steckte schon so tief drinnen im Romangeschehen, dass er sich nicht gewundert hätte, wäre Maid oder eine andere Figur erschienen und hätte mit ihm eine Unterhaltung begonnen. Der auffrischende kühle Wind riss ihn aus der Grübelei, er schlug den Weg zurück ein.

      „Ich sollte“, murmelte er, „Hannes und Maid besser in ihrer Welt lassen. Muss das Durcheinander im Kopf ordnen.“

      Die Baumwipfel verschwammen in der langsam niedersinkenden Dämmerung, aufsteigender Nebel mahnte zur Eile. Er lief durch Erikapolster und mageres Gebüsch, als wäre er auf der Flucht, stolperte, fiel hin, raffte sich auf, rannte keuchend weiter. Auch beim Rennen ließ ihn die Frage nicht los: Wie konnte er sich einbilden, hier irgendwas erlebt zu haben, wenn er nie hier gewesen ist? Er schwang sich aufs Fahrrad, radelte so rasch es Weg und abnehmendes Tageslicht zuließen, durch den Wald. Und als er das Fahrrad ins Auto wuchtete, gelangte er zur Überzeugung, die gleichen Handgriffe schon des Öfteren ausgeführt zu haben, gerade an diesem Platz.

      Wie gierige Lichtfinger griffen die Scheinwerfer in die Dunkelheit, Büsche und Bäume flossen zu kompakten schwarzen Ungetümen zusammen. Noch immer klopfte aufgeregt sein Herz, es wurde erst ruhiger, als er sich vornahm, künftig den Moorsee zu meiden. Seine Versuche, den See und die Begegnungen mit Vater als Produkte seiner Fantasie abzutun, scheiterten allerdings, hartnäckig wie Mücken im Hochsommer tauchten die Bilder auf, ließen sich nicht vertreiben. Zumal er wusste, Vaters Schatten würde wiederkommen und ihn fragen, ob er ihn nun zum Moorsee führe.

      Um der Begegnung auszuweichen, nahm er die Einladung aus Russland an, hatte eigentlich nicht mehr ans Weiße Meer fliegen wollen, scheute die Strapazen und hatte das Kapitel Russland abgeschlossen. Der Wechsel in Moskau zum innerrussischen Flughafen nach Norden war nervig wie eh und je. Schließlich stieg die Maschine steil in den Himmel, Wolkenlöcher gaben für Minuten die Sicht auf die Ausläufer der Metropole mit tausenden Datschen frei, der Flieger durchstieß die Wolkendecke und tauchte ins blendende Sonnenlicht. Das Wiedersehen im hohen Norden war herzlich wie immer. Mit ehemaligen Kolleginnen sprach er über die Jahre, da es nur Defizite gab aber nichts zu kaufen, die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch stand.

      „Jetzt gibt es zwar alles, aber viele können die Waren nur durchs Schaufenster begucken.“

      Vom Hotel aus spazierte er auf der Uferpromenade am breiten Strom entlang, schaute zu den Inseln mit Holzhäusern und Sägewerk. Erinnerungen an Erlebtes stiegen auf, gute und weniger gute. Beim Besuch am Deutschlehrstuhl, an dem er ein Semester gelehrt hat, saß auf einmal Vater auf dem Platz, den sein verstorbener Freund Viktor eingenommen hatte.

      „Keine Sorge, sie sehen und hören mich nicht. Du musst nichts sagen, nicke einfach oder schüttle den Kopf.“

      Das Gespräch drehte sich um von Krankheiten dahingeraffte Kolleginnen, die Carl gekannt hatte. Die Versorgung mit Medikamenten war katastrophal gewesen, das Wohl der Bevölkerung war der Partei ebenso gleichgültig gewesen wie den Zaren. Vater fragte ihn über den Moorsee aus, er nickte oder schüttelte den Kopf, das passte nicht immer zum Gespräch, eine junge Dozentin musterte ihn verwundert.

      „Du hast das Moor also gefunden“, stellte Vater fest, „und den See gesehen, gelangtest aber nicht ans andere Ufer...“

      Carl wunderte sich nicht mehr, dass Vater immer wusste, was er gemacht oder gedacht hat, schüttelte den Kopf, während Kolleginnen von den Schwierigkeiten berichteten.

      „In der Sowjetära hat es oft nichts gegeben“, fasste die Lehrstuhlleiterin zusammen. „Jetzt gibt es alles, aber es fehlt das Geld, es zu kaufen.“

      „Carl“, fragte eine Dozentin, die damals, als er das Gastsemester gelehrt hat, Studentin im letzten Studienjahr war, „Sie sehen das offenbar anders, schütteln den Kopf …“

      „Nein, nein“, entgegnete er rasch, „ganz im Gegenteil: Ich denke, eure Probleme nehmen kein Ende.“

      „Gut pariert“, lobte Vater. „Du bringst mich also zum Moorsee?“

      Carl nickte und merkte, seine Reaktion auf die Frage, warum er keine Projekte mehr in Russland durchführe, war unpassend. „Nun“, korrigierte er den Fehler, „ich schaffe es gesundheitlich nicht mehr und es gibt auch kaum Mittel dafür. Bei uns weiß man, dass Russland genug Geld hätte, um Behinderten, Drogenabhängigen und psychisch Kranken zu helfen, um den Armen auf dem Land lebenswerte Bedingungen zu schaffen, den jungen Leuten eine Perspektive zu geben.“

      Die Lehrstuhlleiterin Elena berichtete, wie froh damals Studentinnen gewesen sind, als Carl hier lehrte, wie sie Torten gebacken, Kekse gemacht und Geschenke überreicht hatten, um den Abschied von ihm herzlich zu gestalten. „Wir waren gerührt, wie sie den Gast aus Deutschland mit dem Wenigen, das sie hatten, ehrten“, schloss Elena.

      Carl genoss den Aufenthalt in der vertrauten Stadt, streifte am letzten Nachmittag durch