Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


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weiterfahren.“

      „Kann ich das Foto mal sehen?“, erkundigte sich Carl.

      Der Beamte schaute zum Kollegen, der nickte. Eine Ähnlichkeit war vorhanden, der auf dem Suchbild schien allerdings jünger zu sein. Waren seine Kalamitäten etwa auf eine Verwechslung zurückzuführen? Wie eine Sofortbildkamera hatte er das zweite Foto gespeichert, das der Polizist nicht schnell genug verdeckt hatte; der Mann auf dem Bild war ohne Zweifel er. Bildausschnitt und Hintergrund glichen jenen im Bildtelefon, er war also angezapft worden. Doch seit der Begegnung mit Vater maß er den Schwierigkeiten nicht mehr so viel Bedeutung bei.

      3. Zweite Begegnung

      Carl hatte nicht erwartet, dass es so schnell zu einem zweiten Treffen mit Vater kommen würde, hatte sich auch, wenn er ehrlich war, nicht gerade danach gesehnt, die letzte Begegnung lag ihm noch in den Knochen. Je länger er darüber nachdachte, desto unglaubwürdiger erschien sie ihm. Es war nicht so sehr die Gestalt Vaters oder das Unheimliche der Begegnung als vielmehr die Befürchtung, die Bilder könnten sein mühsam gefundenes Gleichgewicht erneut gefährden. Die Begegnung ließ sich nicht einfach als Sinnestäuschung oder Wachtraum abtun, die er vergessen konnte. Vater hatte doch angedeutet, etwas von ihm zu wollen. Abwegig der Gedanke, er war seit Jahren tot. Aber er war doch erschienen und hatte mit ihm gesprochen und es war eine Sache, eine Erscheinung im Traum zu haben und eine ganz andere, mit einem Toten zu reden. Carl hütete sich, jemandem davon zu erzählen, man hätte an seinem Verstand gezweifelt.

      In der Bibel hatte er den Satz gefunden, der dazu passte: ‚Die Lebenden wissen wenigstens, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen gar nichts.’ Sollten die Halluzinationen andauern, blieb ihm wohl nichts anderes übrig als sich bei der Therapeutin zu melden. Sie hatte ihm Monate nach dem Tod seiner Frau geholfen, als er Briefe gefunden hatte, die ihm gezeigt hatten, dass sie bereits verlobt war, als er um ihre Hand angehalten und sie ihm das Jawort gegeben hat. Erst nach ihrem Tod erfuhr er, dass das alte Verlöbnis nicht gelöst war, brachte noch andere Dinge in Erfahrung, die seine Jugendliebe in einem anderen Licht erscheinen ließen. Die späten Erkenntnisse hatten die heile Welt zum Einsturz gebracht, die er sich aufgebaut hatte, sie hatten ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, sogar an Suizid hatte er gedacht. Das Schönste und Kostbarste in seinem Leben, die große Liebe, war auf einem Lügengebäude aufgebaut gewesen, hatte sich als Illusion erwiesen. Schmerz und Zorn hatten Denken und Fühlen beherrscht, das Wissen, jahrzehntelang belogen worden zu sein, hatte etwas im Inneren zerstört. Wie bei einer Aufziehpuppe, bei der die Feder gebrochen ist. Die Therapeutin hatte ihn nach etlichen Sitzungen so weit stabilisiert, dass er wieder Mut geschöpft hatte. Nun befürchtete er, die emotionale Festigung aufs Spiel zu setzen, wenn er zuließ, dass die Treffen mit dem verstorbenen Vater sein Denken beherrschte. Wie sehr Erinnerungen mit gefühlsmäßig wirkenden Bildern, die aus verborgenen Kammern des Gehirns ins Bewusstsein gehoben werden, das Denken steuern, merkte er an ganz alltäglichen Tätigkeiten, wie Wein aus dem Keller holen und sich dabei einzubilden, Vater mit der Flasche unterm Arm die Kellerstufen heraufschlurfen und in der Küche mit einem dumpfen Plupp die Flasche öffnen zu hören. Er sah das Einschenken anschaulich vor Augen, war versucht, sich auf seinen alten Platz hinter dem Tisch zu setzen. Oder er sah Vater im Lehnstuhl sitzen, nachdem er ein Klavierkonzert von Schuhmann aufgelegt hatte und nun andächtig lauschte, manchmal die Hände bewegte als dirigierte er das Orchester. Die Momentaufnahmen entwickelten eine erstaunliche Eigendynamik, Bilder aus der Vergangenheit tauchten auf, die er längst vergessen glaubte: Seine Mutter, die er selten fröhlich und nie glücklich erlebt hat, die immer wie ein Mantel eine traurige Grundstimmung umhüllt hat, aus deren Augen kaum je ein unbeschwertes Lachen geleuchtet hat. Sie hat sich nie von ihren Erlebnissen in jungen Jahren lösen können. Von ihr hat Carl die Anlage zu depressiver Verstimmung geerbt oder erlernt, auch Unsicherheit. Erst im Lauf des beruflichen Alltags ist es ihm gelungen, sich Selbstsicherheit und Gelassenheit anzueignen. Als Jugendlicher war er oft ohne äußeren Anlass in tiefe Schwermut verfallen, war auf Festen davongeschlichen. Es war die Ausnahme, dass ein konkretes Ereignis den Anstoß gegeben hatte wie damals, als ein Mädchen, von dem er angenommen hatte, sie mochte ihn, einen anderen erhört hat. Während einer Party hatte er versehentlich das falsche Zimmer erwischt, sie mit einem Freund halb bekleidet im Bett erblickt. Meist aber lag der düsteren Stimmung keine direkte Ursache zugrunde, sie kam über ihn wie ein Hagelschauer. Während des Studiums, als er endlich lernen konnte, was ihn interessierte, und er früh eine Familie hatte, waren die seelischen Tiefs seltener geworden. Berufliche Erfolge hatten dazu beigetragen, hatte er doch weit mehr erreicht als erträumt. Es war, sah er von den üblichen Rückschlägen ab, stetig bergauf gegangen. Und wenn er im Urlaub mit den Kindern vor einer Berghütte saß und auf die nahen Gipfel schaute, verspürte er ein ungeahntes Glücksgefühl. Nicht erwartet hatte er, dass ihm die Eltern noch abgehen würden, als er die Mitte des Lebens längst überschritten hatte. Vater hatte auf jeden Widerspruch mit Strenge reagiert, Diskussionen über von ihm getroffene Entscheidungen gab es nicht, dennoch war Carls Bindung an ihn eng gewesen, die Kinder spürten, dass er sie mochte. Dem korrekten und sachlichen Naturwissenschaftler wäre das in der Familie von Carls Frau übliche Küsschen hier und Küsschen dort peinlich gewesen. Er zeigte ungern Gefühle, gab auf Fragen Antworten, die Hand und Fuß hatten. Noch als Erwachsener hat sich Carl bei wichtigen Entscheidungen gefragt, wie Vater sie bewerten würde, hat die Gepflogenheit nach dessen Tod beibehalten.

      Vaters Erscheinen am Fluss hatte sich ins Gedächtnis gebrannt. Vater hatte etwas mit ihm besprechen wollen und so wanderte er, wenn er sich im verwaisten Elternhaus aufhielt, fast verbissen gegen Abend zum Fluss, setzte sich auf einen Steinquader und wartete. Manchmal krächzte eine über den Fluss flatternde Krähe, ansonsten drang nur das geschäftige Murmeln des Wassers ans Ohr. Donnerte ein Zug vorbei – sehen konnte er ihn nicht, der Auwald lag zwischen Gleisen und Fluss –, tat die Stille hinterher fast weh. Leichter Nebel stieg vom dem Wasser hoch, der Mond linste durch die Wolken, es war wie damals, als Vater gekommen war. Carl schüttelte den Kopf, es war Narretei, zu erwarten, dass sich der Spuk wiederholte.

      Wochen zogen ins Land, er arbeitete viel, die Erinnerung an das Erscheinen des Toten begann zu verblassen. Bis zu jenem Abend, als er nach einer Besprechung über ein Projekt heimfuhr und plötzlich neben sich die Stimme Vaters vernahm. Erschreckt hätte er beinahe den Randstreifen aus Beton gerammt.

      „Ganz ruhig, mein Junge, ich bin es.“

      „Wie kommst du ins Auto? Es war abgesperrt.“

      „Beschäftige dich nicht mit Nebensächlichkeiten, guck lieber nach vorn. Mir kann nichts passieren, aber dir.“

      Carl konzentrierte sich auf den Feierabendverkehr.

      „Bin lange nicht im Auto gefahren …“ Carl warf der Gestalt neben ihm einen Blick zu. „Willst du mir nicht sagen, was dich herführt?“

      „Es mag merkwürdig klingen“, erwiderte Vater zaudernd, als überlegte er, wie er ihm das Folgende beibringen sollte, „wenn dich ein Toter um etwas bittet, auch wenn es dein Vater ist. Nein“, berichtigte er sich, „er war es.“

      Carl zwinkerte, um festzustellen, ob er träumte und fuhr auf den Platz vor dem Stadtpark. „Nach dem letzten Zusammentreffen hab ich überlegt, ob alles ein Ergebnis meiner Einbildungskraft war, es ist viel auf mich eingestürmt in letzter Zeit ...“ Er zögerte. „Meine Nerven sind, als wären sie rissig geworden.“

      „Ich weiß, mein Sohn, ich weiß.“ Nach kurzem Schweigen brummte Vater leise, Carl verstand ihn kaum: „Ruhe wirst du noch genug haben, mehr als dir lieb sein wird. Sei froh, dass sich was rührt, auch wenn es nicht angenehm ist – es bedeutet Leben.“ Wieder eine Pause. „Du hast doch diesen Roman geschrieben, Land im Nebel oder so ähnlich …“

      „Grenze im Nebel“, stellte Carl richtig. „Ja und?“

      „Dort hast du jenes geheimnisvolle Moorland beschrieben und den Oheim, der dir die Zukunft vorausgesagt hat.“

      „Nicht mich, sondern Hannes, die Hauptfigur, hat er in die Zukunft schauen lassen. Aber du bist sicher nicht gekommen, um mit mir über den Roman zu sprechen. Einmal davon abgesehen, dass du mehrmals versichert hast, jeder neue Roman sei überflüssig,