Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


Скачать книгу

landete, beim Schubumkehr klappten die unbesetzten Sessel nach vorn, sie rollte aus. Trotz der Ansage, angeschnallt sitzen zu bleiben, begannen Passagiere ungeduldig, das Gepäck unter den Sitzen und aus der Ablage zu wuchten, obwohl sie wussten, ohnehin auf den Bus warten zu müssen. Im voll besetzten Bus ging es zur Kofferausgabe, er wies den Zettel mit der Nummer vor und bekam den Rollkoffer. Es hieß nun Stunden auf den Anschluss zu warten, er setzte sich in ein Restaurant im ersten Stock, bestellte Tee, sah den startenden und landenden Maschinen zu, überließ sich wieder den Erinnerungen. Damals nach der Rückkehr vom Hafen hatte er schleunigst verräterische Spuren beseitigt, die Freundin aus Russland hatte sich angemeldet. Sie blieb etliche Wochen, diesmal war ihr Söhnchen mit, ihr Ex-Mann hatte sich geweigert, ihn zu versorgen. Der Ehemann hatte dem Deutschen die Schuld am Scheitern seiner Ehe gegeben, aber sie war bereits kaputt, als Carl seine Frau kennen gelernt hat. Er hat sie vom Flugplatz abgeholt und der Kleine, der etliche Zentimeter gewachsen war, hatte fünfzig Kilometer ohne Unterlass geplappert, bis Carl gereizt gefragt hat, ob sie das nicht abstellen könne, er müsse sich auf den Verkehr konzentrieren. Der Mutter war gar nicht aufgefallen, dass der Junge, dem das Ignorieren normal schien, ununterbrochen gequasselt hat. Carl hatte es sich schnell abgewöhnt, mit ihr über Erziehung zu diskutieren, in Russland war es Tradition, Jungen zu Machos zu erziehen, und spätestens die Armee brachte ihnen dann jene Härte bei, die von russischen Männern erwartet wird.

      Carl war annähernd glücklich gewesen, wenn die vom schwierigen Leben in der Sowjetunion geprägte Freundin, Monate jünger als seine älteste Tochter, bei ihm war. Durch sie hat er erfahren, was körperliche Liebe bis zur Erschöpfung sein kann, durch sie hat er, wenn er in Russland gewesen ist, Informationen über Land und Leute erhalten, zu denen Westler sonst keinen Zugang haben, durch sie hat er Städte und Gebiete kennengelernt, für die er kein Visum hatte, wo er nicht hin hätte dürfen. Sie hatten Künstler, Kunsthandwerker, Freundinnen und Verwandte besucht, an Festen und drei Tage dauernden Hochzeitsfeiern teilgenommen, alles Gelegenheiten, die Mentalität zu studieren. Je länger er das tat, umso klarer wurde, dass Zwiespältigkeit in unterschiedlicher Gewichtung jedem Volk zu eigen ist. Trotz der Mangelwirtschaft waren üppige Feste gefeiert worden, Gastfreundschaft war heilig. Carl hatte sich anfangs kaum getraut, bei Einladungen zuzulangen, hatte ja gewusst, dass die Familie wochenlang gedarbt, bei Verwandten und Bekannten geborgt hat, um den Gästen was bieten zu können. Natürlich blieben ihm die dunklen Seiten der Mentalität nicht verborgen: Neid, Missgunst, Bosheit und Grausamkeit. Was nicht zu übersehen war: Demokratisches Bewusstsein spielte praktisches keine Rolle, in der Geschichte Russlands war dafür kein Platz.

      Einmal hatte ihn die Freundin zu einem Fest der Stadtverwaltung mitgenommen. Er hatte an der Garderobe gewartet, wie üblich war sie zu spät gekommen, hatte atemlos hervorgesprudelt, den Jungen zum Schwiegervater gebracht zu haben, Carl ihre Handtasche in die Hände gedrückt. Er hätte sie fast fallen lassen, so schwer war sie.

      „Um Gottes Willen, was hast du denn da drin? Einen Stein?“

      Sie hatte gelacht und geflüstert: „Keinen Stein, einen Revolver.“

      „Aber wozu denn …“ Sie war ihm ins Wort gefallen: „Pst, nicht so laut!“ Er hatte ihr aus dem Mantel geholfen, sie die Tasche an sich genommen. Beim Hineingehen hat sie erzählt, sie habe ihren Jungen mit dem neuen Fahrrad begleiten müssen.

      „Was hat das damit zu tun?“, fragte er naiv.

      „Ich lief neben ihm her und passte auf. In den Hinterhöfen gibt es Banden, die den Jüngeren alles wegnehmen. Sie wollten ihm das Fahrrad wegreißen, da habe ich die Pistole gezeigt. Sie wussten, dass ich schießen würde.“

      Das war die Geschichte mit der Pistole, Carl grinste. Der Kellner wunderte sich nicht, Westler sind komisch. Der andere Fall, der mit der Bohrmaschine, war gar nicht lustig gewesen. Seine Freundin hat wie viele Frauen in Russland davon gelebt, in Asien Kleider einzukaufen – die eigenen Produkte waren unmodern und hässlich –, über Moskau in den Norden zu bringen und zu verkaufen. Mafiosi hatten am Flughafen in Moskau von den Frauen eine Sicherheitsgebühr kassiert. Sie hatte ein gut sortiertes Lager, als eines Abends eine Bande junger Leute erschienen war, einer hatte ihr eine Pistole an die Schläfe gedrückt, während die anderen das Lager leer geräumt hatten. Bei einer Geburtstagsfeier einer Bekannten, auch eine Kleiderhändlerin, hatte sie Carl auf einen Mann aufmerksam gemacht.

      „Er hat mir den Großteil meines Lagers wieder beschafft“, hatte sie geflüstert. „Sein Freund gehört zur Mafia, er hat die Sachen zurückgebracht.“

      „Gut für dich. Und wie?“, bohrte er nach.

      „Nicht hier, komm, tanzen wir.“ Beim Tanzen – die eben servierten Speisen wurden kalt, das war normal – hat sie erzählt, die Mafia habe die jugendlichen Gangster ausfindig gemacht, den Anführer an die Wand gestellt.

      „Und hat er geplaudert?“ Fragend hat Carl sie angesehen. Sie hat den Kopf geschüttelt. „Freiwillig hätte er nie ausgepackt.

      Sie haben ihm eine Bohrmaschine an die Stirn gehalten, dann hat er geredet.“

      „Oh Gott! Hätten sie denn…“ Sie hat genickt. „Natürlich.“

      Carl war die Lust zum Feiern vergangen, auch zum Essen, das ohnehin kalt geworden war, sie waren ins Hotel gegangen. Derlei Geschichten wurden in seine Albträume integriert.

      Im Restaurant von Scheremetjewo II hatte er das dritte Glas Tee im silbern schimmernden Becher vor sich, war zweimal auf der Toilette gewesen, beobachtete die aus den niedrig hängenden Wolken auftauchenden und im aufgewirbelten Regenwasser aufsetzenden Maschinen. Die Wartezeit zog sich, seine Gedanken liefen in die Vergangenheit.

      Als er seine Freundin gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, hatte sie ihre blaugrünen Katzenaugen – sie hat Katzen mehr als alles andere auf der Welt geliebt – nachdenklich auf ihn gerichtet und geantwortet: „Warum nicht?“ Es hatte sich angehört, als hätte er gefragt, ob sie Lust habe, spazieren zu gehen. Er war dankbar, dass sie nicht hinzugefügt hatte: „Es gibt Schlimmeres.“

      Seine Frau und er waren sich an dem Tisch mit den scharfen Ecken gegenüber gesessen, an denen er sich oft das Knie wund gestoßen hat. Mit trockener Kehle hat er mitgeteilt, die Russin, wie sie im Haus nur genannt wurde, heiraten zu wollen. Ihre dunklen warmen Augen hatten ihm einen schmerzerfüllten Blick zugeworfen und er hatte einen Stich in der Herzgegend verspürt. Es hat wehgetan, der Frau, die er mehr geliebt hat als sich selbst, das anzutun, aber die Sekunden, da er alles wenden hätte können, hat er verstreichen lassen. Ihr sonst so sanfter Blick hat sich wie eine Nadel in seinen gebohrt.

      „Du bist dir hoffentlich im Klaren, dass es nicht lange dauern wird, bis die so viel jüngere Frau abhauen und sich nach einem anderen umschauen wird.“ Sie hatte über ihn hinweg gesehen wie immer, wenn ihn eine Antwort treffen sollte. „Also gut, aber ich bestehe auf dem gesetzlichen Jahr der Trennung.“

      Der Hieb mit dem Verschwinden der jungen Frau hatte gesessen, ähnliche Gedanken waren ihm durchaus nicht fremd geblieben, das hatte ein Traum gezeigt: Die Männer, die ihre Gunst genossen hatten – ihre Figur, ihre herausfordernder Blick und die lockigen blonden Haare hatten ihr oft anerkennende Pfiffe eingetragen, und es war eine erkleckliche Zahl von Bekannten, wie sie die Kavaliere genannt hatte –, waren bei ihm aufgetaucht und hatten verlangt, er habe sie zu versorgen, sonst ergehe es ihm schlecht, er verstehe schon. Hätte er ihr den Traum erzählt, hätte sie wahrscheinlich gelacht.

      Wieder kam der Kellner, er stürzte sich auf die wenigen Gäste, hatte den Umsatz zu heben, doch wenige Russen konnten sich das Restaurant leisten. Carl bestellte den zweiten Espresso, vom Tee hatte er genug, schaute auf den Block, auf dem er sich Notizen machte, wenn er unterwegs war. Er schloss die Möglichkeit nicht aus, dass die Freundin nach einem oder zwei Jahren der Akklimatisierung verschwinden könnte, zumal er im Alltag mit der geliebten Russin manche unerfreuliche Situation erlebt hatte, vor allem wenn es um Hausarbeit gegangen war.

      „Du könntest mir beim Saubermachen helfen“, hatte er vorgeschlagen.

      Abschätzend hatte ihr Blick aus den im Sonnenlicht grün funkelnden Augen auf ihm geruht. „Dann hättest du dir besser eine Kuhmagd aus dem Dorf suchen sollen!“

      Trotz