Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


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mochte er sich zehnmal vorsagen, die Idee, ein Toter möchte etwas kennen lernen, mutete grotesk an und der Wunsch Vaters war schon deshalb vollkommen sinnlos, weil das Moorland nicht existierte.

      Die Grippewelle im Land hatte ihn verschont, er hätte sich hier einer ärztlichen Behandlung nur ungern unterzogen, auch wenn anzunehmen war, dass die medizinische Versorgung nicht mehr so katastrophal war wie seinerzeit. Wie immer in all den Jahren wurde er zum Flughafen gebracht. Beim Abschied ahnte er, wohl das letzte Mal hier zu sein und die Kolleginnen schienen ähnlich zu denken, wie ihren Abschiedsworten und Mitbringsels zu entnehmen war. Gott, wie oft hatte er sich in der Halle von der Geliebten verabschiedet, nie hatten sie gewusst, ob es ein Wiedersehen geben würde. Die Löcher im Linoleum der Halle waren größer geworden und wie damals machte jeder einen Bogen um nicht zu stolpern.

      Die weiten Wälder in den Sümpfen um die Stadt am Weißen Meer entschwanden, er überließ sich Erinnerungen, dachte an seine Frau, zu der er nach seinen Reisen nach Russland, die er schon längst nicht mehr zählte, immer zurückgekehrt war. Bis jener Brief eines Anwalts auf seinem Bett gelegen hatte, der ihn aufforderte, umgehend das Haus zu verlassen, seine ehewidrige Beziehung mache ein Zusammenleben unter einem Dach für die Ehefrau unzumutbar. Moralische Gesichtspunkte hatten damals mehr Gewicht, zumindest nach außen hin.

      Den Hinauswurf ohne Aussprache – offene Gespräche waren nie ihr Ding gewesen – erlebte er im Traum ein zweites Mal: Seine Frau jagte ihn mit ausgestrecktem Arm aus dem Haus, so wie die ersten Menschen aus dem Paradies gejagt worden sind, nur musste jetzt Adam alleine gehen und die Rolle Gottes hatte Eva übernommen. Zwar war das Haus auch im Traum schon lange nicht mehr das wahre Paradies, aber doch Zuflucht und Heimat. Neben der Ehefrau stand im Traum eine Schattenfigur, sein Vater. Als er erwachte, huschte ein Lächeln über Carls Gesicht: Er dachte an die abertausende Leninstatuen, die mit ausgestrecktem Arm die Menschen aus dem sozialistischen Paradies zu weisen schienen.

      Ruhig brummte das Flugzeug mit der nach oben weisenden Schnauze dahin, er lehnte sich zurück. Ehe er ins Haus in der Holsteinischen Schweiz gezogen war, Minuten vom größten See entfernt, war er mit dem Sohn kreuz und quer über Land gefahren, bis sie den Weiler am Ende der Stichstraße auf der Halbinsel entdeckt hatten. Die Landschaft mit den von der Eiszeit geformten Hügeln und Seen hatte Carl auf Anhieb gefallen, auch die im rechten Winkel ans Haus gebaute Reetdach-Kate, die zum Verkauf stand. Hier hat er sich frei gefühlt wie lange nicht mehr und nicht nur, weil kein Reihenhaus den Blick ins Grüne versperrte.

      Monate hatte er in einer leeren Wohnung am Rand einer Kleinstadt gehaust, auf einer Matratze geschlafen, ein Koffer den Schrank ersetzt. Abends hatte er der gegenüber wohnenden Nachbarin zugesehen, wie sie sich für die Nacht vorbereitet hatte, bis sie die Jalousien herablassen hat. Beim endgültigen Umzug spürte er, wie weh das Verlassen des Hauses tat, in dem er Jahre mit Familie verbracht, für das er gespart, an dem er repariert, im Garten Bäume gepflanzt, geschnitten und gepflegt, einen Teich angelegt hat, wo Kindergeburtstage gefeiert worden sind. Das Schöne hatte das Bittere bei weitem übertroffen.

      Sein Jüngster hatte mit ihm Möbel und Klamotten in den Lieferwagen geladen, war zum neuen Domizil gefahren. Carls Frau hatte an dem Tag einen Ausflug mit Behinderten gemacht, das hatte für beide alles erleichtert. Zuerst waren Vater und Sohn einsilbig mit dem vollgepackten Auto dahingerattert, mit jedem Kilometer sind Wehmut und Verbitterung geschwunden, schließlich hatte die Freude aufs neue Heim überwogen. Möbel besorgen und aufstellen, Küchenbedarf und Krimskrams einkaufen, Lampen und Vorhangstangen montieren, all der Kram, der dazu gehört – abends war er todmüde ins Bett gesunken. Ein Jahr hatte er überwiegend allein gelebt, hatte sich in der wunderschönen Umgebung frei gefühlt wie in der Jugend, wenn er Schule geschwänzt und sich vorgestellt hatte, wie die Klassenkameraden sehnsüchtig auf den blühenden Kastanienbaum geguckt hatten. Das hatte dem Schule Schwänzen seine Würze gegeben. War er im Haus mit dem von zahlreichen Vögeln bevölkerten Garten doch manchmal in trübsinnige Stimmung verfallen, hatte ihn nicht nur einmal unerwarteter Besuch aufgemuntert.

      Die Pressesprecherin aus Tallinn hatte telegrafisch ihren Besuch angekündigt, für drei Wochen. Carl hatte sie vom Schiff abgeholt, sie hatten auf Radausflügen und Wanderungen die Umgebung erkundet, Museen besucht, in der Ostsee gebadet. Hat er Vorlesungen gehalten, war sie bummeln oder hat in der Bibliothek Publikationen studiert, die in der UdSSR nicht zu haben waren. Die zierliche Frau, die seine Tochter hätte sein können – ein sich witzig vorkommender Ober in einem Landgasthaus hat beim Bestellen gefragt, was er dem Fräulein Tochter bringen dürfe, zum Glück hat sie sein ländlich gefärbtes Deutsch nicht verstanden – half, seine Verstimmung zu überwinden. Die mädchenhafte Frau mit den hellblauen, ein wenig belustigt dreinschauenden Augen hatte ihm das Eingewöhnen leicht gemacht. Nie hätte er vermutet, dass sie nachts erst richtig auflebte.

      Die Stewardess unterbrach sein Grübeln, servierte ein mickriges Frühstück. Er trank den lauwarmen Tee, gab sich wieder seinen Träumereien hin. Die Wochen mit Ulla waren schnell verflogen, er hatte sie zum Hafen gebracht – ihr Schiff war gerade stolz aus dem Hafen gedampft, das nächste würde erst drei Tagen später gehen, sagte sie, und sie müsse doch arbeiten. Den ganzen Tag hat sie kein Wort mit ihm gesprochen, selbst dem guten Essen im Gasthaus gelang es nicht, sie zu besänftigen. Das zweite Mal waren sie früh genug am Kai. „Ich bringe dich an Bord.“

      „Das geht nicht, du hast kein Visum und kein Ticket!“

      Mit Chuzpe und Wiener Schmäh hatte er sich am Passbeamten vorbei gemogelt, bei der Ticketkontrolle am Fallreep dem Fotografen, der Bilder von Passagieren geschossen hat, zugerufen: „Wir sind auf der Hochzeitsreise!“ Klick, klick, sie waren durchgewinkt worden. Fotograf und Ticketkontrolleure hatten sich gewundert, als der Bräutigam das Schiff verließ und die junge Braut allein ließ.

      Die Stewardess servierte Limonade, auf innerrussischen Linienflügen war das Service minimal, dafür war das Fliegen für Russen billig. In den Wolkenformationen tanzte der Schatten des Flugzeugs auf und ab. Die Triebwerke dröhnten, das durchdringende Geräusch gemahnte an die Bomber im Krieg, Erinnerungen an die Geschichte mit der Bombe überfielen ihn.

      Die Tankstelle mit zehn Zapfsäulen an der Ortseinfahrt war angerufen worden, eine Bombe sei versteckt. Der Alarm hatte die Tankstelle für Stunden lahm gelegt, Polizei und Feuerwehr waren angerückt, um die Bombe zu entschärfen. Es stellte sich heraus, Lausbuben hatten ein Taschentuch auf die Sprechmuschel gelegt und die Bombendrohung lanciert, sein Jüngster war auch dabei. Der Pächter, ein Nachbar, hatte keine Anzeige erstattet, weil sein Sohn auch mit von der Partie gewesen ist – sonst hätte Carl den Verdienstausfall mitbezahlen müssen –, trotzdem war er mit Sohn zur Kriminalpolizei vorgeladen worden. Die Psychologin hatte gefragt, ob er mit oder ohne Vater reinkommen wolle. Er war mit einer Verwarnung davongekommen. Die Anklage wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit war fallen gelassen worden, den Sondereinsatz hatten die Eltern allerdings zu berappen. Wochen später hatte Carl geträumt, die Bombe war nicht zu finden, war explodiert, Angestellte und Kunden hatten sich gerade noch retten können. Der verzweifelte Pächter hat versucht, mit einem Handlöscher das Feuer zu ersticken. In der Ferne war ein Martinshorn zu hören gewesen, sein Sohn hatte mit großen Augen und in sicherem Abstand zugeguckt.

      Die Sonne blendete durchs Bullauge, er zog die Jalousie herab, es war noch etliche Minuten bis zur Landung. Er liebte es, am See entlang zu spazieren, auf den steil aufragenden Hügel zu steigen, einem Überbleibsel der Eiszeit, von der Bank aus einen Großteil des Sees überblicken zu können und zuzusehen wie die am Horizont schwebende Sonne den Himmel in dunkles Orange tauchte und zögernd der Nacht das Zepter überließ. Stockenten und Blesshühner waren zu den Nestern auf der Vogelinsel geschwommen, er hatte sich eins mit der Natur gefühlt.

      Plötzlich war neben ihm ein Schatten aufgetaucht, obwohl die letzten Sonnenstrahlen gerade ausreichten, ein zartes Violett an den Himmel zu malen. Nicht zum ersten Mal lief neben ihm ein Schatten, wo eigentlich keiner sein dürfte.

      Und deutlich war Vaters Stimme zu vernehmen: „Deine Weibergeschichten haben bald ein Ende, sie tun dir nicht gut. Dein Leben wird sich grundlegend verändern, nichts wird sein wie bisher!“

      Ehe er fragen konnte, was damit gemeint sei, hatte sich der Schatten dem Wasser zugewandt und aufgelöst. „Fängt das wieder an“,