Friedrich Karl Schmidt

Die Angst der Schatten


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hatte er wie die meisten ignoriert. Es war die letzte Fähre, er verspürte keine Lust, mit dem Bus um die Förde herum zu fahren. Als er hinter sich Schritte vernahm, ging er schneller, der andere ebenfalls. Verängstigt wischte sich Carl die Stirn und wandte sich um, doch da waren nur die Schatten der frisch gepflanzten Bäume. Sein eigener Schatten verlängerte und verkürzte sich beim vorbei Hasten an den Laternen; kam der Schein von hinten, wurde der Schatten vor ihm lang, näherte er sich der nächsten Laterne, kürzer und durchscheinend, verschwand schließlich, während der hinter ihm wuchs. Kam das Licht von der Seite, erschien ein kurzer, irgendwie geknickt aussehender Schemen an der Mauer, als wäre der Träger von einer schweren Krankheit verkrümmt worden. Und plötzlich gewahrte er, als bewegte sich jemand neben ihm, er wandte sich zur Seite. Und tatsächlich huschte eine schwarze Gestalt im Gleichtakt mit, obwohl nach den Lichtverhältnissen dort kein Schatten sein dürfte, sein eigener sogar in die entgegengesetzte Richtung fiel. Der fremde Schatten lag nicht flach auf dem Pflaster wie es sich gehörte, sondern ging aufrecht wie er, als marschierte eine dunkel verhüllte Figur neben ihm. Erleichtert, dass die Fähre noch nicht abgelegt hatte, eilte er über die Planke, die der Gehilfe sogleich einzog, als hätte er auf ihn gewartet.

      Zu Hause lachte er über seine Angst, doch das dunkle Gebilde, das ihn unabhängig von der Beleuchtung wie eine erschöpfte Gestalt begleitet hat, ging ihm nicht aus dem Sinn. Tagsüber tat er sie als Ausgeburt seiner Fantasie und Anzeichen von Überarbeitung ab.

      Die Ärgernisse hingegen, die nicht enden wollten, ließen sich nicht verdrängen und sein vager Eindruck, man schieße sich auf ihn ein, wandelte sich zur Gewissheit. Nur wer verbarg sich hinter dem „man“? Trug er, Carl, ein Brandmal auf der Stirn, ein Zeichen für Behörden und andere Stellen, ihn zu kontrollieren und zu drangsalieren? Bestand zwischen diesen Vorfällen und den nächtlichen Schattenspielen etwa doch ein Zusammenhang?

      Auf dem Bildschirm tauchten geheimnisvolle Botschaften auf, die ihn aufforderten, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Werbesprüche entwickelten sich zu aggressiven Versuchen von Abzockern, ihn zu schröpfen. Das Vorschalten eines Filters nützte kurzzeitig, bis sie wieder auftraten, das Schutzprogramm austricksten oder den Rechner zum Absturz brachten. Der Ton verschärfte sich, unbekannte Firmen forderten ihn auf, Waren, die er weder bestellt noch erhalten hatte, innerhalb kurzer Frist zu bezahlen. Die Beträge für nicht gelieferte Dinge summierten sich, in unverschämtem Ton abgefasste Mahnungen folgten. Da er nicht daran dachte, den Aufforderungen nachzukommen, schickten Anwälte und Inkassofirmen Rechnungen, drohten mit Pfändung. Sein Anwalt riet, jede Forderung zurückzuweisen, löschen genüge nicht. Als die Belästigungen durch Schwindelfirmen, die mit kriminellen Methoden Geld einzutreiben suchten, für kurze Zeit seltener wurden, hoffte er, sie würden aufhören. Das war blauäugig, aber hinterher ist man immer klüger. Bald häuften sich die Attacken erneut, nötigten ihm Stellungnahmen ab oder zwangen ihn, Entgegnungen zu verfassen. Er war es müde, immerfort auf der Hut sein, auf etwas reagieren zu müssen. Zu den fortwährenden Ärgernissen kam die überraschende Erkenntnis, dass Informationen, die er einem Amt, einem Polizeirevier, einer Bank oder einer Versicherung anvertraut hatte, weitergegeben wurden. Als er sich im Finanzamt über verschlampte – der Auffassung war er jedenfalls – Unterlagen beschwerte, hieß es, er solle sich im Ton mäßigen, ihm eile schon der Ruf voraus, sämtliche Dienststellen und Organisationen zu kritisieren, ihnen gar Inkompetenz zu unterstellen. Er fragte Freunde, ob sie seinen Eindruck teilen, dass Staat, Verbände und Wirtschaft aufs Engste miteinander vernetzt seien und Daten von Bürgern oder Kunden trotz Verbot austauschten. Sie widersprachen seiner Befürchtung, dass das Raster, mit dem er angeblich beobachtet und kontrolliert werde, immer engmaschiger werde. Ein Jurist behauptete sogar, das sei völlig aus der Luft gegriffen.

      Widerstrebend hatte er dem Drängen nachgegeben, die Bildübertragung beim Telefonieren zu übernehmen, hatte die Kamera am Monitor montiert. Das Unbehagen, dass Internetkonzerne und Geheimdienste durch die Kamera alles aufnehmen und verwenden konnten, verließ ihn beim Sprechen nie. Wer Mails abgreifen und weitergeben kann, schafft das auch mit Bildern. Am meisten aber störte ihn, keine Gesichter mehr schneiden zu können, wenn ihn eine Dauerrednerin langweilte.

      Und immer Träume, die beklemmende Angstgefühle auslösten, vor allem, wenn sie sich wiederholten wie jener von den zwei Schatten, die ihn durch die Stadt führten, sich nicht abschütteln ließen. Schlug er Haken oder wechselte die Straßenseite oder lief unversehens in die entgegengesetzte Richtung, klebten sie an ihm wie Kletten, drängten ihn zu einem abgewohnten Haus aus der Gründerzeit. Kaum betrat er den dunklen Gang, verschwanden die Wächter. Er erwachte.

      Kein Traum war es, sondern Realität, dass ihn mitunter Schatten begleiteten, die Gestalt annahmen. Physikalisch nicht zu deuten, schienen sie unabhängig von Lichtquellen zu existieren, traten auch an grau verhangenen Tagen auf, an denen Bäume oder Gebäude keine Schlagschatten warfen.

      Die Belästigungen im Netz wurden aggressiv, eine Firma drohte, seinen PC lahm zu legen, wenn er den geforderten Betrag plus Bearbeitungs- und Mahngebühren nicht umgehend überweise. Einige Tage später blieb der Bildschirm tatsächlich dunkel, so viele Tasten er auch drückte. Mit Wonne hätte er dem Rechner eins mit dem Hammer verpasst und als ahnte der, was ihm blühen könnte, ließ er sich hochfahren. Kaum gab er das Passwort ein, kam die Meldung, Name oder Passwort seien falsch. Vom Nachbarn, dem freundlichen Ingenieur, hörte er, eine Leitungsstörung lege das Internet lahm. Die Hoffnung, nach Behebung des Fehlers funktioniere es wie vorher, erwies sich als Illusion, ein Fachmann musste her. Der verlangte das Passwort, sonst könne er den Fehler nicht finden und die Daten sichern, lud das Gerät ins Auto. Carl registrierte, ohne sich etwas zu denken, dass der Lieferwagen keine Firmenbeschriftung trug. Am nächsten Tag kam der Computer zurück und funktionierte. Bald merkte er, Behörden und andere Institutionen verfügten über Informationen, die er ihnen nicht gegeben hatte. Hing es mit dem Firmenwagen ohne Aufschrift zusammen? Er verwarf den Verdacht.

      Auf von Anwälten in rüdem Ton verfasste Mahnschreiben reagierte er nicht, Inkassobüros drohten, Leute mit spezieller Ausbildung für permanente Zahlungsverweigerer zu schicken. Von ähnlichen Trupps, die vor nichts zurückschreckten, hatte er zwar in Russland gehört, aber doch nicht hier. Er ging zur Polizei, erzählte von den ungerechtfertigten Rechnungen und dass er sich bedroht fühle.

      „Ist Ihnen ein materieller Schaden entstanden?“, fragte er.

      „Ihrer Frage entnehme ich, dass Ärger, nutzlos vergeudete Zeit und Bedrohung nicht als materielle Schäden gelten – also nein.“

      Der Dorfpolizist warf ihm missbilligende Blicke zu. „Ist ein solcher Trupp, wie Sie ihn beschreiben, zum Eintreiben der Geldforderungen zu Ihnen gekommen?“

      Wieder verneinte er und der Polizist meinte, dann gebe es auch keinen Grund, einzuschreiten. Als Carl mit ironischem Unterton fragte, ob die Polizei immer erst tätig werde, wenn ein Verbrechen vorgefallen sei, riet ihm der Beamte mit hochgezogenen Brauen, er solle derlei an den Haaren herbeigezogene Vermutungen besser unterlassen, seine Nörgelei sei anderen Stellen bereits aufgefallen.

      „Ich meine es Ihnen nur gut“, fügte er hinzu. „Und was die Forderungen im Internet betrifft, können Sie sich an die Kriminalpolizei wenden, sie ist zuständig.“

      Also fuhr er zur Kriminalpolizei, schilderte sein Problem erneut und wurde mit einem Durchschlag der Niederschrift in den ersten Stock geschickt.

      „Der Spezialist für Computerbetrug ist überlastet und kann nicht jeden Fall übernehmen“, erklärte der Staatsdiener in Zivil. „Deshalb wird jede Anzeige vorher geprüft.“

      Beim Lesen des Protokolls aus dem Erdgeschoss fuhr er mit dem Zeigefinger wie ein Grundschüler die Zeilen entlang, spannte ein Formular in die Schreibmaschine, erwähnte, auf dem Stockwerk arbeite nur noch der Spezialist mit Computer, alle anderen seien durch Viren lahm gelegt. Er ließ offen, ob sich die Lähmung auf die Computer oder die Beamten bezog.

      „Der Programmierer, der als einziger den Schaden beheben könnte, ist ins Ministerium beordert worden. Dabei sind wir zu siebenundzwanzig Prozent unterbesetzt.“

      Er stellte fast identische Fragen wie die Kollegen im Erdgeschoss, hackte auf der Schreibmaschine herum, fertigte ein zweites Protokoll und murmelte: „Immer gehen alle von der Schuld