Hubert Wiest

Die Schattensurfer


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bringen. Er kennt alle Tricks und Kniffe. Er ist schon über siebzig und musste nie einen Kristall tragen. Albert sieht so harmlos aus, dass ihn keiner kontrolliert.“

      Es dauerte nicht lange, da kam ein älterer Mann in einer grauen Hausmeisterjacke herein. Er hatte die wenigen grauen Haare sorgsam über den Kopf gekämmt.

      „Wir sehen uns“, brummte Kalawesi und strich seiner Ratte über den roten Irokesen. „Luan, ich zähle auf dich. Ich werde persönlich deine Fortschritte verfolgen.“

      Luan nahm sich fest vor, Kalawesi nicht zu enttäuschen. Er folgte Albert nach draußen.

      „Wo sind wir?“, fragte Luan.

      „Das ist Kalawesis Bungalow. Er liegt am Rand des Lunaparks und ist ganz im Stil des letzten Jahrtausends gebaut. Kalawesi hat einen Sinn für Geschichte. Er liebt die Dinge der vergangenen Zeiten. Von hier aus hat man den besten Blick über den Park. Man sieht all das Vergnügen, das Kalawesi erschaffen hat.“

      „Wie kommen wir in die Schattenstadt?“

      Albert zeigte auf einen verrosteten Betonmischer, der unten vor Kalawesis Haus auf der Straße schwebte. Die Mischtrommel drehte sich langsam. Der zähe Beton schrappte im Inneren gegen die Trommel, wurde von dem Rührwerk angehoben und rutschte auf der anderen Seite wieder knirschend herab.

      „Ich kann mich doch nicht in dem Beton verstecken“, sagte Luan ungläubig.

      „Vertraue mir!“, sagte Albert und ging den Kiesweg hinab. Die Steinchen knirschten unter seinen Gummistiefeln. Luan folgte ihm wortlos. Er war auf dem Weg zu seinem Traumjob, aber irgendwie hatte er so ein komisches Gefühl.

      Luan wusste nichts über Betonmischer, aber ihm war klar: dieser war uralt. Er schwebte kaum über dem Boden und die Generatoren dröhnten so laut, als würden sie nicht mehr Höhe schaffen. Hinten an der Öffnung, durch die der Beton ausgegossen wurde, hing eine verrostete Kapsel, keine zwei Meter lang und nicht breiter als eine Mülltonne. Sie sah genauso verbeult aus wie das restliche Fahrzeug.

      Albert zwinkerte Luan vergnügt zu: „Wir verstecken dich in dieser Kapsel und versenken sie im flüssigen Beton. Dort findet dich niemand, bei keiner Kontrolle. Wir haben es schon oft gemacht. Sie brauchen nämlich viel Beton, um die Dunkle Mauer auszubessern und sie noch höher zu bauen.“

      Albert kletterte über eine rostige Leiter auf den Betonmischer und schraubte den oberen Teil der Kapsel auf.

      „Was passiert, wenn der Beton hart wird?“, fragte Luan unsicher.

      „Keine Sorge. So lange sich der Betonmischer dreht, bleiben uns fünf Stunden. Vorher wird der Beton nicht hart. Das hat immer gereicht. Bis dahin sind wir in der Schattenstadt. Länger als zwei Stunden habe ich noch nie gebraucht. Du kannst mir vertrauen.“

      Luan war neben Albert auf das Fahrzeug geklettert. Er sah durch die Öffnung ins Innere der Rührtrommel. Wie Kuchenteig wurde die graue Masse gedreht. Knirschend schrappte sie an der rostigen Wand entlang.

      Albert lächelte Luan aufmunternd zu. Er zeigte auf die geöffnete Kapsel: „Sie ist gut gepolstert. Du wirst allerdings ein wenig durchgerüttelt werden. Ein Bildschirm mit Unterhaltungsprogramm ist eingebaut, damit dir nicht langweilig wird. Dein ceeBand kannst du da drinnen vergessen. Da ist zu viel Beton und Stahl außen herum.“

      Luan fühlte an dem virtuellen Schaumpolster. Sanft ließ es sich eindrücken. Es fühlte sich unendlich weich an. Nicht so unbequem wie Kalawesis altmodische Polstermöbel.

      „Hinein mit dir. Die fünf Stunden laufen bereits. Ich weiß nicht, wie viel Verkehr heute auf den Ringstraßen ist“, sagte Albert. Er klopfte gegen den Betonmischer.

      Luan ließ sich mit den Füßen voraus in die Kapsel rutschen. Sie war eng. Von allen Seiten drückte Luan gegen die Schaumpolsterung. Er atmete schnell. Er versuchte sich zu beruhigen.

      „Habe ich eine Verbindung zu dir in die Fahrerkabine?“, fragte Luan nervös.

      Albert schüttelte den Kopf: „Nein, falls sie uns kontrollieren, könnte uns das verraten. Sie dürfen nichts finden.“

      Luan schluckte. Der virtuelle Schaum schmiegte sich sanft um seinen Körper.

      Albert schloss den Deckel der Kapsel. Er drehte ihn quietschend zu. Kein Geräusch von außen drang mehr hinein. Und dann fiel die Kapsel nach unten. Luans Magen verkrampfte sich, wollte sich gegen den Fall wehren. Doch nur für einen Moment, dann tauchte er tief in den Betonbrei.

      Im Rhythmus des Rührwerks wurde er hin und her gedreht, geschoben und gestoßen. Der Betonmischer setzte sich in Bewegung. Luan spürte ein holperiges Gleiten. Das alte Fahrzeug schwebte über die Fahrbahn. Luan wurde übel. Längst wusste er nicht mehr, wo oben und unten war. Er fühlte sich wie eine Rosine im Kuchenteig, der unablässig durchgeknetet wurde. Nervös wischte Luan über sein ceeBand. Der Bildschirm flackerte, zeigte nur noch die Zeit an: 22:00 Uhr. Das ceeBand hatte hier drinnen wirklich keinen Empfang. Ein, zwei Stunden, das würde er aushalten, obwohl ihn das dauernde Gedrehe schon nach ein paar Minuten verrückt machte. Luans Blick fiel auf eine schwarze Bildschirmfolie, die direkt vor seinen Augen angebracht war. Luan berührte die Folie. Sie gab unter seinem Zeigefinger ein wenig nach, schmiegte sich in den Schaum und ein Videobild leuchtete auf. Ein junger Mann strahlte Luan an. Er trug Jeans und ein lässiges T-Shirt. Natürlich wusste Luan sofort, wer das war.

      „Hi, ich bin Marc. Marc Bodin. Vielleicht kennst du mich? Ich freue mich, dass du zu uns kommst. Eine große Herausforderung wartet auf dich: Wir wollen die beste Unterhaltung der Welt erfinden und endloses Vergnügen programmieren. Die Menschen sollen den Lunapark lieben und dort den anstrengenden Alltag, die Schule, den Beruf, all die Sorgen vergessen. Wir arbeiten hart dafür, aber trotz der Arbeit werden wir auch gemeinsam Spaß haben.“

      Jetzt stand Marc auf einem verschneiten Berg. In der Hand hielt er ein goldenes Snowboard. Lässig ließ er es in den Schnee kippen und stieg darauf. Die Magnetverschlüsse schnappten zu.

      Natürlich wusste Luan, wo das Video gedreht worden war. Im Hintergrund sah er die Liftstation. Marc drückte sich ab und stürzte sich den tief verschneiten Hang hinunter. In weiten Schwüngen schrieb er mit seinem Board in den Schnee: Golden Surfer.

      Dann bremste er mit einem waghalsigen Schwung ab. Eine meterhohe Schneefontäne spritzte in die Kamera. Hinter unzähligen Schneeflocken hörte Luan Marcs Stimme: „Du kennst ihn sicher, den Golden Surfer, meine neueste Erfindung. Ich freue mich riesig, dass du ab jetzt in meinem Team bist. Lass uns zusammen die coolsten Dinge programmieren. Ich brauche dich!“

      Da blendete das schneestaubende Bild von Marc Bodin ab und Kalawesi erschien auf dem Bildschirm. Rüdiger hockte auf seiner Schulter und mümmelte Senf. Kalawesi räusperte sich: „Wir sind stolz, dich in unserem Team aufzunehmen. Nur die Allerbesten schaffen es und du gehörst dazu. Ich gratuliere dir.“

      Wie süßer Sirup flossen die Worte. Luan fühlte sich warm und glücklich und müde. Er wurde ganz schläfrig. Mit den Drehungen des Betonmischers taumelte Luan in einen tiefen Schlaf.

      Luan musste eine halbe Ewigkeit geschlafen haben, als er seine Augen öffnete. Vom Bildschirm lächelte Kalawesi herab, milde wie ein Vater. Luan lag ganz ruhig da, reglos wie ein Brett. Plötzlich fühlte Luan wieder, wo oben und unten war. Panik peitschte durch seine Adern. Der Betonmischer hatte aufgehört sich zu drehen. Luan riss seine Arme hoch. Mit schweißnassen Fingern wischte er über sein ceeBand: 02:30 Uhr. Das konnte nicht sein. Auf keinen Fall war er schon viereinhalb Stunden in dieser Kapsel. Niemals. Das durfte nicht sein. Er schüttelte seinen Arm, wischte immer wieder über das ceeBand, wollte die Zeit wegwischen. Wie eingebrannt blieb dort 02:30 zu lesen. Ihm blieb nur noch eine halbe Stunde. Dann würde der Beton zu einem Klumpen erstarren und er mittendrin. Wenn sich der Mischer nicht drehte, sogar schneller. Vielleicht lag er längst eingebacken in einem getrockneten Klumpen Beton und wusste es nicht einmal. Was war nur schiefgelaufen? Selbst der virtuelle Schaum schien sich nicht mehr so weich anzufühlen. Luan starrte auf die tickenden Sekunden seines ceeBands. Kalawesi lächelte ihm dabei zu. Nein, es war nicht Kalawesi, nur ein Video von ihm. Wusste Kalawesi, dass er in höchster Gefahr schwebte? Wo war