Hubert Wiest

Die Schattensurfer


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die kühlen blauen Ziffern. Luan wollte die Uhr anhalten, aber wie?

      Da fühlte Luan ein Vibrieren. Das Fahrzeug schwankte. Luan meinte, ein leises Rumpeln zu vernehmen, obwohl er wusste, dass der virtuelle Schaum kein Geräusch durchließ. Da wurde Luan angehoben, zur Seite gedreht und plötzlich war er wieder oben und Kalawesi lächelte ihn von unten an. Endlich. Der Betonmischer drehte sich wieder. Luans Blick blieb an der Uhrzeit kleben. Er wagte keinen Moment sie aus den Augen zu lassen. 02:40 glühten die Ziffern in das Halbdunkel der Kapsel. 02:41.

      Die Fahrt wollte nicht enden. Luan wusste längst, dass der Betonmischer in einer Minute genau 17 Umdrehungen machte. Er zählte mit. Und ohne einen Blick auf sein ceeBand zu werfen war im klar, dass es mittlerweile 02:53 sein musste.

      Mit einem Ruck hörte der Betonmischer wieder auf zu rühren. Der Lastwagen sackte ab. Er hatte angehalten. Luan zitterte. Die Uhr lief weiter. Und endlich wurde Luans Kapsel ganz langsam, Stück für Stück aus dem zähen Beton gezogen.

      Wie Rockmusik klang das Quietschen, als der Deckel aufgeschraubt wurde. Luan roch die warme Luft. Die altersschwachen Scheinwerfer des Lastwagens warfen zwei müde Lichtflecke in die Dunkelheit. Luan blickte in Alberts aufgerissene Augen. Schweiß rann Albert über die Stirn und hektische rote Flecken überwucherten seine Wangen. Wie dunkelblaue Schnüre traten seine Adern auf dem Hals hervor. Seine Haare waren von der Glatze gerutscht und hingen auf einer Seite herab.

      „War verdammt knapp“, murmelte Albert. „Wir sind in eine riesige Kontrolle gerasselt. Die Sipos hätten uns beinahe erwischt.“

      „Aber jetzt sind wir in Sicherheit?“, fragte Luan unsicher und stemmte sich aus der Kapsel.

      Albert nickte und scheitelte die Haare mit einem dünnen Metallkamm zurück über den Kopf.

      Der Lastwagen hockte in einem düsteren Hinterhof, umringt von heruntergekommenen Hochhäusern.

      Albert breitete die Arme aus. „Das ist dein neues Zuhause.“

      Luan wollte es nicht glauben. Er sollte in einer Ruine leben? Machte Albert einen schlechten Witz?

      Ein Robopet bellte. Luan hasste diese Viecher. Wenn sie schlecht programmiert waren, benahmen sie sich beinahe so verrückt wie echte Hunde und die waren zum Glück in Zoos verbannt. RUHL erlaubte nur noch freundliche Robopets. Ob das auch in der Schattenstadt galt?

      „Luan, komm! Du wirst erwartet. Kalawesi hat dich angekündigt“, sagte Albert und zog Luan sanft hinüber zu einem fast fensterlosen Hochhaus. Das Bellen wurde lauter.

      „Der Aufzug ist hinter dem Haus“, erklärte Albert.

      Das Robopet bellte in einem tiefen Bass. Da sah Luan, wie sich ein zotteliges schwarzes Vieh, groß wie ein Kalb, aus der Dunkelheit löste. Es sprang auf ihn zu. So etwas wäre in Mallinport niemals zugelassen worden.

      In diesem Moment kippte der Mond zwischen aufgerissenen Wolken sein puddinggelbes Licht herunter. Die weißen Zähne des Robopets blitzen auf. Luan drängte sich dicht an Albert.

      Der schwarze Köter war höchstens noch einen Satz von Luan entfernt. Schwer wie ein Kartoffelsack sprang das Monster Luan an. Luan stolperte rückwärts. Er spürte die riesigen Pfoten auf seinen Schultern. Panisch spannte Luan alle Muskeln an. Warum half ihm Albert nicht?

      Da drückte ihm das Robopet seine Zunge wie einen nassen Waschlappen ins Gesicht, schlabberte ihn ab. Wieder und wieder. Schlürfte und sabberte. Riesige dunkle Augen strahlten Luan begeistert an.

      „Nacho“, hörte Luan eine Stimme. „Nacho, komm sofort her!“

      Ein Junge tauchte hinter dem Hochhaus auf. Er hob eine Hand und winkte Albert zu, als hätte es keine Eile, Luan von dem durchgeknallten Robopet zu befreien. Die dunklen Locken des Jungen standen in alle Richtungen ab. Beim Friseur war er bestimmt schon lange nicht mehr gewesen. Der Junge war in etwa so groß wie Luan, aber breiter. Er machte den Eindruck, als könnte ihn nichts so schnell aus der Bahn werfen.

      „Hallo, Pablo“, sagte Albert und zwinkerte: „Nacho hat wohl einen neuen Freund gefunden. Darf ich vorstellen: Das ist Luan. Kalawesi schickt ihn zu euch. Luan, das ist Pablo von den Schattensurfern.“

      Luan fühlte sich ziemlich bescheuert. Da hing dieses Riesenvieh auf ihm und schlabberte ihn ab. Cool sah anders aus.

      „Nacho, komm sofort her“, rief Pablo.

      Nacho gehorchte kein bisschen und klatschte Luan immer wieder die Zunge ins Gesicht.

      Endlich zog Pablo das zottelige Robopet von Luan herunter.

      „Tut mir leid“, sagte Pablo. „Manchmal hört er einfach nicht. Ein Hund ist eben kein Robopet. Aber trotzdem, Nacho ist ein lieber Kerl.“

      Luans Knie zitterten. Ihm wurde ganz schwummerig: „Du willst sagen, das ist ein echter wilder Hund?“

      „Klar, ein echter Hund schon, aber wild ist er nicht.“ Pablo tätschelte dem zotteligen Hund über den Kopf.

      „Er hätte mich auffressen können“, beschwerte sich Luan. Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

      Pablo grinste: „Du musst dir keine Sorgen machen, an dir ist ja nichts dran. Nein im Ernst, Nacho ist ein lieber Kerl. Der tut niemandem etwas.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Schön, dass du hier bist, Luan. Kalawesi hat uns schon einen Starprogrammierer angekündigt, ein echtes Talent. So jemanden können wir bei den Schattensurfern immer gebrauchen.“ Pablo klopfte Luan auf die Schulter. „Jetzt komm erst einmal mit. Dir ist sicher ganz übel von dem Betonmischer. Das Ding ist schlimm. Aber Kalawesi vertraut dieser Rostlaube.“ Pablo schlug mit der Faust auf die Motorhaube.

      „Heute war es schrecklich“, sagte Albert. „Die Sipos hätten uns beinahe erwischt. In Zukunft werden wir die durchsichtige Seilbahn über die Mauer nehmen. Nächste Woche haben wir sie endlich einsatzbereit. Luan, ich wünsche dir viel Glück bei den Schattensurfern. Wir sehen uns bestimmt wieder. Macht es gut, Jungs!“

      Albert drehte sich um und kletterte ins Führerhaus des Betonmischers. Rumpelnd setzte er den Motor in Bewegung. Dann fuhr er rückwärts aus dem Hof und die müden Scheinwerfer des Lastwagens verschwanden in der Nacht.

      „Cooles ceeBand“, sagte Pablo.

      Stolz strich Luan über den biegsamen Bildschirm um seinen Arm. In hellblauem Licht leuchteten blubbernde Blasen auf.

      Pablo führte Luan auf die Rückseite des Hochhauses. Ein gläserner Aufzug schimmerte an der Außenwand wie ein Kristall. Er wollte so gar nicht zu dem heruntergekommenen Haus passen.

      „Den haben wir selbst gebaut. Wir hatten das ewige Treppensteigen satt“, erklärte Pablo und schob Luan hinein. Luan bemühte sich, dem Hund nicht zu nahe zu kommen. Doch da stupste ihn dieses Tier schon wieder mit der Schnauze.

      „Toller Aufzug“, stammelte Luan, aber seine Knie fühlten sich quarkweich an und sein Magen rebellierte. Luan hatte panische Höhenangst. So ein gläserner Aufzug war wirklich nichts für ihn.

      Pablo tippte den Code. Ein grünes Licht blinkte und der Aufzug schwebte nach oben. Luan drängte sich an die Rückwand. Er hielt die Luft an. Nur nicht nach unten schauen. Im fünften Stockwerk bremste der Aufzug sanft ab. Die Wand hinter ihm schob sich auf und Luan stolperte rückwärts in eine strahlend weiße Eingangshalle. Wie das Innere eines halbierten Tischtennisballs sah sie aus. Die Wände liefen oben in einer Kuppel zusammen. Ein runder weißer Tresen stand in der Mitte und dahinter schwebte in einem bunten Hologramm der Schriftzug: Schattensurfer.

      Ehrfürchtig starrte Luan das Hologramm an.

      Nacho tappte auf seinen schmutzigen Pfoten über den glänzend weißen Boden.

      „Ist schon ziemlich spät“, sagte Pablo und zog Luan am Tresen vorbei. „Die anderen schlafen längst. Morgen beim Frühstück lernst du sie kennen. Ich bring dich in dein Zimmer.“

      „Und Marc Bodin?“, fragte Luan.

      Pablo nickte: „Ja, ja manchmal ist