aus wolkenweichem Schaum. Die Wand bestand aus einem riesengroßen Bildschirm, sicher fünf Meter breit, nicht so ein winziges Teil wie bei den Häppy Kidz. Auf dem Schreibtisch lagen sorgfältig sortiert Schachteln voller Hochleistungsprozessoren. Die waren lässig vier- oder fünftausend Euro wert.
Luan atmete tief durch. Das konnte alles nicht wahr sein. Und dann ließ er sich einfach auf das Bett fallen. Es schaukelte sanft. Sein Kopf sank in ein riesiges Kissen. Luan schloss die Augen und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Sein Lieblingssong von den Galaxeiros weckte Luan am nächsten Morgen. Wohlig drehte er sich noch einmal im flauschigen Bettschaum. Schon lange hatte er nicht mehr so gut geschlafen. Dann kletterte er aus dem Bett. Mit den Fingern brachte er seine Frisur in Ordnung. Luan machte sich auf den Weg die anderen zu suchen und hoffte ein ordentliches Frühstück zu finden.
8 KRISTALLUNTERRICHT
Montagmorgen, erste Stunde. Nicht der alte Geschichtslehrer in seiner abgeschabten Cordhose und dem karierten Hemd schlurfte herein, sondern ein junger Mann riss die Tür auf. Sein schwarzer Anzug saß perfekt. Auf dem ledernen Stirnband funkelte ein dunkelblauer Kristall. Seine hellblonden Haare waren so exakt geschnitten, als wären sie mit Zirkel und Lineal vermessen. Er trat hinter das Lehrerpult und wippte auf den Zehenspitzen. Seinen Rücken drückte er durch wie ein Reckturner. Er sagte kein Wort, trotzdem stand die ganze Klasse auf. Sansibar ertappte sich dabei, wie sie versuchte, genauso gerade zu stehen, ihre Hände nicht auf den Tisch aufzulegen.
„Sein Kristall“, hauchte Marella. „Er trägt einen dunkelblauen Kristall, fast schon schwarz, dabei ist er höchstens dreißig.“
Sansibar nickte ehrfürchtig. Einen blauen Kristall in dem Alter. Das hatte sie noch nie gesehen.
„Setzt euch, Kinder“, sagte der Mann und lächelte charmant. Leise glitten die Kinder auf ihre Stühle. Ihre Blicke klebten an seinem Kristall.
Er wippte noch einmal auf seinen Zehenspitzen. Dann fuhr er fort: „Ich heiße Tornham, Doktor Tornham. Ich arbeite im Kristallamt und darf euch auf eure Kristallfeier vorbereiten. Wie ich sehe, besitzen drei von euch bereits den Kristall. Ihr seid schon vollwertige Mitglieder der Gesellschaft und gehört zu RUHL. Richtig erwachsen seht ihr drei aus. Wenn ihr wollt, könnt ihr mir helfen, den Unterricht zu gestalten. Ansonsten lasst euren Gedanken freien Lauf. Unterstützt die Gesellschaft. RUHL wird es euch danken.“
Marella reckte ihren Kopf mit dem durchsichtigen Kristall auf dem Stirnband stolz in die Höhe.
Sansibar fühlte, wie sich Neid aus dem Innersten ihres Bauches nach außen fraß. Warum hatte sie noch keinen Kristall? Sie wollte endlich auch zu RUHL gehören.
Marella zwinkerte ihrer Freundin zu: „Ich glaube, mein Kristall hat schon eine ganz leichte Gelbfärbung. Was meinst du? Ein Hauch von Kamille?“
Sansibar warf einen giftigen Blick auf Marellas Kristall. Mit zusammengekniffenen Lippen zischte sie: „Tut mir leid, Marella, aber ich sehe kein bisschen Gelb.“
„Liegt vielleicht am Licht“, flüsterte Marella und streckte ihre Stirn mit dem Kristall wie ein Einhorn in die Luft.
„Ruhe, ich bitte um Ruhe“, sagte Doktor Tornham und klopfte mit den Fingerknöcheln auf das Lehrerpult. Unmerklich verengten sich seine Augen, als er einen Blick auf Sansibar warf.
Wie eine Schildkröte zog sie den Kopf ein. Innerlich kochte Sansibar. Marella benahm sich wirklich zu dämlich. Nur wegen ihrer Freundin hatte sie schon einen Anschiss bekommen.
„Liebe Kinder, Großes steht euch bevor“, fuhr Doktor Tornham fort, als wäre er selbst ganz aufgeregt. „Bald werdet ihr eure Kristallfeier begehen. RUHL nimmt euch in die Gesellschaft auf. Dann seid ihr keine Kinder mehr. Ich weiß, ihr brennt alle darauf, mit euren Gedanken der Gesellschaft zu helfen. Doch bevor es so weit ist, darf ich euch auf den großen Tag vorbereiten.
Heute wenden wir uns RUHLs Anfängen zu. Damals, vor fast 50 Jahren, zu Beginn dieses Jahrtausends, stellte niemand seine Gedanken der Gesellschaft zur Verfügung. Jeder lebte für sich, war auf sein eigenes Leben bedacht, schielte nur nach seinem Vorteil.
Wissenschaftler hatten herausgefunden, dass 95 Prozent aller menschlichen Gedanken verschwendet wurden. Einfach so im Nichts verpufften, für unsinnige Tagträume verwendet wurden, Gedanken, die keinem etwas nützten. Niemand wollte seine Ideen teilen. Niemand bemühte sich um die Gesellschaft.
Deshalb sprechen Wissenschaftler bis zum Jahr 2000 von der Dunklen Zeit. Erst danach traten allmählich Veränderungen im Verhalten der Menschen ein.
Über das damalige Internet begannen die Menschen ihre Ideen und Gedanken für alle zu veröffentlichen, stellten Wissen zusammen, besprachen mit anderen Menschen wichtige Dinge. So wie ihr es jeden Tag macht.“
Die meisten Kinder drehten den Arm und blickten auf ihren Kommunikator. Auch Sansibar wischte über ihr TwaddleBand. Das Bild ihres Vaters leuchtete auf und eine Textwolke legte sich darüber: „Bitte Blitzpizzapulver für das Abendessen mitbringen. Schaffe es heute wahrscheinlich nicht vor 20 Uhr.“
Doktor Tornham lächelte in die Runde. Er ließ den Schülern noch ein wenig Zeit, ehe er fortfuhr: „Immer mehr Menschen begannen, ihre Ideen und ihre Gedanken der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Das Weltwissen wuchs wie eine Lawine. Probleme, die früher Jahrhunderte ungelöst blieben, benötigen nur noch einen Wimpernschlag. Neue technologische Entwicklungen wurden möglich. Alle halfen mit. Nicht einzelne Forscher erfanden die großen Dinge, sondern Teams von Forschern, ja, die ganze Gesellschaft.
Dieser rasante Fortschritt durfte nicht gebremst werden. Aus diesem Grund wurde vor 30 Jahren RUHL gegründet. RUHL – Rechnerunterstützte humane Leistung. Das war zunächst ein Zusammenschluss aller Computer zu einem gigantischen Wissensnetzwerk. RUHL gehörte nicht einem mächtigen Unternehmen oder der Regierung. Nein, RUHL gehört allen Menschen. Alle Menschen sind RUHL. Kinder, notiert bitte: RUHL gehört allen Menschen. Alle Menschen sind RUHL.“
Sansibar notierte die Sätze in ihr TwaddleBand. Das klang toll. Dazu wollte sie auch beitragen. Sie konnte die Zeit bis zu ihrer Kristallfeier nicht mehr erwarten.
Zufrieden ließ Doktor Tornham seinen Blick über die begeisterten Gesichter der Kinder schweifen. Im Wipptakt seiner Füße fuhr er fort: „Um das Wissen weiter zu steigern, wurde am 1.1.2025 beschlossen, alle Gedanken in RUHL zu veröffentlichen. Jeder einzelne Gedanke. Natürlich war dies am Anfang mühsam. Kaum jemand trug wirklich jeden Gedanken ein. Die meisten vergaßen es schlicht, verschoben es zu lange oder hielten manche Gedanken für zu unwichtig, um sie in RUHL zu veröffentlichen.
Es ging ein großer Aufschrei durch Mallinport, als Forscher die Ergebnisse einer Untersuchung bekannt gaben: Tatsächlich wurden nur 0,0001% aller Gedanken veröffentlicht, also nur ein winziger Bruchteil. Die Menschen behielten die meisten ihrer Gedanken für sich. Das war dramatisch.
Einige unkten, dass RUHL scheitern würde. Doch RUHL stand erst am Anfang seines Erfolgs. Zu diesem Zeitpunkt wurde die erste Generation des Protrektors erfunden – natürlich mithilfe von RUHL.
Der Protrektor I war eine Kappe, die es ermöglichte, alle Gedanken automatisch aufzuzeichnen und an RUHL zu übertragen. Und das geschah ohne den geringsten Aufwand. Niemand musste mehr Gedanken umständlich notieren oder aufnehmen oder eintippen. Man konnte nichts mehr vergessen. Alle Gedanken wurden, sobald sie gedacht waren, übertragen. Eine wirklich ausgezeichnete Erfindung. Die Protrektor-I-Kappen gab es in verschiedenen Farben und Formen, sodass jeder etwas nach seinem Geschmack fand. Sogar eine Ausführung als Strohhut war erhältlich. Meine Oma trug so einen.“
Marella und die beiden Jungs, die ebenfalls schon einen Kristall besaßen, klatschten Beifall. „Blöde Streber“, dachte Sansibar, aber natürlich fand sie den Protrektor auch eine geniale Erfindung. Ohne einen Finger krumm zu machen, wurden alle Gedanken an RUHL übertragen. Jeder hatte etwas davon, denn das Wissen der Menschheit wuchs.
Die Gesichter der ganzen Klasse waren rot vor Aufregung. Die Kinder hingen an Doktor Tornhams Lippen. Dieser schien es zu genießen und blieb sekundenlang auf den Zehenspitzen