Matthias M. Rauh

Die vom Tod verschmähte Katze


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hat. Sie hätte das Gewitter ganz sicher gesehen. Und da sie die Kiste bis zu ihrem Ende völlig unbemerkt unter Kontrolle halten konnte, müssen wir davon ausgehen, dass sie wahrscheinlich sogar die Mittel besaß, das Unwetter zu bändigen."

      "Und warum ist sie dann tot?"

      Wieder zuckte der Alte mit den Schultern. "Warum nicht? Lass sie doch. Vielleicht verging ihr die Zeit einfach nicht schnell genug." Das war die mit Abstand banalste Betrachtungsweise über den Tod, die Valentin je gehört hatte.

      "Aber eines merke dir", warnte ihn Augustinus. "Du wirst die Waldlichtung nicht mehr betreten, ganz egal, was geschieht. Es könnte nämlich durchaus passieren, dass dich der verbliebene Staub zu locken versucht. Grundsätzlich gilt: Traue nie einem Hexenweib, welches sich seines Körpers bereits entledigt hat. Niemals, verstanden?"

      "Jaaah", antwortete Valentin und erschrak dabei, da seine Stimme in eine Tonlage verfiel, welche er sonst nur von der Nickelbrille kannte.

      "Gut", sagte Herr Augustinus. "Dann wäre ja alles geregelt. Du kannst jetzt gehen. Aber denk daran: Das Bootshaus und der See sind tabu. Man wird ein Auge auf dich haben."

      Er blickte zum Fenster hinaus, wo sich die Krähenschar gerade in die Lüfte erhob. Einen Augenblick später landeten die geheimnisvollen Tiere auch schon vor dem Schaufenster und der Ladentür - als hätten sie das Gespräch von eben verfolgt.

      "Alles klar", sagte Valentin.

      "Ach so, ehe ich es vergesse", bemerkte Augustinus und deutete auf das zerborstene Element des Schaufensters. "Sag dem verkommenen Mondgesicht und seinem Diener, dass das nächste Unwetter alle beide durch sämtliche Rohre der Kanalisation spülen wird, wenn sie sich noch einmal hier in der Gegend herumtreiben sollten. Und diese Warnung sollten die beiden mehr als ernst nehmen. Meine Augen..."

      Er zeigte auf das Fenster mit den Krähen und begann zu grinsen.

      "...sind nämlich überall."

      Nun begann auch Valentin zu grinsen. So gingen sie zur Tür. Als sie an den vielen Regalen und Schränken vorbeikamen, konnte er sich aber eine Frage nicht verkneifen:"Was ist das eigentlich für ein komisches Geschäft?"

      "Komisch? Was meinst du damit?", gab Herr Augustinus die Frage zurück.

      "Na ja, verkaufen Sie das alles?"

      Der Alte sah ihn mit einer Miene an, als hätte er diese Frage in einer ihm völlig unbekannten Sprache gestellt. "Verkaufen? Wie kommst du denn darauf?"

      Valentin gab auf. Ladenbesitzer, die nichts verkaufen wollen, waren für ihn schließlich nichts Neues. "Nur so...", verwarf er seine dumme Frage.

      "Na gut", meinte Augustinus schroff. "Dann geh jetzt."

      "Ähm, der Ausgang ist aber verschlossen. Können Sie ihn aufsperren?"

      "Du wirst doch in der Lage sein, eine gewöhnliche Tür zu öffnen", lautete die unerwartete Antwort.

      So drückte Valentin die Klinke abermals herunter. Und er konnte es nicht fassen. Die Tür, welche ihm kurz zuvor die Flucht verweigert und anschließend dem verzweifelten Engels den Zutritt verwehrt hatte, ließ sich nun ohne die geringste Anstrengung öffnen.

      "Auf Wiedersehen", sagte der Alte, hob den Krähenspäher von seiner Schulter und warf ihn in die Luft. Das geheimnisvolle Tier begann augenblicklich zu flattern, worauf sich auch die übrige Krähenschar in die Lüfte erhob. "Und denk daran: Keine Dummheiten mehr."

      "Ja", antwortete Valentin. "Auf Wiederseh..."

      Aber da war die Tür hinter seinem Rücken bereits zurück ins Schloss gefallen. Er drehte sich um und drückte die Klinke abermals herunter. Unfassbar, jetzt war sie wieder fest verschlossen. Der Regen legte nun deutlich zu, und aus irgendeinem Grund war sich Valentin sicher, dass auch dies kein Zufall sein konnte. Er sollte diese seltsame Gasse jetzt verlassen und den Krähen folgen. Nach ein paar Schritten jedoch stockte er. Da lag sein Mathematikheft auf dem Kopfsteinpflaster. Engels hatte es vorhin beim Wühlen weggeworfen. Nun war es völlig durchnässt."So ein Mist", stöhnte er und schüttelte es aus.

      Aber da lagen noch weitere Utensilien im Regen: Ein zersprungenes Mobiltelefon, dem das Wasser noch weit weniger gut bekommen war und eine Nickelbrille mit zersplittertem Glas. Dazu eine abgetragene Aktentasche sowie ein völlig durchnässter Schuh, in welchem sogar noch eine Socke steckte. Dieser Anblick tröstete Valentin über den Verlust seines Schulhefts hinweg.

      Wo gehobelt wird, fallen eben Späne, dachte er sich. Und diese Lektion war offenbar sehr gründlich gelernt worden. Er steckte das Heft ein. Dann beschloss er, auch die Nickelbrille und das zerstörte Handy mitzunehmen, als eine Art Trophäe. Die Aktentasche und den Schuh ließ er jedoch zurück. Was sollte er auch mit all den verstreuten Stücken von Engels anfangen?

      Der Krähenspäher krächzte und zog ungeduldige Kreise unter dem Wolkenturm. So machte sich Valentin auf den Weg. Er blickte auf das verbeulte Eisenschild, welches an einer alten Straßenlaterne befestigt war und im Wind zitterte. "Eulengasse", flüsterte er. Da vernahm er plötzlich ein leises Hecheln, ja ein fast winselndes Hecheln. Und ein Geräusch, welches sich anhörte, als liefe jemand barfüßig und triefend vor Nässe über das nackte Kopfsteinpflaster.

       Wiwiff...bwww! Wiwiff...bwww!

       Patsch! Patsch! Patsch!

      Blitzschnell drehte er sich um. Aber es war zu spät. Nichts regte sich in dieser Gasse, nichts außer dem fallenden Regen. Dafür hatten sich Engels´ verlorener Schuh und die Aktentasche auf höchst geheimnisvolle Art und Weise in Luft aufgelöst. Da machte ihn eine ungeduldige Krähe darauf aufmerksam, dass es nun wirklich Zeit war, zu gehen.

      Kapitel 21 - Narbenbetrachtung

      Es dauerte bis spät in die Nacht hinein, ehe Valentin auch nur annähernd begriff, was sich in den letzten Stunden alles zugetragen hatte. Immer und immer wieder starrte er dabei in den donnergrollenden Hexenhimmel und stellte sich vor, dass er es gewesen war, der den entarteten Fleck einst heraufbeschworen hatte. Er und kein anderer.

      Ein alter Stadtplan brachte ihn schnell an die Grenzen seines Verstandes, denn eine Eulengasse existierte nämlich nicht. Nicht in dieser Stadt und wohl auch nicht in dieser Welt. Die Eulengasse war nichts als Phantasie, das Hirngespinst eines Verrückten. Als er aber seinen Geisteszustand ernsthaft in Frage stellte, zog er auch schon die Relikte des Wahnsinns aus seiner Tasche. Ein zerstörtes Mobiltelefon und eine zersprungene Nickelbrille.

      Wie er es auch drehte und wendete, es bestand kein Zweifel mehr: Er hatte einen ganzen Nachmittag an einem Ort verbracht, der nicht existierte. Und ob er nun verrückt war oder nicht - es fühlte sich großartig an.

      Die Euphorie sollte jedoch schnell verfliegen, als er am nächsten Morgen wieder in die Fänge des grauen Schulalltags geriet. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich der dumme Junge an diesem Tag unantastbar. Sollten sie doch quatschen, was sie wollten. Es gefiel ihm einfach, dass er jetzt jemanden kannte, der sie alle fertigmachen konnte.

      "Denkst du gerade an den Tod?", fragte ihn das Mädchen namens Grabstein, als er geistesabwesend in den Schulhof starrte.

      "Nein", sagte er. "Es hat nur wieder einmal Krach gegeben, aber das juckt mich nicht."

      "Wieso? Was ist denn passiert?"

      "Mein Schulheft wurde gestern ruiniert. Ich habe mir in der Nacht extra noch die ganze Arbeit gemacht, es abzuschreiben und es dann auf dem Schreibtisch vergessen. Und warum habe ich es vergessen? Weil ich wegen der ganzen Arbeit natürlich verschlafen musste. Der Glatzkopf ist jedenfalls total ausgerastet. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht."

      "Kann ich verstehen", sagte Luiza. "Es gibt wohl eine ganze Reihe von Leuten, die heimlich Mordgelüste gegen ihn hegen."

      "Du auch?"

      "Nein", sagte sie. "Ich habe ja meine Bücher."

      "Bücher?"

      "Ja",