Matthias M. Rauh

Die vom Tod verschmähte Katze


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Es besaß einfach kein Ende und verlor sich dort, wo das Ende eigentlich hätte sein müssen, in einem flüchtigen, raumlosen Nichts. Dem Tod konnte diese verheerende Eigenheit jedoch nichts anhaben, da er ja bekanntlich weder Haut noch Haar besaß.

      Wäre aber einer dieser armseligen Menschen der Versuchung erlegen, dieses unfassbare Schriftwerk an sich zu nehmen, dann wäre er auf der Stelle kollabiert und von dem raumlosen Nichts verschluckt worden - mit einem lauten und überaus genussvollen Schmatzen. Der Sensenmann war sich sicher, dass dies dann geschehen würde. Und es hätte ihm sogar ein leichtes Lächeln abgerungen. Der Tod zu sein, muss ja nicht gleich zwangsweise bedeuten, einer gewissen Art von Humor gänzlich abzuschwören - auch wenn man nichts fühlt.

      Aber all den Platz brauchte es, waren in diesem Buch doch die Lebenskonten sämtlicher schwarzer Katzen verzeichnet. Viele davon hatten das Gröbste schon lange hinter sich - sie waren tot und fristeten ihr Dasein in den Tiefen seines Umhangs. Andere dagegen hatten noch etwas Zeit, eine Galgenfrist sozusagen. Ihre Uhr tickte aber dennoch unausweichlich dem Ende entgegen, Sekunde um Sekunde, Stunde um Stunde, Katzenleben für Katzenleben.

      Es waren ganze sieben Leben, um genauer zu sein, und damit genoss die schwarze Katze ein besonderes Privileg, welches sie von allen anderen Lebewesen unterschied. Warum diese Besonderheit existierte, darauf konnte sich der Tod nun wirklich keinen Reim machen. Und wie er da auf dem Gehsteig stand, da ertappte er sich dabei, dass sich seine Hand gerade unbewusst in die Richtung seines Schädels bewegt hatte. Sofort hielt er inne und erschauderte vor sich selbst. Der Endgültige wäre beinahe tatsächlich der Unsitte verfallen, sich am Kopf zu kratzen. Was allerdings eine zutiefst menschliche Regung gewesen wäre.

       Verdammte Katzen.

      Hastig steckte er das Buch zurück in seinen Umhang und überließ die tote Kreatur dem natürlichen Lauf der Zeit. Niemand hatte etwas von seinem kurzen Moment des Nachdenkens bemerkt. Und niemand sollte jemals etwas von seinem Geheimnis erfahren.

      Zumindest niemand, der sterblich war.

      So nahm er seine Sense und überprüfte sein nicht vorhandenes Spiegelbild. Schließlich wischte er die sommerliche Szenerie durch einen flüchtigen Wink seiner Knochenhand davon.

       Er konnte das, denn er war der Tod. Und wie viele Leben schwarze Katzen auch haben mochten - der Tod beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Er hatte seine Befehle und führte sie aus. Der Rest war ihm schlicht und einfach egal.

      Aber seltsam war das trotzdem. Oder?

      Kapitel 1 - Kleine Unannehmlichkeiten

       Tack!

      Die kleine goldene Uhr war ganz plötzlich stehengeblieben. Um genau acht Uhr dreißig und elf Sekunden hauchte sie ihr tickendes Leben aus. Plötzlich, aber nicht unerwartet.

      Mit zufriedener Miene öffnete der Antiquitätenhändler die Schublade unter dem Ziffernblatt und zog einen winzigen Schlüssel heraus. Dann zählte er die Umdrehungen, die nötig waren, um das kleine Ding wieder in Betrieb zu setzen. Eins, zwei, drei, vier, fünf - und noch diese halbe, wahrhaft meisterliche Umdrehung, die es brauchte, bis eben dieses leise, kaum vernehmbare Klack! im Inneren des Uhrwerks zu hören war. Diesen einen, winzigen Punkt nicht zu verpassen, war eine hohe Kunst. Eine Kunst, die nur von einem Meister beherrscht wurde.

      Als die Uhr wieder zu ticken begann, legte er den Schlüssel zurück in seine Schublade und verschloss sie sorgfältig. Dann überprüfte er nochmals die korrekte Position der Zeiger, denn ein Fehler wäre einem Weltuntergang gleichgekommen.

      Dem plumpen Jungen auf der Leiter, dessen simple Aufgabe darin bestand, die vielen Bücher in den Regalen abzustauben, kam es nicht weiter verwunderlich vor, dass der Antiquitätenhändler schon vorher wusste, wann eine Uhr ihr Ende erreichte. Schließlich hatte er längst herausbekommen, dass der merkwürdige Herr Zacharias über seine tickenden Zeitgenossen genauestens Buch führte.

      Das Chronographenkompendium lag kaum übersehbar auf dem Tisch neben der Registrierkasse - ein überdimensionales Werk mit edlem Ledereinband, welches als einziges in diesem Laden nicht abgestaubt werden musste. Dazu wurde es schließlich viel zu oft aufgeschlagen. In diesem Buch befanden sich unzählige Listen über unzählige Uhren. Man konnte hier nachsehen, woher die jeweilige Uhr stammte, wann genau sie bislang stehengeblieben und mit welcher Anzahl an Umdrehungen sie wieder in Gang zu setzen war. Wann dies zu geschehen hatte, war exakt berechnet worden, so dass der gewissenhafte Mann den Zeitpunkt eines Stillstands auf die Sekunde genau vorhersagen konnte. Die Uhr mit der tanzenden Ballerina würde morgen um elf Uhr dreiundvierzig und sechzehn Sekunden an der Reihe sein. Schlüssel unter dem Tanzboden, sechseindreiviertel Umdrehungen bis zum meisterlichen Klack.

      Nun, da alles wieder seinen gewohnten Gang nahm, setzte sich der Alte wieder in seinen geliebten Ohrensessel und gönnte sich einen Blick in seine Tageszeitung. Was es wohl alles zu berichten gab, vor exakt 150 Jahren..?

      Dem Jungen auf der Leiter stieg derweil eine Staubwolke zu Kopf.

      "Haaah...tschiiie! Ups..."

      Pikiert blickte Herr Zacharias zu seinem Angestellten hinüber - so derart pikiert, dass man direkt meinen konnte, er hätte dieses Wort erfunden. Dann schüttelte er den Kopf.

      "Verzeihung", sagte der Junge und wunderte sich dabei über sich selbst. Was hatte er da eben von sich gegeben? Verzeihung?

      An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass besagter Junge gerade einmal 15 Jahre alt war und wie ein Fremdkörper im Arsenal der vielen Kostbarkeiten wirkte. Gewiss, er trug einen Anzug - noch dazu ein sehr altmodisches Modell. Aber das reichte eben nicht aus, um ihn zu einem geschätzten Teil dieses ehrwürdigen Ambientes zu machen. Dieser Anzug war kaum mehr als Faschingsmaskerade und half kein bisschen, seine in jeder einzelnen Bewegung manifestierte Unbeholfenheit zu verschleiern. Dreimal war er allein an diesem Morgen von der Leiter gefallen.

      Nun mag man sich fragen, wie dieser Junge überhaupt den Weg in diesen Laden finden konnte - und was den gewissenhaften Mann nur bewogen hatte, dies auch noch zu dulden.

      Der Zufall war es, der Valentin Kraus einst in das kleine Geschäft an der Ecke führte. Nichts als reiner Zufall. Denn eigentlich hätte er diesen Job gar nicht nötig gehabt, schließlich besaßen seine Eltern ja eine kleine Gärtnerei, wo immer eine Menge Arbeit anfiel. Doch das Schicksal hatte ihm, dem ewigen Verlierer, schon früh die Grenzen aufgezeigt. Valentin Kraus kämpfte nämlich nicht nur mit den Tücken der Schwerkraft, sondern litt obendrein auch noch unter einem äußerst hartnäckigen Heuschnupfen - ein Problem, welches ihm schon im sommerlichen Alltag zu schaffen machte.

      Im Alter von fünf Jahren hatte er einmal Bekanntschaft mit indischen Lupinen gemacht, die wunderbar dufteten und ihm zeigten, was so ein schlechtes Karma alles anrichten kann. Er überlebte zwar, musste seither aber um alles, was nach Gärtnerei aussah, einen großen Bogen machen.

      Der Heuschnupfen war auch der Grund, weswegen man ihm oft vorhielt, ein wenig zu blass um die Nase zu sein. Aber es gab einfach nichts, was er dagegen tun konnte. Der plumpe Junge auf der Leiter war wohl einfach kein Kind des Sommers, mehr gab es dazu nicht zu sagen.

      Eine Anzeige in der Tageszeitung war es schließlich gewesen, die ihn in dieses seltsame Geschäft führen sollte: Antiquitätenhandel L. Zacharias - klein und unscheinbar, gedruckt in einer biederen Schriftart, mit wenigen Worten und einer Telefonnummer. Ein dunkler Ort, der wie geschaffen schien für das Blassgesicht.

      Inzwischen wusste er, dass besagte Nummer ein stilvolles Telefon klingeln ließ, welches auf einem Tischchen mit Spitzendeckchen stand. Natürlich war es mit peinlichster Sorgfalt auf Hochglanz poliert worden. Und weil sich wirklich kein einziger Fingerabdruck darauf befand, ging Valentin davon aus, dass es vom Antiquitätenhändler tatsächlich nach jedem Telefonat neu aufpoliert wurde. Vielleicht benützte Herr Zacharias aber auch die weißen Stoffhandschuhe zum Telefonieren. Er trug sie bei besonderen Anlässen und sah damit aus wie ein englischer Butler. Ein Butler, der die Ruhe und Erhabenheit dieses Ladens zu schätzen wusste - genau wie