Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


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Kogitate, die wir uns „vorstellen“ oder sogar niederschreiben, um das Gegenüber mit materiellen Mitteln zu stützen. Kogitate „an sich“, ohne spezifischen Realbezug, gibt es nirgends. Damit erschließt sich die „Denktätigkeit“ als die Produktionsstätte von ideellen Einzelgeschöpfen, deren individueller Charakter niemals aufgehoben werden kann - mit anderen Worten: das Denken ist kein Vorgang wie alle anderen, es nimmt eine ausgezeichnete, d.h. einmalige Stellung ein, die sich vorläufig nur als Negativum fassen lässt: Das Denken zeigt keine inhärenten Strukturen. Es ist unbestimmt.

      Natürlich meint der Begriff „unbestimmt“ etwas anderes als die immer wieder schwer überwindbare Unklarheit oder Ungenauigkeit des menschlichen Denkens. Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, wollen wir vom „bestimmungslosen Denken“ sprechen und damit eindeutig ausdrücken, was gemeint ist: die Strukturlosigkeit des Denkelementes, das die Begriffe produziert, also jener Tätigkeit, die wir von ihren Resultaten unterscheiden mussten. Wir entdecken keinen Vorratskasten, in dem Begriffe, Kategorien oder Prinzipien aufbewahrt sind, um bei Gelegenheit zum Vorschein zu kommen, sondern das genaue Gegenteil: ein Etwas, das die Fähigkeit besitzt, spezifische begriffliche Bestimmungen hervorzubringen, die zur Welt gehören, aber nicht unmittelbar aus den Wahrnehmungen hervorgehen. Diese Begriffsbildung richtet sich nach den Objekten, die uns gegenübertreten, und holt heraus, was sie unterscheidet und verbindet. Das ist auch der Grund dafür, dass wir die ideelle Ordnung der Dinge als objektive Weltordnung begreifen. Aber es ist nun einmal Tatsache, dass wir uns selbst als die Produzenten der Begriffe fühlen und deshalb Gefahr laufen, alles Begriffliche zum Denkinhalt zu machen oder zu Objekten zu stilisieren, die von der Erfahrungswelt grundsätzlich verschieden sind. Die berühmte Kategorientafel Kants ist ein herausragendes Beispiel für diese Auffassung, die sich gegen den Empirismus Humes wendet. Die Erfahrung bietet nichts an, was innere Notwendigkeit aufweist. Nur die sog. kategorialen Begriffe enthalten ein Element, das allem entgegensteht, was Innen- und Außenwelt zu bieten haben, die unableitbare „Denknotwendigkeit“, mit der Kant seine Erkenntnislehre begründet. Wir werden sehen, dass darin ein interessanter Trugschluss verborgen liegt, der daher kommt, dass die Kategorien aus ihrem Zusammenhang herausgehoben und als Denkbestimmungen behandelt wurden. In Wahrheit unterscheiden sich diese Kategorien in nichts von den anderen Begriffen: sie alle sind Bestimmungen, die zur Wahrnehmungswelt gehören. Und sie werden von einem tätigen Denken produziert, das über jede einzelne Bestimmung hinaus ist, sonst wäre es unfähig, Bestimmungen hervorzubringen. Nur ein Unbestimmtes kann Bestimmtes erkennen. In dem Augenblick, wo wir dem Denken eine bestimmte Struktur zuweisen, stellen wir es in eine Reihe mit allen strukturierten Wahrnehmungen und stehen vor dem unlöslichen Problem, wie es möglich sein soll, dass eine Struktur die andere erkennen soll. Kant hat sich Begriffe gegenübergestellt, die eine führende Rolle im Denken spielen, war aber nicht in der Lage, den Grund hierfür anzugeben. Er nahm sie als endgültige Strukturen des Denkens, nach denen sich die Erfahrung zu richten hat. So wird die Welt zum Spiegel einer überpersönlichen Denkstruktur, für deren Annahme keine Veranlassung vorliegt, wenn man sich die Mühe macht, von Beobachtungen auszugehen. Auch Hegel klammert sich an Begriffe, allerdings mit dem Unterschied, dass er sie „in Bewegung“ bringen will, um ihre gegenseitigen Beziehungen aufzudecken. Beiden Philosophen fehlt der Blick auf das bestimmungslose Denken, das über allen Begriffen steht, die nur spezifische Resultate seiner Arbeit sind. Kant sieht es überhaupt nicht, und Hegel, der es erlebt, setzt es kurzerhand als ontologisches Urprinzip, als sog. „Weltgeist“ an, der sich an seinen eigenen Begriffsstrukturen entwickelt und damit, entgegen allen Versicherungen, die Menschen in Begriffe verwandelt, wie seine mystifizierende Logik eindeutig beweist. Wir können hier schon feststellen: es gibt kein dialektisches Denken, auch wenn wir zweifellos polarisierte und korrelative Begriffe handhaben müssen. Dialektische Bewegungen gehören - und hier war Karl Marx im Recht - der Erfahrungswelt an, werden begrifflich erfasst, d.h. erkannt und von unserem Ich in Freiheit „bewegt“. Kein Weltgeist dirigiert uns. Wenn das Denken selbst dialektisch wäre, könnte es immer nur die jeweilige Position oder Gegenposition beziehen und müsste ganz und bewusstlos in ihr aufgehen und automatisch weitere Positionen hervorbringen, ohne irgend etwas davon zu wissen. Schon die Tatsache, dass Hegel von „Dialektik“ spricht, zeigt das wahre Verhältnis des bestimmungslosen Denkens zu seinen Begriffen: es ist sozusagen neutral, es steht über allen seinen Produkten, es ist in diesem Sinne weder logisch noch alogisch, auch nicht dialektisch, sondern überlogisch und universell. Es wäre allerdings unzulässig, von einem „Metadenken“ zu reden, weil das bestimmungslose Denken und die Produktion von Begriffen doch nur so verstanden werden können, dass sie unmittelbar ineinandergreifen, d.h. dass sie zwei Aspekte eines Geburtsvorgangs sind, die wir nur begrifflich auseinanderhalten dürfen, während sie realiter als höhere Einheit gelten müssen - auch wenn sich dieser Prozess aus naheliegenden Gründen nicht mehr analysieren lässt. Aber wir werden noch manches hinzufügen können.

      Was geschieht nun rein aktologisch, wenn wir denken? Lassen Sie es mich einmal in der folgenden Weise sagen. Das bestimmungslose, in sich selbst neutrale Denken bringt Begriffe hervor, wenn ihm von „außen“ kommende Wahrnehmungen entgegentreten, mit denen es sich ideell auseinandersetzen muss. Diese neugeschaffenen Begriffe nehmen sofort die Gestalt von Gegenüberstellungen an und werden als „selbstproduzierte Wahrnehmungen“, als „Objekte“ unter Objekten behandelt, wie alle anderen, die wir begreifen wollen. Was tun wir nun? Wir unterbreiten die neuen Begriffs- und Sachzusammenhänge, d.h. unsere ideell geordneten Vorstellungen, wiederum dem bestimmungslosen Denken, um neue begriffliche Bestimmungen zu produzieren, mit denen dann in willkürlicher Folge immer dasselbe geschieht. Hier begegnen wir wieder der „intermittierenden Denkbeobachtung“, aber in deutlicheren Umrissen. Die unklar gebliebene „Denktätigkeit“, die unsere Begriffe hervorbringt, wenn das Ich den Anstoß gibt, erweist sich als die Arbeit des bestimmungslosen Denkens. Wenn wir den Pendelschlag vom Ich zur Gegenüberstellung in Gang bringen, aktivieren wir einen komplizierten Prozess auf der Seite des Ich-Pols, der die scheinbaren Gegensätze überbrückt. Wir arbeiten mit einem überlogischen Etwas, dem wir noch auf die Spur kommen wollen. Aber eine wichtige Schlussfolgerung können wir bereits ziehen, die weitreichende Folgen hat. Sie entsinnen sich des unlösbaren Problems der epistemologischen „Zirkularität“, von der wir einmal kurz gesprochen hatten: ich meine die Anwendung des Denkens auf das Denken, der Logik auf die Logik, desselben auf dasselbe - also jenen Kreislauf, den wir in logischer Hinsicht als widerlogisch ansehen müssen. Ich möchte es kurz machen: diese epistemologische Zirkularität existiert überhaupt nicht. Sie ist ein Scheinproblem, das dadurch zustande kommt, dass man von einem Denken ausgeht, das bereits in sich selbst logische Strukturen besitzt, denen zugemutet wird, sich auf sich selbst anzuwenden, sich also am eigenen Schopf aus dem Sumpfe zu ziehen. Strukturen, so sagten wir, können keine Strukturen erkennen. Was geschieht, ist etwas ganz anderes. Wenn ein Logiker sich Begriffsrelationen der reinen Logik zuwendet, um weitere logische Beziehungen aufzudecken und zu interpretieren, dann geht er von bereits fertigen Begriffen aus, von vorher produzierten Resultaten der Denktätigkeit, also von vorgefundenen Objekten, die eine begrifflich-logische Gestalt haben - und tut das Folgende: er unterbreitet sie dem bestimmungslosen Denken, um neue Begriffe oder Begriffskombinationen zu erhalten, die in der Lage sind, das logische Bezugssystem, mit dem er sich abquält, näher zu bestimmen. Diese Bestimmungen mögen verschiedene Grundlagen haben, sie mögen die logifizierte Form der realen Weltzusammenhänge sein, aber eines ist gewiss: sie sind in keinem Fall die Offenbarung von immanenten Strukturen des Denkens. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die Erkenntnistheoretiker und Logiker haben das volle Recht, ihre epistemologischen und logischen Untersuchen anzustellen, sie geraten mit ihrem Denken nicht in Widerspruch, wenn sie nicht die Torheit begehen, ihre Begriffe und Begriffsbeziehungen für das Denken zu halten.

      Mit diesen Überlegungen gerät auch die moderne Sprachphilosophie in ein neues Licht, das uns noch beschäftigen soll. Damit haben wir alles zusammengetragen, was wir brauchen, wenn wir das Denken untersuchen wollen. Wir werden aber einen neuen Ansatz machen, um unser Problem von einer anderen Seite angehen zu können. Vielleicht lässt sich alles, was uns bisher begegnet ist, noch besser begründen, wenn wir einen Stellungswechsel vornehmen.

      D. DAS DENKEN ALS ABSOLUTUM

       12. Ein Vorspiel aus dem Alltag

      Es ist immer