Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


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Zwei Dinge vertragen sich nicht: tätiges Hervorbringen und beschauliches Gegenüberstellen.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 43)

      So weit Rudolf Steiner. Sie können nun selbst die einzig mögliche Konsequenz aus diesen zweifellos richtigen Überlegungen ziehen. Wenn dem so ist, dann werden wir uns den Resultaten des Denkprozesses widmen müssen, also den „Erfahrungen“, die uns begegnen, wenn wir feststellen wollen, was übrigbleibt. Wir werden also auf zwei grundverschiedene Elemente verwiesen, die aber zwangsläufig miteinander in Verbindung stehen müssen: auf das Denken, von dem ich weiß, dass ich es tätig vollziehe, und auf das Ergebnis dieser Arbeit, auf das Endprodukt, dessen ich mir bewusst werde, auf die Eigengeschöpfe, die mir so gegenübertreten, als seien sie dem Haupte des Zeus entsprungen. Von diesen beiden Elementen können wir nur das eine beobachten, das andere entzieht sich unserem Zugriff. Alles, was uns sonst von „innen“ und „außen“ entgegentritt, hat zweifellos, wenn auch in verschiedenen Formen der Klarheit, den Charakter der Beobachtbarkeit. Nur das Denken ist die große Ausnahme. Damit entzieht sich die Denkbeobachtung der Denkbeobachtung. Das scheint ein endgültiges Ergebnis unserer Überlegungen zu sein. Die Frage ist nur, ob wir dabei stehen bleiben dürfen.

       10. Die intermittierende Denkbeobachtung

      Wenn uns nur das zweite Element des Denkprozesses in Gestalt fertiger Resultate gegenübertreten kann, dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Es handelt sich also um das schwer analysierbare Phänomen der „Gegenüberstellung“, wie wir es im Anklang an Rudolf Steiners Formulierungen genannt haben. Hören wir zuerst ihn selbst:

      „Unser Denken ist, besonders wenn man seine Form als individuelle Tätigkeit innerhalb unseres Bewusstseins ins Auge fasst, Betrachtung, das heißt es richtet den Blick nach außen, auf ein Gegenüberstehendes. Dabei bleibt es zunächst als Tätigkeit stehen. Es würde ins Leere, ins Nichts blicken, wenn sich ihm nicht etwas gegenüberstellte ... Dieser Form des Gegenüberstellens muss sich alles fügen, was Gegenstand unseres Wissens werden soll. Wir sind unvermögend, uns über diese Form zu erheben. Sollten wir an dem Denken ein Mittel gewinnen, tiefer in die Welt einzudringen, dann muss es selbst zuerst Erfahrung werden. Wir müssen das Denken innerhalb der Erfahrungstatsachen selbst als eine solche aufsuchen.“ (Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 7. Auflage 1979, S. 29f.)

      Mit anderen Worten: der bereits vollzogene, also vergangene Denkprozess hinterlässt greifbare Spuren, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, weil sie das einzig Wahrnehmbare sind, dem wir bisher im Bereich des Denkens begegnen. Ich darf Sie bitten, noch keine speziellen psychologischen Vorstellungen mit den sprachlichen Ausdrücken, die wir verwenden, verbinden zu wollen. Wir treffen keine empirischen Feststellungen über den genauen psychischen Ablauf der Vorgänge, die zu dem führen, was wir „Gegenüberstellung“ nennen, d.h. wir reden nicht von „Wahrnehmungsorganen“, von denen wir ohnehin nichts wissen, wir bedienen uns einer metaphorischen Sprache, wozu auch die Begriffe „Auge“, „Leere“ und „Nichts“ gehören. Es wird Ihnen nicht schwer fallen, das Phänomen der Gegenüberstellung als die reale und erfahrbare Situation zu betrachten, in der wir uns immer schon befinden, wenn wir denken wollen. Wie sie zustande kommt, soll uns später im Rahmen des Möglichen beschäftigen. Was wir aber hier schon feststellen können und was unmittelbar durch sich selbst einleuchtet, ist die Tatsache, dass es nur dort Gegenüberstellungen geben kann, wo sich ein Ich befindet. „Ich“ und „Gegenüberstellung“ sind korrelative Begriffe und damit die genuine Form einer unausweichbaren Situation, die völlig unabhängig davon ist, wie man sie interpretiert. Uns interessiert hier ausschließlich, was uns innerhalb des Denkprozesses gegenübertritt, und zwar in einer Weise, dass die Philosophie so häufig in Versuchung geriet, dieses Etwas als ein Gegenständliches einzuführen, das aus und für sich selbst existiert. Dieser „Platonismus“, wie man heute sagt, war nicht in der Lage, die verwunderliche Gegenständlichkeit der begrifflichen Gegenüberstellung zu durchschauen, und zwar deshalb nicht, weil er sich vom scheinbaren Dingcharakter der Begriffe hat täuschen lassen. Und zunächst ist der Eindruck dieser Dinglichkeit ja tatsächlich vorhanden. Wir wollen hier noch nicht untersuchen, worauf er in Wahrheit beruht. Was uns innerhalb des Denkens gegenübertritt, das sind Begriffe, von denen wir glauben, dass wir sie von den raumzeitlichen Vorstellungen trennen und isolieren können. Aber wir wissen noch nicht, was Vorstellungen überhaupt sind. Trotzdem bleiben wir bei dem „Begriff des Begriffs“, weil wir gezwungen sind, ihn irgendwie zu denken.

      Die Denktätigkeit, so hatten wir festgestellt, bringt Begriffe hervor, sog. Resultate, mit denen wir uns befassen können, während der Vorgang des Produzierens, die Entstehung der Begriffe, sich jeder Beobachtung entzieht. Es gibt demnach ein Denken und ein Gedachtes, eine Tätigkeit und ein fertiges Ergebnis - und dieses „Gedachte“ wollen wir der leichteren Verständigung halber als Kogitat bezeichnen. Kogitate sind die Resultate der Denktätigkeit, das zweite Element des Denkens, und zwar das einzige, das in die Gegenüberstellung übergeht und der mehr oder weniger klaren „Betrachtung“ offensteht. Damit erhalten die Begriffe prinzipiell denselben Wahrnehmungsstatus wie alle anderen Wahrnehmungen aus der Seelen- und Sinnenwelt, den Status der Gegenüberstellung, mögen die psychologischen Unterschiede sein, wie sie wollen. Um wenigstens einen Anhaltspunkt zu haben, wo sich diese Kogitate nach ihrem Entstehungsvorgang in der psychischen Sphäre des Menschen niederlassen, um wahrgenommen (ins Bewusstsein gehoben) werden zu können, wollen wir wieder einen metaphorischen Ausdruck verwenden, der allerdings einen realen Vorgang bezeichnen soll, obwohl wir nicht in der Lage sind, seine empirische Struktur zu analysieren. Wir dürfen als unmittelbare Parallele das Erinnerungsvermögen heranziehen, das Vergangenes in Vorstellungen festhält, die wir im Bedarfsfall je nach Zusammenhang reproduzieren können, wenigstens so häufig, dass die Kontinuität unseres Lebens gewahrt bleibt. Kein Psychologe kann Ort und Stelle angeben, wo die Erinnerungsbilder aufbewahrt werden. Lassen Sie mich deshalb eine metaphorische Aussage machen, die den prinzipiellen Sachverhalt wiedergibt, ohne empirische Strukturen aufdecken zu wollen. Wenn der Begriff geboren wird, muss er irgendwo in die Erscheinung treten, wenn wir etwas von ihm wissen sollen. Wir können von einer seelischen Bildwand sprechen, auf die das tätige Denken seine Resultate „projiziert“, damit sie wahrnehmbar werden. Worum es sich faktisch handelt, wird wohl schon deshalb niemand angeben können, weil diese Prozesse im Verborgenen ablaufen. Der Begriff „Bildwand“ hat also lediglich die Aufgabe, darauf aufmerksam zu machen, dass die Gegenüberstellung nichts anderes als die Endphase eines psychischen Vorgangs ist, von dem wir nur hoffen können, dass er eines Tages analysiert wird. Jede Gegenüberstellung beruht auf einem Realprozess - mehr wollen wir nicht sagen.

      Nun sind wir berechtigt, die begriffliche Gegenüberstellung eine selbstproduzierte Wahrnehmung zu nennen, ein Eigenprodukt mit dem Charakter der Objektivität. Und unsere früheren Äußerungen über den Inhalt unseres Bewusstseins, den wir, wie Sie sich erinnern werden, auf die Phänomene „Begriff“ und „Wahrnehmung“ reduziert hatten, scheinen ins Wanken zu geraten. Das ist aber nicht der Fall. In Wahrheit reden wir von Beziehungen, die sich ergeben, wenn man die Tätigkeit des Denkens, das Produzieren von Begriffen, mitansetzt, also etwas erschließt, was der Beobachtung unzugänglich ist. Nehmen wir diesen Denkprozess als untrennbares Ganzes, dann ergibt sich die Polarität, auf die wir hinauswollen und die wir bereits in anderem Zusammenhang angedeutet hatten. Wir sprachen in etwas umständlicher Weise von den beiden Polen: „Befriedigendes Selbstgetanes“ und „Unbefriedigendes Nichtselbstgetanes“, um eine verborgene Korrelation anzudeuten, die wir später aufdecken wollen. Diese beiden polaren Gegensätze lassen sich aber auch anders formulieren, wenn wir das, was wir unausgesprochen mitdenken müssen, gesondert herausheben: ich meine das menschliche Ich, das ja in jeder Wortverbindung mitgedacht wird, in der das Wörtchen „selbst“ vorkommt. Begriffe wie „Selbsttätiges Denken“, „Selbstgetanes“ u. a. enthalten auch den Begriff des „Ich“, den wir automatisch mitdenken; und wir brauchen ihn erst recht, wenn wir uns an den erwähnten Sachverhalt erinnern, dass wir beim Denken - und nur beim Denken - dabei sein müssen, wenn etwas geschehen soll. Mit anderen Worten: wir meinen das vielberedete Phänomen, das so viel Verwirrung gestiftet hat und das man gemeinhin als „Subjektivität“ bezeichnet. Wegen seiner Simplizität verführt dieser Ausdruck zu unberechtigten Schlüssen: so werden das Ich, das Denken, Fühlen und Wollen