Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


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Zusammenhänge als handhabbare konkrete Prozesse des Denkens und Wollens, die sich aus sich selbst begründen und tragen. Eine neue „Aktivierung des Denkens“, von der Rudolf Steiner so häufig gesprochen hat, ist das Ziel. Seine Philosophie ist die erste, die diesen Weg mit Erfolg beschreitet - und ich muss sagen, dass ich persönlich ziemlich lange gebraucht habe, bis ich die Andersartigkeit dieses Denkens verstehen und die beiden gefährlichsten Klippen, die Szilla der Logifizierung und die Charybdis des willkürhaften Existentialismus, hinter mich bringen konnte.

      Sprechen wir dasselbe noch einmal anders aus: wie sich die Naturwissenschaft mit logischer Konsequenz zur experimentellen Technologie fortentwickelt hat, so muss sich die heutige Philosophie zu einer experimentierenden „Philosophie der Denkakte“, zu einer geistigen Technik erweitern, parallel zur Naturwissenschaft, die aus ihrem theoretischen Stadium rein spekulativer Naturinterpretationen auch nur schwer herausgefunden hat und erst nach und nach zu sich selbst gekommen ist. Denselben Schritt muss heute die Philosophie nachvollziehen. Was die „Geisteswissenschaften“ bisher so steril erscheinen lässt, ist die simple, aber entscheidende Tatsache, dass sie im bloß argumentativen und logifizierenden Element der verbalistischen Interpretation ihrer Untersuchungsgegenstände hängengeblieben sind - mit gewissen Ausnahmen in der Psychologie - und einem modernisierten, aber dennoch scholastischen Aristotelismus huldigen, so sehr sie das auch bestreiten mögen. Um es knapp zu sagen: neben das naturwissenschaftliche Experiment muss nun endlich das notwendige Gegenstück treten, nämlich das geistige Experiment oder, wie wir es nennen wollen: der aktologische Versuch. Wir sollten uns klarmachen, dass die wachsende Feindschaft gegen die Technik nicht nur auf den Gefahren beruht, mit denen sie zweifellos verbunden ist, sondern zum weitaus größeren Teil auf dem Umstand, dass wir es versäumt haben, beizeiten ein reales geistiges Gegengewicht zu schaffen, das in der Lage gewesen wäre, in die konkrete Wirklichkeit einzugreifen und die Entwicklung zu korrigieren. Ich glaube nicht, dass uns logische Theoreme, bei aller Subtilität, weiterhelfen können. Die „Philosophie des Denkens“, die wir hier vorlegen wollen, soll ein bescheidener Versuch sein, diesen neuen Weg ausfindig zu machen, mehr nicht. Meine pauschalen Andeutungen werden sich hoffentlich mit Leben füllen.

      Aber Missverständnisse dürften nicht ausbleiben. Es liegt auf der Hand, dass sog. „Selbsterfahrungen“ im Zentrum unseres Denkens stehen, und damit etwas heute schon vielerorts Verpöntes. Ich meine die häufig gelästerte „Introspektion“, die Innenbeobachtung, die egologische Nabelschau, also die psychologisch-philosophischen Versuche der sog. „Bewusstseinsphilosophie“ (Mach, Avenarius u. v. a.), die Schiffbruch erlitten hat, weil sie sich in den unterirdischen, nebelhaften Gängen der Subjektivität verlaufen hatte. Jedenfalls ist das einer der Gründe, warum sich Logiker und positivistische Sprachanalytiker von der „Introspektion“ abwenden und einigermaßen objektive Grundlagen suchen, auf denen sich, sogar mit mathematischer Hilfe, feste Bausteine einer neuen Philosophie herstellen lassen. Damit scheint die Gefahr des solipsistischen Sich-Verlaufens endgültig gebannt zu sein. Und doch ist das ein unverzeihlicher Irrtum. Die so feinsinnigen logischen, mathematischen und sprachanalytischen Untersuchungen sind eine nahezu vollkommene, wenn auch variierte Form der Introspektion - allerdings in unrechtmäßig verkürzter und kaschierter Weise, d.h. in ausschließlicher Anerkennung der Endresultate vorauslaufender psychischer Prozesse, also in der fragwürdigen Gestalt verabsolutierter Endergebnisse, die den Schein des Objektiven haben und so etwas wie ein Erstgeburtsrecht vortäuschen und als solide Basis einer neuen Philosophie gelten sollen - seien es nun Formeln, Figuren oder Sprachgebilde. Nach diesen dogmatisierten Prämissen gehört die Entstehung dieser objektiven Bausteine in die empirische Psychologie. Wir möchten uns aber nicht mit dieser Auffassung zufrieden geben. Es wird sich das Folgende herausstellen: es gibt keine Philosophie ohne methodische Introspektion, und keine Introspektion ohne epistemologische Strukturen. Mit diesem Hinweis wollen wir klarstellen, dass wir andere Wege als die überholte Bewusstseinsphilosophie der Jahrhundertwende gehen werden, obwohl Rudolf Steiner von „Seelischen Beobachtungsresultaten“ (Rudolf Steiner: Aus dem Untertitel zu seiner „Philosophie der Freiheit“: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“) und von der „Verständigung des Bewusstseins mit sich selbst“ (Rudolf Steiner: Mein Lebensgang. Dornach 1982, S. 153) spricht. Unsere psychologischen Erfahrungen werden sich als epistemologische Prozesse erweisen, die wir „aktologisch“ handhaben können. Vergessen Sie also die Tradition und die Vorurteile, die Ihnen nur im Wege stehen können.

      B. KRISTALLISATIONSPUNKTE DES NAIVEN BEWUSSTSEINS

       5. Die konkrete Ausgangslage

      Um nun wieder auf das Problem des „Anfangs“ zurückzukommen, müssen wir feststellen, dass wir so etwas wie einen Anfang brauchen, obwohl wir wissen, dass es gar keinen gibt, wenigstens nicht in Gestalt überholter „Urprinzipien“, aus denen wir die Weltzusammenhänge deduzieren können. Was sollen wir also tun? Es scheint nichts anderes übrigzubleiben, als das erkenntnistheoretische Problem als unlösbar zu betrachten und auf einen wohlbegründeten philosophischen Ansatz zu verzichten. Oder wir beschreiten willkürliche Wege, die mehr oder weniger zufällig einige brauchbare Anhaltspunkte zutage fördern. Wir können ja von der allgemeinen Alltagserfahrung ausgehen, dass wir ununterbrochen erkennend tätig sind, und können gerade diese Situation, in der wir uns schon immer befinden, einmal probeweise beobachten, um festzustellen, was sich so alles in uns tut. Naiver geht es nicht. Und das geschieht mit Absicht. Wundern Sie sich also nicht, wenn wir nur mit der einfachsten Umgangssprache arbeiten, also keine wissenschaftlichen Begriffe anwenden und schon gar nicht definieren, um den fragwürdigen Schein von Exaktheit zu erwecken. Da es fraglos unsere Natur ist, alles zu betrachten und, wenn auch unbewusst, zu bedenken, was uns begegnet, ist es ebenso natürlich, dass wir einmal, wiederum mehr oder weniger zufällig, auch das unter die Lupe nehmen, was wir so tun, wenn wir unsere alltäglichen Erkenntnisse produzieren. Dabei dürfen wir keine präjudizierenden Begriffsgebilde voraussetzen - außer das begriffliche Element selbst, ohne das wir nichts sagen können. Hören wir dazu die Worte Rudolf Steiners, die das 2. Kapitel seiner „Philosophie der Freiheit“ abschließen und die vorspielhafte Anwendung des naiven Bewusstseins charakterisieren sollen:

      „Ich habe deshalb auch keinen Wert darauf gelegt, die einzelnen Ausdrücke, wie «Ich», «Geist», «Welt», «Natur» und so weiter in der präzisen Weise zu gebrauchen, wie es in der Psychologie und Philosophie üblich ist. Das alltägliche Bewusstsein kennt die scharfen Unterschiede der Wissenschaft nicht, und um eine Aufnahme des alltäglichen Tatbestandes handelte es sich bisher bloß. Nicht wie die Wissenschaft bisher das Bewusstsein interpretiert hat, geht mich an, sondern wie sich dasselbe stündlich darlebt.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 34f .)

      Das ist tatsächlich der zunächst wenig sagende Ausgangspunkt, nichts weiter als ein Erfassen der eigenen Situation, in die wir immer verwickelt sind, seit wir denken. Ob es uns passt oder nicht: wir müssen jedes Mal Begriffe bilden und aneinanderreihen, wenn uns etwas begegnet, das wir noch nicht begreifen können. Dabei bleiben wir ganz in uns selbst, so wie wir gerade sind, und probieren aus, was in uns geschieht, zumeist ganz naiv, so unmethodisch wie nur möglich. Und wenn wir der Versuchung erliegen sollten, in begriffliche Fernen zu schweifen, dann geschieht auch das mit unbekümmerter Simplizität, die das Denken wie ein Spielzeug verwendet. Dieser Normalzustand ist die konkrete Situation, mit der wir zunächst einmal so oder so fertig werden müssen: sie ist der vorgegebene Ansatzpunkt, um den wir nicht herumkommen und der bereits, ohne dass wir es wissen, theoretisch belastet ist. Hierzu gibt Rudolf Steiner ein treffendes Beispiel. Er schreibt:

      „Wir können uns nicht mit einem Sprunge an den Anfang der Welt versetzen, um da unsere Betrachtung anzufangen, sondern wir müssen von dem gegenwärtigen Augenblick ausgehen und sehen, ob wir vom Späteren zu dem Früheren aufsteigen können. So lange die Geologie von erdichteten Revolutionen gesprochen hat, um den gegenwärtigen Zustand der Erde zu erklären, so lange tappte sie in der Finsternis. Erst als sie ihren Anfang damit machte, zu untersuchen, welche Vorgänge gegenwärtig noch auf der Erde sich abspielen, und von diesen zurückschloss auf das Vergangene, hatte sie einen sicheren Boden gewonnen. So lange die Philosophie alle möglichen Prinzipien annehmen wird, wie Atom, Bewegung, Materie, Wille, Unbewusstes, wird sie in der Luft schweben“. (Rudolf