Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


Скачать книгу

      „Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 271)

      Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass dieser Satz mehr denn je unsere Zeit beleuchtet, in der sich die Fanatismen in erschreckender Weise ausgebreitet haben und weiter auszubreiten werden.

      Und noch eins: erwarten Sie keinen Aufschluss über die sog. „letzten Dinge“. Niemand kann Ihnen die Welt „erklären“. Wir werden genug getan haben, wenn wir unsere nachfolgenden Erklärungen erklären können.

       2. Das Ende vom „Anfang“

      Eine über zweitausendjährige Geschichte dessen, was man mit dem unklaren Ausdruck „Philosophie“ bezeichnet, liegt hinter uns, eine Zeit der Mühe und Arbeit, der großen Gedankensysteme, an denen die europäische Menschheit herangereift ist, erst in Griechenland, dann im übrigen Europa. Eine stolze Reihe hervorragender Intelligenzen hat leidenschaftlich um Wahrheit gerungen - und nicht selten mit dem Einsatz des Lebens. Aber seltsamer Weise haben wir bei aller Ergriffenheit das Gefühl, als seien sie einem Trugbild nachgelaufen. Diese Vergangenheit ist uns merkwürdig fremd geworden. Und es fehlt nicht an klugen Zeitgenossen, die bereits ihren Spott über die gesamte philosophische Entwicklung des Abendlandes ausgießen und von „Illusionen“, von „magischem Denken“ und sogar von „Aberglauben“ sprechen, oder bestenfalls von Kindheitsstufen des menschlichen Denkens, denen wir entwachsen sind.

      Was geschieht hier? War eine über zweitausendjährige Denkarbeit tatsächlich ein Irrweg, eine Unmündigkeitserklärung oder eine Herrschaftsideologie - also die Unwahrheit? Es wäre töricht, dieses weltweite Phänomen schlichtweg negativ zu beurteilen, ohnmächtig dem Vergangenen nachzutrauern und über verlorene „Werte“ zu klagen. Soviel steht fest: es muss etwas zerbrochen sein, was einmal gültig gewesen war und letzte Sicherheit gegeben hatte, aus welchen Ursachen auch immer. Vielleicht ist die gesamte psychische und intellektuelle Konfiguration vor allem der europäischen und angelsächsischen Menschheit in einem bisher noch ungeklärten Wandel begriffen, den unsere Ideologien nur kaschieren. Wir sollten tiefer hinterfragen, als wir bisher getan haben, auch etwas gründlicher nachdenken und die Formen des historischen Bewusstseinswandels zu Rate ziehen. Vielleicht ist es wahr, was manche glauben, dass es sich um einen Jahrtausendwandel handelt, der selbst die sog. „neuen“ Philosophien und jungen Wissenschaften wie die „analytische Sprachphilosophie“ und die „Logik“ zu bloßen Rückzugs- und Nachhutgefechten der traditionellen Philosophie stempelt. Auch diese modernsten Untersuchungen, so berechtigt sie sind, haben sich bereits in philosophische Sackgassen verlaufen. Oder erleben wir lediglich den Übergang der mythischen Epoche in das Zeitalter der exakten Wissenschaft? Wir wollen hier noch keine endgültige Entscheidung treffen, aber einige Ursachen bloßlegen, deren Bedeutung vielleicht noch nicht genügend erkannt wird.

      Alle Attacken gegen die traditionelle Philosophie richten sich in erster Linie gegen die Setzung eines absoluten „Anfangs“, gegen evidente „Urprinzipien“, die als Letztbegründungen sich selbst und die Welt erklären sollen. Jede Philosophie braucht nun einmal einen Ausgangspunkt, einen Anfang, der sicher ist, einen Grundstein, dessen Tragfähigkeit über allen Zweifel erhaben bleibt. Diese letzte Urwahrheit, oder was man dafür hielt, war einmal so etwas wir der mythische „Goldgrund“ in logischer Form, ein ursprünglich göttliches Prinzip, das sich mit der Zeit in das Gewand logischer Begriffe zu kleiden versuchte. Diese Entwicklung wurde keineswegs als störend empfunden. In irgendeiner Weise hingen die Götter- und Engelantlitze, die in diesem vergeistigten „Goldgrund“ sichtbar wurden, mit dem Erlebnis der Vernünftigkeit zusammen, wahrscheinlich schon deshalb, weil wir die Vernunft nur im Vorstellungsbereich des menschlichen Antlitzes sozusagen „sichtbar“ erfahren. Es gibt kein anderes Naturobjekt, das dafür zu gebrauchen wäre. Dieser ganz natürliche Zusammenhang war die geistige Urheimat aller Metaphysik zu allen Zeiten, ohne dass man ihn jemals problematisiert hätte. Das lässt sich sehr schön im Denken des Thales demonstrieren, dem es selbstverständlich war, an seine Götter zu glauben, der eben nur wissen wollte, mit welchen Mitteln und Methoden eben diese vernünftigen Götter die sichtbare Welt erschufen. Als Bürger von Milet, wo große Handelsniederlassungen, ein liberales Denken und hochentwickelte Schiffswerften technologische Interessen inspirieren mussten, überlegte er sich wohl die entscheidende Frage: „Die Götter haben die Welt zwar erschaffen - aber wie sind sie dabei vorgegangen? Welches Material haben sie angewendet?“ Das WER? stand außer Zweifel, aber die Frage nach dem WIE? drängte sich unabweisbar dem menschlichen Bewusstsein auf. Daraus entstand, um es vereinfacht zu sagen, die abendländische Wissenschaft und in ihrem Gefolge die Philosophie. Aus einer Summe von Weltantlitzen entstand die menschliche Weltvernunft, vielleicht mit der uneingestandenen Hoffnung, die angestrebte Imitatio deorum in ein „Eritis sicut Deus“ zu verwandeln, also ein gottähnliches Wesen zu werden. Jedenfalls klammerte er sich an seine „Vernunftwahrheiten“, um die eigene Person zu erhöhen. Und trotz aller späteren Wege in die Abstraktion bleibt der personalistische Ursprung erhalten. In zahlreichen Variationen, vom „Unbewegten Beweger“ über das „lumen gloriae“ und die „causa sui“, vom „Weltgeist“ Hegels bis zum etwas modifizierten „transzendentalen Ego“ eines Husserl - überall wird die Person in einer schwer durchschaubaren Weise als Wahrheitselement begriffen und philosophisch verarbeitet. Es sind, wie man sagt, mythische Begriffe, prinzipiell unvorstellbar, sog. „Anthropomorphismen“ im Sinne Feuerbachs, Projektionen des menschlichen Geistes in ein konstruiertes Jenseits. Gott als „Nus“, als „Wahrheit“ und „Substanz“, das sind heute Verdinglichungen des Wahrheitsbegriffs, die wir nicht mehr akzeptieren können. „Wahrheit“ ist uns heute ein logisch-erkenntnistheoretisches Problem, eine begriffliche Relation, eine geistige (intellektuelle) Beziehung zwischen den Dingen, aber selbst kein Ding, auch nicht in Gestalt einer Person. Sie mögen sich, wenn Sie religiöse Interessen haben, noch soviel Mühe geben, Person und Wahrheit als dasselbe zu identifizieren, Sie werden logischen Schiffbruch erleiden, weil Sie in unserer heutigen Bewusstseinsform so gänzlich verschiedene Dinge nicht sachgemäß miteinander verbinden können. Hier sind viele Täuschungen möglich. Selbst der streng postulierte rationalistische Weg entwickelt Grundbegriffe, sog. „Kategorien“, „Evidenzen“, „Axiome“ oder „ewige Wahrheiten“, die noch entfernt an gewisse personalistisch-autonome Strukturen der alten Götter erinnern. Aber was dann, wenn diese „Ideen“, diese Waisenkinder Gottes, keiner logischen Prüfung standhalten? Und es stellt sich immer mehr heraus, dass wir tatsächlich umdenken müssen: unsere ratio gleicht keiner Bank, auf der wir ein unauflösbares Dauerkonto besitzen, von dem wir zehren können, ohne Verluste hinnehmen zu müssen. Wir werden einzahlen müssen, wenn wir Zinsen haben wollen. Oder wir schaffen die Bank als überflüssig und schädlich ab. Sie wird den philosophischen Bildersturm, der im Gange ist, ohnehin kaum überleben können. Die metaphysischen Privilegien der Metaphysik sind bereits annulliert, viele Begriffe verloren ihr Adelsprädikat, eine Demokratisierung der Ideenwelt hat stattgefunden, und selbst der Begriff der „Wahrheit“ geht einer positivistischen Vulgarisierung entgegen und läuft Gefahr, sich vollständig aufzulösen. Carnaps „Scheinprobleme“ sind Mode geworden. Mit einem Wort: wir können das mit soviel Ehrfurcht gesuchte „Absolutum“ nirgends finden. Wo wir es auch greifen wollen, es erweist es sich als unselbstständig und problematisierbar. Ein solider philosophischer Zeitgenosse, ein Mathematiker und Logiker, hat nachzuweisen versucht, dass es keine absolute Wahrheit und Sicherheit mehr geben kann, auch nicht in der Mathematik, die doch einmal das Musterbeispiel für absolute Sicherheit gewesen war. Sie können gedruckt nachlesen, schwarz auf weiß, dass wir deshalb nicht gerade „Selbstmord“ begehen müssen, sondern immer noch hoffen dürfen, in der Erkenntnis auf rein menschliche Weise weiterzukommen. Dieser Autor fordert einen beruhigenden „methodischen Zweifel“ und hält trotz aller prinzipiellen Skepsis ein gewisses weiteres Vertrauen auf unser menschliches Denken für gerechtfertigt. Das Wie? und Warum? bleibt sein Geheimnis. Aber er hat den Mut, den wenige haben, die existentielle Frage aufzuwerfen, ob der Mensch überhaupt in der Lage ist, ohne Absolutum leben zu können. (Anm. des Hrsg.: Johannes Schell bezieht sich hier auf das Werk des Mathematikers und Logikers Alexander Wittenberg: Vom Denken in Begriffen. Zürich 1957)

      Diese unabweisbare Fragestellung wird heute mit einem unglaublich naiven philosophischen Optimismus umgangen, den man