Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


Скачать книгу

4. Ablehnung der Metaphysik und „Philosophie der Denkakte“.

      Lassen wir zunächst, um Vorurteile zu beheben, einige gekürzte Stellungnahmen Rudolf Steiners zur Metaphysik folgen, die tief in seiner Philosophie des Denkens begründet sind. Was gewiss niemand erwartet, der sein Weltbild nur vom Hörensagen kennt, ist die Tatsache, dass dieser Mann keine einzige metaphysische Zeile geschrieben hat, obwohl gerade sein Name mit Mystik, Metaphysik und Offenbarungsglauben verbunden wird. Stellt man einmal kategorisch das Gegenteil fest, dann fühlen sich unsere Zeitgenossen verunsichert und verärgert, weil sie nicht wahrhaben wollen, wie sehr sie einer böswilligen Legende aufgesessen sind. Aber die Wahrheit wird sich durchsetzen.

      Rudolf Steiner entwickelt eine empirisch begründete und methodologisch durchsichtige immanente Technik des menschlichen Geistes auf zahlreichen Gebieten. Hören wir ihm etwas zu, zunächst über Plato:

      „Und man kann sagen, die Philosophie Platos ist eines der erhabensten Gedankengebäude, die je aus dem Geiste der Menschheit entsprungen sind. Platonismus ist die Überzeugung, dass das Ziel alles Erkenntnisstrebens die Aneignung der die Welt tragenden und deren Grund bildenden Ideen sein müsse. Wer diese Überzeugung in sich nicht erwecken kann, der versteht die platonische Weltanschauung nicht. - Insofern aber der Platonismus in die abendländische Gedankenentwicklung eingegriffen hat, zeigt er noch eine andere Seite. Plato ist nicht dabei stehen geblieben, die Erkenntnis zu betonen, dass im menschlichen Anschauen die Sinneswelt zu einem Schein wird, wenn das Licht der Ideenwelt nicht auf sie geworfen wird, sondern er hat durch seine Darstellung dieser Tatsache der Meinung Vorschub geleistet, als ob die Sinneswelt für sich, abgesehen von dem Menschen, eine Scheinwelt sei und nur in den Ideen wahre Wirklichkeit zu finden sei. Aus dieser Meinung heraus entsteht die Frage: Wie kommen Idee und Sinneswelt (Natur) außerhalb des Menschen zueinander? Wer außerhalb des Menschen keine ideenlose Sinneswelt anerkennen kann, für den ist die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Sinneswelt eine solche, die innerhalb der menschlichen Wesenheit gelöst werden muss.“ (Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung. Dornach 1963, S. 28f.)

      Soweit zu Plato. Hier wird das einseitige hypostasierende essentialistische Prinzip dieses Denkers zurückgewiesen und das Erkenntnisproblem mit der menschlichen Organisation in Verbindung gebracht, allerdings ohne diese Organisation, wie wir sehen werden, zur absoluten Grundlage zu erheben. Hören wir eine andere Stelle:

      „Jede Art des Seins, das außerhalb des Gebietes von Wahrnehmung und Begriff angenommen wird, ist in die Sphäre der unberechtigten Hypothesen zu verweisen. In diese Kategorie gehört auch das «Ding an sich». Es ist nur ganz natürlich, dass der dualistische Denker den Zusammenhang des hypothetisch angenommenen Weltprinzips und des erfahrungsmäßig Gegebenen nicht finden kann. Für das hypothetische Weltprinzip lässt sich nur ein Inhalt gewinnen, wenn man ihn aus der Erfahrungswelt entlehnt und sich über diese Tatsache hinwegtäuscht. Sonst bleibt es ein inhaltloser Begriff, ein Unbegriff, der nur die Form des Begriffes hat“. (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 113)

      Auch die folgenden Sätze weisen auf dasselbe Problem:

      „Es gab eine Zeit, in der man aus Begriffen glaubte etwas herauswickeln zu können, was nicht mehr Begriff ist. Man glaubte aus den Begriffen die metaphysischen Realwesen, deren der metaphysische Realismus einmal bedarf, erkennen zu können. Diese Art des Philosophierens gehört heute zu den überwundenen Dingen.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. Dornach 1987, S. 127f.)

      Solche Hinweise, die beliebig vermehrt werden könnten, sind natürlich universell gemeint, betreffen also auch jene materiologischen Lehren, die von der „Materie“, von „Substanz“ und „Kraft“ als von realen wahrnehmbaren Dingen reden. Es gibt auch eine szientifische Metaphysik, die noch keinesfalls überwunden ist. -

      Um Ihnen vorerst eine schwache Ahnung von dem genannten „Junktim“ und dem entwicklungsgeschichtlichen Denken Rudolf Steiners zu geben, lassen Sie mich eine leicht missverständliche Stelle zitieren, die ich für eine große Formulierung halte, weil sie die Wahrheit als immanenten Stufengang des menschlichen Bewusstseins begreift, ohne sie relativieren zu wollen, wie wir später im Einzelnen nachweisen werden:

      „Mit Fichte ist eine Weltanschauung heraufgezogen, die ganz darin aufgeht, ein inneres Seelenleben zu finden, das sich zum Gedankenleben der Griechen verhält wie dieses Gedankenleben zum Bildervorstellen der Vorzeit. In Fichtes Weltanschauung wird der Gedanke zum Ich-Erlebnis, wie in den griechischen Denkern das Bild zum Gedanken wurde. Mit Fichte will die Weltanschauung das Selbstbewusstsein erleben; mit Plato und Aristoteles wollte sie das Seelenbewusstsein denken.“ (Rudolf Steiner: Rätsel der Philosophie. Dornach 8. Aufl. 1968, S. 188)

      In diesen scheinbar nur entwicklungspsychologischen Sätzen steckt mehr, als sie vorerst verraten können. Sie involvieren die im Wachsen begriffene Selbsttätigkeit des menschlichen Geistes in durchschaubaren Stufen, die eine immanente Wahrheitsstruktur besitzen, die wir uns nach und nach bewusst machen wollen. Vernunft und Seele scheinen aus- und miteinander zu wirken. So allein ist auch der folgende Satz gemeint, der nicht nur empirisch-psychologisch verstanden werden darf, sondern ebenso erkenntnistheoretisch, auch wenn das noch so schwer fällt:

      „Denn wesentlicher als die philosophischen Ergebnisse selbst sind die Kräfte der Seele, welche sich in der philosophischen Arbeit erringen lassen“. (Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie. Dornach 1968, S. 625f.)

      Damit sind aber nicht etwa nur irgendwelche moralische Tugenden gemeint, wie Fleiß, Ausdauer, Erziehung zum klaren Denken und ähnliches, sondern sich als Wahrheit entfaltende Bewusstseinsprozesse, die stufenweise in die Lage kommen, immer weiterführende philosophische Probleme und Sachverhalte überhaupt erst zu entdecken, die früheren Bewusstseinsformen verschlossen bleiben mussten. Heute glaubt man - es ist ein reiner Glaube -, dass die „Logik“ zu allen Zeiten dieselben Probleme ausfindig macht, wenn sie nur will. Dieser rationalistische Irrtum ist leicht zu widerlegen: die Logik bestimmt überhaupt nichts, sie beschäftigt sich nur mit den Erfahrungen, die wir machen können, und diese Erfahrungen hängen vom Entwicklungsgrad des Menschen ab. Ein Ende der realen Möglichkeiten der Entfaltung des menschlichen Geistes, d.h. unserer gesamten Ich-Organisation, ist nicht vorherzubestimmen. Wir würden mehr als eine Absurdität begehen, wenn wir unsere derzeitige Bewusstseinsstruktur in die Vergangenheit oder in die Ferne der Zukunft projizieren wollten, wie es heute leider eine selbstverständliche Mode ist. Solche Praktiken widersprechen unmittelbar dem Zeitgeist, auf den man ja so schnell nichts kommen lässt. Aber gerade dieser vielberufene Zeitgeist ist es, der darauf angelegt ist, sich selbst in die Hand zu nehmen und seine Entwicklung mit bewusster Erkenntnis weiterzuführen. Die Zeiten des instinkthaften Werdens sind endgültig vorüber. Dafür haben Naturwissenschaft und Technologie gründlich gesorgt. Uns stellt sich die unabwendbare Aufgabe, die menschlichen und gesellschaftlichen Werdeprozesse konkret zu erfassen, mit klaren Begriffen zu durchdringen und praktisch handhaben zu lernen, m.a.W. wir müssen willens sein, neue mentale Techniken zu finden und anzuwenden, in denen die Wahrheitsstruktur des Menschen und der menschlichen Gesellschaft sichtbar wird. Es geht also nicht um irgendwelche brauchbare utilitaristische Pragmatik, sondern um Wahrheitspraxis, die in wissenschaftlich gesicherten geistigen Akten vollzugsfähig ist. Nun zeigt der Begriff des Aktes so viele philosophische Facetten, dass er nicht mehr viel hergibt. Ich kann Ihnen erst im Verlaufe weiterer ausführlicher Darlegungen klarmachen, wie wir ihn auffassen wollen. Der Grund liegt darin, dass sie erst vorgeführt werden müssen, bevor sie beschrieben werden können. Mit theoretischen Definitionen, die selten etwas taugen, wäre uns nicht geholfen. Lassen Sie mich dennoch eine, wenn auch sehr allgemeine Charakteristik angeben, die wenigstens in die Richtung weist, die wir einschlagen wollen - wobei ich damit rechne, dass Sie zunächst einmal befremdet reagieren dürften. Und doch ist dieses Unterfangen ganz natürlich. Was gewollt ist, lässt sich sehr einfach sagen und sollte jetzt schon ein gewisses Vorverständnis finden. Wir setzen an die Stelle einer rein interpretativen, sich in kontroversen abstraktiven Begriffen bewegenden und theoretisch alles und jedes logifizierenden Philosophie eine ergänzende Möglichkeit, die dazu angetan ist, die realen Impulse unseres Zeitalters in den Griff zu bekommen: nämlich ein philosophisch-psychologisches Experimentieren, dessen Exaktheit gewährleistet ist. Trotz der noch bestehenden Unklarheit des Aktbegriffes können wir diesen Weg die aktologische Methode nennen, oder