Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


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baute seine Philosophie auf Erfahrungen im Umgang mit dem Denken auf.

      Wie Rudolf Steiner entwickelte auch Johannes Schell eine Philosophie, die philosophische Probleme nicht nur rational lösen, sondern zu den Grundlagen der Ratio vordringen will. Diese Grundlagen werden empirisch durch Beobachtung und Analyse der Denkakte erschlossen, deren erkenntnistheoretische und logische Bedeutung untersucht wird. Die Methodik dieser Philosophie des Denkens und der Denkakte führt in die Welt des reinen Denkens hinein und erhellt geistige Realitäten, in denen Logik und Wirklichkeit wurzeln. Ihre Verbindung, die die neuzeitliche Philosophie immer mehr verloren hat, wird so wieder deutlich. Heidegger, der ähnliche methodische Wege einschlug, nannte seine Philosophie eine Fundamentalontologie. Bei Johannes Schell und Rudolf Steiner müsste man von der Einheit einer Fundamentalontologie und einer Fundamentallogik sprechen, denn beide zeigen, dass Logik und Wirklichkeit eine gemeinsame Wurzel haben, was nur allzu leicht verkannt wird. Die Welt des Denkens bildet die Wirklichkeit nicht ab, sondern schafft ihre Grundlage. So wird verständlich, warum die vorneuzeitlichen Philosophien an dieser Stelle mit dem Gottesbegriff oder mit Begriffen von Göttern gearbeitet haben und warum diese Begriffe in der Neuzeit verschwinden mussten. Aber ebenso wird deutlich, wie sie wieder eine zeitgemäße Erneuerung erfahren können, ohne eines traditionellen Glaubens zu bedürfen, der sie nicht stützen kann, sondern umgekehrt einer Stütze bedarf. Hier liegt die besondere Bedeutung dieser Philosophie. Sie überwindet die Jahrhunderte alte Trennung von „Sein“ und „Bewusstsein“ und gibt den großen Bemühungen der Philosophiegeschichte, die heute Gefahr laufen, nur als geistreiche, aber müßige Geschäfte betrachtet zu werden, ihre existenzielle und weltgeschichtliche Bedeutung zurück, weil deutlich wird, dass das Erkennen keine Privatveranstaltung, sondern ein Vorgang der Weltgeschichte und der Evolution des Menschen ist. Wir leben in einer Wahrheitswelt, aus der wir uns und unsere Welt bestimmen. Diese Welt erweist sich als eine unbezweifelbare geistige („übersinnliche“) Realität, aus der wir immer leben und denken - sowohl im Irrtum wie in der Wahrheit -, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Sie liegt allen unseren Begriffsbildungen zugrunde und begründet all unsere Werte. Diese Werte sind in den letzten beiden Jahrhunderten verlorengegangen, weil die Anbindung dieser Begriffsbildungen – zu denen selbstverständlich auch die ethischen Werte gehören – an diese Wahrheitswelt verloren gegangen ist. An ihre Stelle traten Ideologien, Nationalismen und Fanatismen aller Art, die das soziale Leben untergraben und zerstört haben. Johannes Schell gelingt es, durch eine tiefgehende Analyse des Erkenntnisaktes diese Verbindung wiederherzustellen und neu zu beleben. Ebenso erlebt der Erkennende, dass ihn ein solcher Umgang mit Philosophie verändert. Er erlebt die Grundkräfte des Menschseins, die sowohl in der Evolution als auch in ihm selbst tätig sind - und die er in die Gestaltung des gesellschaftlichen und politischen Lebens einbringen muss, wenn der Weg zu einer humanen Gesellschaft eingeschlagen oder beibehalten werden soll. Eine solche Philosophie erörtert nicht nur die philosophischen Gedanken des Humanen, sondern legt die realen Kräfte der Humanitas frei, die in den Denkakten und im Denken erfahren werden können. Sie darf daher als eine der bedeutendsten Leistungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts gelten.

      Johannes Schell versteht sich damit auf dem Gedankenweg, den Rudolf Steiner eingeschlagen hat; ihn möchte er fortführen. Er folgt damit der tiefsten philosophischen Intention Rudolf Steiners – nämlich die Möglichkeit einer empirischen Wissenschaft vom Geiste zu zeigen und zu begründen. Rudolf Steiner nannte diese Wissenschaft vom Geiste „Anthroposophie“. Sie stellt substanziell etwas anderes dar als das, was man heute Geisteswissenschaft zu nennen gewohnt ist. Die Begründung einer solchen Wissenschaft war das große Anliegen der Philosophie Rudolf Steiners. Er wurde nicht müde, auf diese Bedeutung seiner Philosophie hinzuweisen, insbesondere seiner „Philosophie der Freiheit“, die aus dieser Methode hervorgegangen ist. Sein Lebenswerk zeigt immer wieder die Hinwendung zur Philosophie; bis ins Jahr 1916 arbeitete er an Werken rein philosophischen Inhalts. Und in einer rein geisteswissenschaftlichen Schrift gibt er sogar den auf den ersten Blick schwer verständlichen Hinweis, dass jemand, der einen sicheren Weg in die geistige Welt suche, diesen in seiner „Philosophie der Freiheit“ finde:

      „Es ist der Weg, welcher durch die Mitteilungen der Geisteswissenschaft in das sinnlichkeitsfreie Denken führt, ein durchaus sicherer. Es gibt aber noch einen anderen, welcher sicherer und vor allem genauer, dafür aber auch für viele Menschen schwieriger ist. Er ist in meinen Büchern «Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung» und «Philosophie der Freiheit» dargestellt. Diese Schriften geben wieder, was der menschliche Gedanke sich erarbeiten kann, wenn das Denken sich nicht den Eindrücken der physischsinnlichen Außenwelt hingibt, sondern nur sich selbst. Es arbeitet dann das reine Denken, nicht das bloß in Erinnerungen an Sinnliches sich ergebende in dem Menschen, wie eine lebendige Wesenheit. Dabei ist in den genannten Schriften nichts aufgenommen aus den Mitteilungen der Geisteswissenschaft selbst. Und doch ist gezeigt, dass das reine, nur in sich arbeitende Denken Aufschlüsse gewinnen kann über die Welt, das Leben und den Menschen. Es stehen diese Schriften auf einer sehr wichtigen Zwischenstufe zwischen dem Erkennen der Sinnenwelt und dem der geistigen Welt. Sie bieten dasjenige, was das Denken gewinnen kann, wenn es sich erhebt über die sinnliche Beobachtung, aber noch den Eingang vermeidet in die Geistesforschung. Wer diese Schriften auf seine ganze Seele wirken lässt, der steht schon in der geistigen Welt; nur dass sich diese ihm als Gedankenwelt gibt. Wer sich in der Lage fühlt, solch eine Zwischenstufe auf sich wirken zu lassen, der geht einen sicheren Weg; und er kann sich dadurch ein Gefühl gegenüber der höheren Welt erringen, das für alle Folgezeiten ihm die schönsten Früchte tragen wird.“ (Rudolf Steiner, Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 68. Auflage 1968, S. 343f.)

      In der Vorrede zur 3. Auflage der «Theosophie», die 1910 erschien, heißt es: „Wer noch auf einem anderen Wege die hier dargestellten Wahrheiten suchen will, der findet einen solchen in meiner «Philosophie der Freiheit».“

      Bei der Lektüre von Johannes Schells Arbeit erkennt man, dass diese Bemerkung wohl begründet und berechtigt ist, auch wenn Johannes Schell nicht direkt auf sie hinweist. Johannes Schell ist den gleichen Weg wie Rudolf Steiner gegangen – und hat dabei immer mehr dessen Größe erkannt. So war aus dem Kritiker ein Weggefährte geworden, der dann sogar seine Eigenständigkeit in den Dienst des Größeren stellte. Rudolf Steiner wollte die Probleme der Philosophie nicht durch theoretisches Nachdenken lösen, sondern das Denken auf einen experimentellen Weg bringen, der zur geistigen Erfahrung führt. Und bei dieser geistigen Erfahrung handelt sich nicht um ein persönliches „mystisches“ oder „esoterisches“ Erleben, sondern um eine übersubjektive Grundlegung aller Erkenntnis und Welterfahrung; sie bildet die Grundlage aller Philosophie und aller Wissenschaft. Dies arbeitet Johannes Schell akribisch und minutiös heraus.

      Das, was Rudolf Steiner die „Anschauung des Denkens“ nannte, wurde für Johannes Schell zum entscheidenden Erlebnis und zum Schlüssel für sein eigenes philosophisches Arbeiten. Hier war ein Quellpunkt und ein Zentrum gewonnen, mit dem er und um das er seine Erfahrungen ordnen konnte. Sie gehen, was die Beobachtung des Denkens betrifft, über das hinaus, was Steiner in seinen philosophischen Werken beschrieben hat. Und es hat nicht an scheinbar wohlmeinenden Ratschlägen gefehlt, diese Einsichten doch ohne Bezug auf Rudolf Steiner als selbstständige und eigene Philosophie zu veröffentlichen. Es gehört zur Charaktergröße von Johannes Schell, dieser Versuchung widerstanden zu haben. So liegt uns nun ein Werk vor, das einerseits eigenständige philosophische Elemente enthält, zum anderen aber den philosophischen Weg Rudolf Steiners als den eigenen erkennt und anerkennt.

      Johannes Schells Buch wendet sich an ein anthroposophisches Publikum, das die wissenschaftlichen Grundlagen der Möglichkeit einer Geisteswissenschaft sucht. Es richtet sich an Philosophen, die die philosophische Wende, die von Steiner, Husserl, Heidegger, Gadamer und Wittgenstein – auf ganz unterschiedliche Weise – vollzogen wurde, anerkennen und fortführen wollen. Es bietet Logikern ein Hilfe, die die Grundlagen der Logik erforschen möchten. Vor allem aber wendet es sich an jeden Menschen, der nicht bewusstlos vor sich hinleben möchte, sondern Aufklärung wünscht über die gewaltige Gabe der Evolution, auf deren Anwendung niemand verzichten kann – sei seine Tätigkeit auch noch so simpel – und die doch so häufig und so entsetzlich verkannt wird: das menschliche Denken. Es ist das Janusgesicht der Evolution: kalt, schattenhaft und blass auf der einen Seite, auf der anderen der Quell