Till Angersbrecht

Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein


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nicht einzusehen, warum gerade er, Ego, für das Unglück auf Gaia die Verantwortung tragen sollte.

      Aber er war es längst gewohnt, sich als Quotenmann gewissermaßen für sein ganzes Geschlecht schuldig zu fühlen. Insofern hatte Ella zweifellos Recht. Seine Erbschuld stand ihm stets vor Augen. Sie machte ihm noch in meinen Träumen zu schaffen, so auch in dieser Nacht.

      Ihm träumte nämlich, dass er ganz allein auf einer weiten Ebene stand, ringsherum nichts als Wüste. Da tauchten am Horizont Gesichter auf, die Gesichter von Frauen, die meisten waren doppelt, einige sogar dreifach so groß wie er selbst. Sie umringten ihn von allen Seiten, wobei sie näher und näher rückten. Besen trugen die einen in ihrer Hand, andere hatten sich mit Gabeln und Messern ausgerüstet, wieder andere hatten sich sogar mit Spießen bewaffnet. Ego wollte vor Angst im Boden versinken, sich ganz klein oder unsichtbar machen, aber natürlich gelang es ihm nicht. Menschen werden ja nicht einfach vom Boden verschluckt.

      Der Kreis der vorrückenden Amazonen hatte ihn bereits von allen Seiten umschlossen. Schließlich waren die Megären so nahe, dass er direkt in ihre wutverzerrten Gesichter blickte.

      Da streckte sich plötzlich eine Hand aus der Höhe zu ihm hinab. Sie gehörte nicht irgendwem und auch nicht unserer Ahngöttin Eana, sondern einem Mann mit wunderbar langem Bart. Es kam Ego gleich in den Sinn, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Es war derselbe lächelnde Vollbartträger, den er in einem von Gaia stammenden Buch heimlich und mit schlechtem Gewissen bewundert hatte. Ein Künstler, den sie dort Michel-Engel nannten, hatte ihn auf die Decke einer Kapelle gemalt. Mit anderen Worten: Ego träumte vom Lieben Gott, den Homo communis damals auf der Erde verehrte.

      Der Bärtige wartete nicht, bis die Amazonen Ego mit ihren Besen und Spießen erreichten, sondern ergriff das Männchen einfach am Kragen und zog ihn mit leichter Hand zu sich in die Höhe, während die Frauen, ihrer Beute beraubt, ein furchtbares Wutgebrüll anstimmten.

      So, sagte der Liebe Gott, für diesmal habe ich dich gerettet.

      Ja, das hatte er wirklich, deshalb bedankte Ego sich auch mit einer Verbeugung, d. h. er zog die Beine etwas an, denn sein Kopf war ja unbeweglich, da ihn die Hand noch am Kragen gepackt hielt. Der Mars, ein gewaltiger Ball aus rot glänzendem Sand, lag da bereits weit unter ihm und wurde schließlich so klein wie eine Billardkugel. Die Hand aber hielt ihn immer noch und führte ihn fort und fort durch die Weiten des Alls; Sterne schwirrten an ihm vorüber, Kometen sausten ihm nahe an den Ohren vorbei. Schließlich setzte ihn der Bärtige irgendwo auf einem anderen Planeten ab.

      Ach, wie lustig es dort aussah und wie fröhlich es zuging! Grüne Wiesen, durchbrochen von bewaldeten Hügeln, lockten ihn schon während des Anflugs hinunter, Flüsse voll klarem nach Honig duftendem Wasser plätscherten darüber hin. Zwischen hochragenden Bäumen lagen Löwen und gähnten friedlich, während Schafe in ihrer Nähe das fette Gras weideten. Da wusste Ego: Der Bärtige hatte ihn im Paradies abgesetzt.

      Der freundlichste Empfang wurde ihm dort bereitet. Die Schafe blökten, ein Kamel leckte ihm kameradschaftlich die Schulter, und die Pferde stimmten ein freudiges Gewieher an. Er seinerseits sprach sie mit menschlichen Worten an, aber sie verstanden ihn nicht, sondern antworteten mit Geblök oder Gewieher und der Esel mit einem heiseren IA. Da machte Ego sich gleich auf den Weg, denn im Paradies musste es doch auch menschliche Wesen geben und nicht nur die unsterblichen Seelen von Ameisen, Ratten, Pferden und Löwen. Schön war es hier zweifellos, aber ein Mensch braucht doch Menschen in seiner Nähe, um sich mit ihnen in menschlicher Sprache auszutauschen. So lief er denn weiter und weiter. Doch so lange und so weit er auch lief, überall traf er nur Ziegen, Hasen und gähnende Leoparden. Gibt es hier denn gar keine Menschen?, rief Ego über die Wiesen.

      Nicht einen einzigen traf er an. Da wurde ihm traurig ums Herz, und noch trauriger wurde ihm, als jetzt eine Melodie aus der Tiefe stieg. Sie war so schön und zugleich so unendlich traurig! Die Pferde hörten sofort mit dem Grasen auf. Das Zwitschern der Vögel verstummte, selbst die Flüsse vergaßen das Plätschern, so sehr ging die Melodie allen Paradiesbewohnern zu Herzen.

      Ergriffen lauschte auch Ego den wunderbaren Tönen, doch da verspürte er auf einmal einen so heftigen Schmerz, als hätte ihn einer der Löwen aus dem Hinterhalt angesprungen. Er riss die Augen auf: Da gab es aber keine Schafe und keine Löwen, auch die Bäche und Wiesen waren verschwunden. Stattdessen blickte er in das erschrockene Gesicht Ellas, die sich über ihn beugte. Sie hatte ihm gerade ihren Ellenbogen in die Seite gerammt.

      Im ersten Augenblick fürchtete Ego, sie hätte ihn geschlagen, weil sie den Bärtigen entdeckte. Aber nein, nun begriff er ja, das war nur ein Traum. Davon hatte sie natürlich nichts mitbekommen. Es war ja auch lächerlich, sich Gott als einen Mann vorzustellen, wo doch in Marsopolis alle wissen, dass Gott vollkommen ist und alles Vollkommene sich notwendig in weiblicher Gestalt manifestiert. Von den absurden Verirrungen seines Traums hatte Ella natürlich nichts mitbekommen.

      Stattdessen zischte sie ihm ins Ohr:

      Hörst du denn überhaupt nichts? Moosaars Totenmesse!

      Natürlich hörte Ego die Melodie, das waren dieselben Trauertöne, die er eben noch im Paradies vernommen hatte.

      Unmöglich!, flüsterte Ella. Wie kann das nur sein? Wir haben die Erste Holde doch gestern noch wohlbehalten vor uns erblickt. Völlig unmöglich. Diese Melodie ertönt doch immer nur dann, wenn die Erste gerade gestorben ist!

      Nun war Ego mit einem Male hellwach. Gewiss, das heilige Requiem durfte in Marsopolis nur bei dieser einzigen Gelegenheit ertönen. Es verkündete die Trauer beim Tod der Holden, wenn diese den Fünften Reif verlässt, um den Weg zu Eana, der Urmutter, zu beschreiten.

      Aber sie beide hatten die Erste Mutter doch gestern noch gesehen, wie sie von der Tribüne vor den schäumenden Niagaras zum Volke sprach!

      Mariona

      Da wurde heftig gegen die Tür geklopft. Beide sprangen sie aus dem Bett, wo sie sich gerade wieder sündig vergnügten und warfen die Kleider über. Als sie die Tür geöffnet hatten, trat ihnen eine junge Frau mit schmalem, aber energischem Gesicht entgegen, der Ego zuvor noch nie begegnet war. Über ihn, den Mann, blickte sie hinweg, als wäre er gar nicht vorhanden. Stattdessen wandte sie sich an Ella, der sie einen gelben Ausweis entgegenstreckte, um sich dann als Mariona vorzustellen.

      Ihre Haare besaßen die Farbe hellen Silbers, dementsprechend selbstbewusst trat sie auf, denn die Silberhaarigen aus dem Nordviertel des Ersten Reifs bilden sich empörender Weise ein, besonders intelligent zu sein, obwohl sie in Wahrheit mit allen übrigen Frauen – die wenigen Gebürtigen natürlich ausgenommen – genetisch identisch sind, sieht man einmal von dem einzigen Unterschied ihrer Haare ab. Ella dagegen stammt aus dem Südviertel des Ersten Reifs, sie hat schwarze Haare, und die Schwarzhaarigen werden in unserer Stadt allgemein als eher schwer von Begriff belächelt – wie gesagt, ein völlig unwissenschaftliches, schlechterdings absurdes Vorurteil, das es eigentlich in Marsopolis, der fortschrittlichsten Stadt des Universums, überhaupt nicht geben dürfte.

      Mariona trug ein gelbes Hemd und dazu einen gelben Rock. Schon von weitem sah man ihr deshalb an, dass sie aus dem Dritten Reif geschickt worden war, wo das Glück verwaltet wird: eine aus dem Stab der Ministerinnen. Mit ihren kalten blauen Augen machte sie einen furchteinflößenden Eindruck. So unterstrich sie durch ihre Erscheinung, dass die Verwalterinnen des Glücks aus dem Dritten Reif wenig beliebt sind – um es einmal vorsichtig auszudrücken.

      Welch ein Gegensatz zu den Holden vom Fünften Reif! Die waren bei allen beliebt, jede sah in ihnen höhere Wesen, die für Harmonie und den Einklang der Herzen sorgen. Im Dritten Reif aber gab man sich mit Politik und den Tagesgeschäften ab. Wie es offiziell heißt, verwaltet frau dort das kostbarste Gut der Stadt, nämlich das Glück ihrer Bewohner, aber Politik war den meisten Frauen nun einmal verhasst.

      Ich erkläre nichts, begann Mariona. Ich darf euch auch nichts erklären. Du, sagte sie zu Ella, und auch der da – mit der Hand vollführte sie eine flüchtige Bewegung in Richtung zu Ego – ihr beiden werdet mir auf der Stelle folgen. Wir verlassen die Stadt.

      Sie trug ein gelbes